Lydia Mutsch hat als Gesundheitsministerin einige große Projekte umsetzen können, musste dafür aber mindestens genauso viele Streitgespräche über sich ergehen lassen. Dabei sind Konfliktsituationen nicht gerade ihre Stärke. Ein Porträt.
Wie von einem gelben Kokon wird Lydia Mutsch umhüllt. Der Ohrensessel, in dem sie Platz nimmt, wirkt übergroß für die zierliche Frau. Sie versinkt praktisch darin, rutscht für das Gespräch lieber wieder ein Stück weit nach vorne.
Nein, auf den ersten Blick erweckt die Ministerin nicht gerade den Eindruck einer zähen Polit-Figur, eher so als könnte ein kurzer, kräftiger Windstoß sie einfach umwerfen. In den vergangenen fünf Jahren musste sie aber einigen politischen Stürmen standhalten. Immer wieder hagelte es Kritik.
Dabei ist sie vorsichtig mit dem, was und wie sie etwas sagt. Vielleicht zu vorsichtig. Auf jede Frage antwortet sie erst einmal mit einem kurzen „Ja“, dann erst kommt ihre eigentliche Antwort. So gewinnt sie ein paar Millisekunden Zeit, kann ihre Gedanken noch einmal schnell ordnen.
Denn alles will sie erklären. Sie holt weit aus, um am Ende vielleicht auf den Punkt zu kommen. Zahlen zu Budgets oder Investitionen hat sie nicht immer im Kopf. Lieber steht sie während des Gesprächs auf, geht zum Schreibtisch und macht sich eine Notiz, um noch einmal bei ihren Beratern nachzufragen.
Das Problem, das sie sich dadurch einhandelt: Sie wirkt eher zurückhaltend als stark, erzählt viel, aber oft wenig Konkretes. Sie geht auf Nummer sicher, und offenbart genau so ihre fehlende Selbstsicherheit.
Wenn die Unsicherheit kommt
Bei Bürgerversammlungen versucht sie sich dennoch locker zu geben. Die Brille steckt in den Haaren, direkter Blickkontakt mit dem Moderator und dem Publikum. Alles so, wie es nach außen hin sein soll. Bis ihre Unsicherheit ihr dann doch manchmal in die Quere kommt.
So geschehen bei einem Bürgerdialog mit EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis. Abgehalten wird die Podiumsdiskussion auf Englisch. Die Ministerin weiß dies – und trotzdem wird es ihr zum Verhängnis.
Sie ist ein absoluter Polit-Profi.“Dan Codello
Andriukaitis spricht Englisch. Mutsch versucht es. Immer wieder muss sie innehalten, weil ihr ein Wort nicht einfällt. Sie sagt es leise auf Französisch ins Mikro, schließt die Augen, denkt nach. Alle anderen schauen ihr dabei zu. Sekunden vergehen, bis jemand aus dem Publikum sie endlich erlöst und ihr das Wort auf Englisch zuruft. Sie greift es schnell auf, macht weiter, als wäre nichts gewesen.
Bis zum nächsten Patzer. Beim Gespräch über psychische Gesundheit kommt sie wieder ins Stocken, schließt wieder die Augen. Dieses Mal ist sie aber auf sich alleine gestellt. Keine Zurufe, keine Hilfe. Weil sie nicht weiterweiß, beantwortet sie nach einer kurzen Denkpause den Rest der Frage einfach auf Französisch. Dass viele sie nicht verstehen können? Im dem Moment egal. Mutschs großes Problem: Eigentlich weiß sie, was sie sagen will. Nur rüberbringen kann sie es nicht.
„Das ist so nicht richtig“
Lydia Mutsch ist keine, die mit der Faust auf den Tisch haut. Auch wenn sie die Meinung ihres Gegenübers nicht teilt. Wenn sie widersprechen will, wählt sie Formulierungen wie „damit bin ich jetzt nicht einverstanden“ oder „das ist so nicht richtig“. Dezent, sanft, fast schon schüchtern.
Während andere Politiker kein Blatt vor den Mund nehmen, würde sie am liebsten mehrere davor halten.
„Sie ist ein absoluter Polit-Profi“, sagt ihr ehemaliger Parteikollege Dan Codello. „Niemals würde sie in der Öffentlichkeit die Contenance verlieren.“ Das geht aber nur so lange sie weiß, was sie genau sagen soll. Beim Bürgerdialog mit dem EU-Kommissar ging die Rechnung nicht mehr auf.
Dass aber diese zurückhaltende Art ihrer Karriere bisher nichts anhaben konnte, zeigt ein Blick auf ihre Laufbahn.
Von Protestaktionen und Umweltschutz
Lydia Mutsch wird am 17. August 1961 in Düdelingen geboren, zieht als Kind nach Esch/Alzette – die Stadt, die zu ihrer Heimat und ihre politische Karriere prägen wird. Dort besucht sie das Lycée Hubert Clément, bevor sie in Göttingen Politik- und Sozialwissenschaften studiert. Ihre berufliche Laufbahn startet sie von 1985 bis 1989 als Journalistin beim Tageblatt und beim Wochenmagazin Revue sowie bei mehreren Kommunikationsagenturen.
Ihren ersten Kontakt zur Politik hat sie schon viel früher. Als Teenager interessiert sie sich vor allem für Umweltschutz, setzt sich gegen die Atomkraft ein, nimmt an Protestaktionen teil. „Es gab in den 70er Jahren eine umweltpolitische Kampagne der Jungsozialisten mit dem Namen ‚Würdet ihr in der Mosel schwimmen?'“, sagt sie. „Die hat sich bei mir eingeprägt.“
Jeder hatte seine eigene Art, aber wir haben uns gut ergänzt und sind respektvoll und ehrlich miteinander umgegangen.“Vera Spautz
Noch während ihrer Studienzeit, im Jahr 1987, wird sie Mitglied der LSAP. Der Startschuss für ihre politische Karriere.
1988 wird sie im zarten Alter von 29 Jahren Gemeinderatsmitglied in Esch/Alzette und im Jahr 2000 Bürgermeisterin der Südstadt. Dieses Amt übt Mutsch bis 2013 aus. Von 2009 bis 2013 ist sie außerdem Vizepräsidentin der Abgeordnetenkammer.
Von der Rockhal zu „Patient Empowerment“

In Esch ist die Bürgermeisterin durchaus beliebt. Sie versucht das Image der Südstadt aufzupolieren, leitet unter anderem Projekte wie die Universität oder die Rockhal in die Wege.
„Wir haben seit 2000 eng zusammengearbeitet“, erinnert sich Vera Spautz (LSAP). „Und ich war richtig traurig, als Lydia später ins Parlament wechselte.“ Die beiden Frauen sind charakterlich komplett verschieden, haben sich aber immer gut ergänzt. „‚Jetzt reicht es‘ würde Lydia nie sagen. Das ist eher mein Part gewesen“, so Spautz. „Jeder hatte seine eigene Art, aber wir haben uns gut ergänzt und sind respektvoll und ehrlich miteinander umgegangen.“
Nach den Neuwahlen 2013 wird Mutsch schließlich Gesundheitsministerin im blau-rot-grünen Kabinett. Schnell arrangiert sie sich mit dem Amt, war zuvor parlamentarische Kommissionspräsidentin für Gesundheit, Berichterstatterin beim Anti-Tabak-Gesetz oder bei der Referenzarztreform und ist bis 2014 Mitglied des Verwaltungsrats im Centre Hospitalier Emile Mayrisch in Esch.
40 Prozent der 15-Jährigen trinken jeden Tag Softdrinks. Sogar bei Tisch als Hauptgetränk. Das ist mit Sicherheit ungesund und kann zu Übergewicht führen.“Lydia Mutsch
Vor allem die Patientenrechte liegen ihr besonders am Herzen. „Patient Empowerment“ nennt sie es. Das erste, was die Ministerin 2014 deshalb umsetzt, ist die Gründung einer nationalen Informations- und Mediationsstelle für das Gesundheitswesen. „Mir geht es darum, dass der Patient seine Gesundheit selbst in den Griff nehmen kann“, sagt Mutsch. Er solle mehr Verantwortung übernehmen können und dafür die beste medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt bekommen. „Das war mein Leitmotiv in den vergangenen viereinhalb Jahren“, so die Ministerin.
Gesund ist nicht immer beliebt
Tatsächlich zogen sich die Themen wie ein roter Faden durch die vergangene Legislaturperiode, die direkte Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen haben. Mutsch hat das Tabakgesetz verschärft, über eine Zuckersteuer nachgedacht, Cannabis für medizinische Zwecke erlaubt (beim herkömmlichen Gebrauch zögert sie) und Alkohol wird in ihren Augen in unserer Gesellschaft sowieso zum Teil zu viel konsumiert, „sei es um zu feiern, zu trösten oder zu belohnen“.
Doch gerade bei diesen Schwerpunkten, hat sie gelernt, worauf es ankommt. Es braucht eine breite Zustimmung der Bevölkerung, bevor etwas geändert wird. Ansonsten wird man unbeliebt.
Deshalb sieht sie vorerst von einer Zuckersteuer ab – obwohl sie zu Softdrinks eine klare Meinung hat – und die auch äußert. „Rund 40 Prozent der 15-Jährigen trinken jeden Tag Softdrinks. Sogar bei Tisch als Hauptgetränk. Das ist mit Sicherheit ungesund und kann zu Übergewicht führen“, so die Ministerin.
Es ist einer der raren Momente, in denen sie sich öffnet. Sie sagt klar, was sie denkt, und dass sie dagegen vorgehen will. Was sie aber hemmt, sind die Reaktionen der anderen – und die möglichen Konsequenzen. „Ich will das Thema gerne angehen, erst muss aber eine Debatte mit allen Interessierten und Beteiligten entstehen. Ansonsten wird keine Grundakzeptanz bei der Bevölkerung bestehen“, sagt sie.
Erst Debatten, irgendwann Resultate
Eine „Grundakzeptanz“ fehlt zunächst auch bei den großen Projekten wie Spitalgesetz, MRTs oder Umstrukturierung der Notaufnahmen. Für Mutsch stellt sich immer wieder das gleiche Problem: Sie muss an mehreren Fronten kämpfen, sowohl mit Ärztevertretung (AMMD), Krankenhausverband, Krankenkasse (CNS), Gewerkschaften oder den Verantwortlichen des Staatslaboratoriums verhandeln.
Mit den Ärzten habe ich viel zusammengearbeitet aber auch viele Auseinandersetzungen gehabt.“Lydia Mutsch
Dass jeder dieser Akteure erst einmal für sich kämpft, ist klar. Das wirft Lydia Mutsch in ihren Projekten aber weit zurück. Immer wieder diskutieren. Immer wieder nach Lösungen suchen.
Das kostet Zeit. Die digitale Patientenakte ist bis heute nicht umgesetzt, die MRTs hat die Ministerin bereits 2016 versprochen – nach Debatten mit CNS und AMMD wurden im Juni dieses Jahres nun doch vier statt zwei genehmigt. Bis sie in Betrieb genommen werden, kann es aber noch dauern. Und die Patienten müssen sich weiter gedulden.
Ein Mammutprojekt – und ein ebenso großes Streitthema mit der AMMD – ist das Spitalgesetz. „Mit den Ärzten habe ich viel zusammengearbeitet aber auch viele Auseinandersetzungen gehabt“, sagt die Ministerin dazu. Dass die Ärzte die Gespräche zeitweise unterbrechen und mit Protestaktionen drohen, blendet sie aus.
Die Ärzteschaft wirft ihr vor, dass beim Gesetz vor allem betriebswirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen, nicht die Arbeit der Ärzte und das Wohl des Patienten. „Die Krankenhausdokumentation war von den Ärzten am Anfang nicht unbedingt so gewünscht“, erklärt Mutsch – wieder ganz dezent. Mittlerweile werde sie aber vom gesamten Gesundheitssektor als wichtig eingestuft. Nach zwei Jahren Debatten hat man sich schließlich geeinigt, das Gesetz geht durch.
Das Gesundheitsministerium hinkt hinterher
Ein wichtiges Thema ist für sie aber keine Priorität – obwohl es für das „Patient Empowerment“ so wichtig wäre: Die elektronische Patientenkarte.
Durch sie sollen Patientendaten auf digitalem Weg ausgetauscht werden. Eigentlich hätte sie ab diesem Sommer in acht europäischen Ländern eingeführt werden sollen – auch in Luxemburg. Hierzulande fehlt aber weiterhin die gesetzliche Grundlage dafür, der Gesetzentwurf liegt seit Wochen beim Staatsrat, die Testphase läuft weiter. „Wir haben einfach hohe Ansprüche an uns gestellt, was die Datensicherheit betrifft“, so Mutsch. Das neue europäische Datenschutzgesetz ist allerdings bereits seit Mai in Kraft, die digitale Akte lässt immer noch auf sich warten.
Nicht umgesetzt hat Lydia Mutsch unter anderem den im Regierungsprogramm vorgesehenen Geriatrie-Plan. Ein Observatoire de la Santé brachte die Regierung im Mai dieses Jahres quasi noch auf den letzten Drücker auf den Weg
„Wenn ich die Chance noch einmal bekomme…“
Baustellen gibt es demnach noch einige. Ob Mutsch aber noch einmal fünf Jahre das Amt der Gesundheitsministerin übernehmen will, legt sie offiziell in die Hände von anderen. „Wenn sowohl die Wähler als auch meine Partei mir noch einmal das Vertrauen schenken und ich die Chance noch einmal bekomme, Verantwortung zu übernehmen, dann würde mir das sehr viel Freude bereiten.“
Ideen hat sie schon – wenn auch keine neuen. Das Tabakgesetz weiter ausbauen, den Kampf gegen zuckerhaltige Getränke angehen, das Dossier der digitalen Krankenakte vorantreiben. „Denn Digitalisierung ist ein wichtiges Thema im Gesundheitswesen“, sagt Ministerin Mutsch. Auch das ist alles andere als neu. Die AMMD hat sich aber bereits gegen die Patientenakte gewehrt. Wird sie noch einmal Gesundheitsministerin, kann sich Lydia Mutsch demnach für die nächsten Debatten wappnen. Und wenn sie eine Zuckersteuer will, dann führt auch kein Weg an einer breiteren gesellschaftlichen Debatte vorbei.
Das wird sie aber lieber machen, als schnell eine Entscheidung im Hauruckverfahren zu treffen – zu groß wäre ihre Sorge dann vor einem Sturm der Entrüstung. Der würde sie zwar nicht umwerfen. Aber vermeiden will sie ihn auf jeden Fall.