CSV-Präsident Claude Wiseler galt immer als Konsenspolitiker, der Ideologien und kontroverse Positionen scheut. Unter seiner Führung stimmt die Partei aber deutlich konservativere Töne an. Die politische Strategie dahinter ist ebenso durchschaubar wie riskant. Eine Analyse.

„Asyltourismus.“ Manchmal reicht ein einziges Wort, um den Diskurs einer ganzen Partei zu diskreditieren. So wurde die Aussage von Claude Wiseler zur humanitären Situation in Afghanistan zumindest von der politischen Konkurrenz in den sozialen Medien bewertet. Die Äußerungen, die der CSV-Parteichef im Interview mit „RTL“ zur europäischen Asylpolitik tätigte, waren insgesamt zwar nuanciert. Doch dieses eine Wort ließ dann doch tief in die politischen Überzeugungen des Sprechers blicken.

Denn wer von „Asyltourismus“ spricht, verwendet diesen Begriff nicht aus Versehen. Er impliziert eine abfällige Haltung gegenüber Asylsuchenden und erzielt bei den Zuhörern eine bestimmte Wirkung. Beim Begriff schwingt nämlich die Auffassung mit, dass Menschen, die in einem Land Asyl beantragen, dieses international verbriefte Recht aus Vergnügen und nicht aus einer Notsituation heraus nutzen wollen. Und er enthält die Vorstellung, wonach diese Menschen – eben wie „Touristen“ – nur vorübergehend in dem Ankunftsland geduldet werden sollen.

Der Begriff deckt sich also mit klassischen nationalkonservativen Überzeugungen. In Deutschland wurde er in der jüngeren Vergangenheit denn auch vor allem von Politikern der Unionsparteien CDU und CSU verwendet. Und ähnlich wie bei Claude Wiseler wurde dieses asylpolitische „Framing“ von der politischen Konkurrenz und vielen Medien scharf kritisiert. Die Debatte ging so weit, dass sich etwa der CSU-Vorsitzende Markus Söder dafür öffentlich entschuldigte und sagte, dass er das Wort nicht wieder verwenden würde, „wenn es jemanden verletzt“.

Auch Claude Wiseler ruderte nach ein paar Tagen kräftig zurück und betonte auf Twitter die „moralische Pflicht“, all jenen Afghanen zu helfen, deren Leben gefährdet ist, und sie in der EU aufzunehmen. Für seine vorherige Wortwahl entschuldigte sich der CSV-Vorsitzende jedoch nicht.

„Wir können und wollen konservativ sein“

Unabhängig von seinen Beweggründen für die Verwendung des Begriffs deckt sich der dezidiert konservative Diskurs mit anderen Äußerungen von Claude Wiseler in den vergangenen Wochen. Der frühere Minister und Ex-Spitzenkandidat der CSV fällt mittlerweile öfter mit pointierten Aussagen auf, die allesamt in eine Richtung deuten. Dabei geht es nicht nur um Asylpolitik, sondern auch um Steuergerechtigkeit, Sozialpolitik und die Frage der inneren Sicherheit.

„Wir können und wollen konservativ sein“, sagte der Parteipräsident kürzlich im Interview mit Reporter.lu. Es ist eine unscheinbare, ja fast selbstverständlich anmutende Aussage für einen CSV-Politiker. Dennoch lässt sie aufhorchen. Denn in den vergangenen Jahren hütete sich die CSV immer vor dem Image, eine konservative, also womöglich altmodische, rückständige und fortschrittsfeindliche Partei zu sein. Stattdessen pflegte man die politisch korrekte Rhetorik einer „modernen Volkspartei der Mitte“.

Die CSV will sich wieder als Sammelbecken verstehen – für all jene, die ein Interesse an der Bewahrung ihres Status haben oder zumindest dem Vergangenen nachtrauern.“

Claude Wiseler hat nun offenbar weniger Komplexe mit dem Begriff an sich. Konservativ heiße für ihn, „dass man das schützen will, was lebenswert ist“. Im besagten Interview verband der 61-Jährige diesen Grundsatz stets mit der Familienpolitik, aber auch mit der „Freiheit des Einzelnen“, einem „gewissen Umwelt- und Klimaschutz“ und nicht zuletzt mit einem stärkeren Akzent auf die Sicherheitspolitik.

Konkret bedeutet das: Die CSV ist strikt gegen eine Erbschafts- und Vermögensteuer, gegen eine „Verbotspolitik“ beim Klimaschutz und für mehr „Ordnungspolitik“ im Bereich der inneren Sicherheit. Es sind allesamt Themen, die aus dem klassischen Kanon konservativer Parteien stammen. Fügt man nun noch die Betonung einer – zumindest angedeuteten – kritischen Haltung in der Asylpolitik hinzu, ergibt sich eine klare Stoßrichtung: Die CSV will sich im Luxemburger Parteiensystem wieder stärker als konservative Kraft positionieren.

Eine Reaktion auf die eigene missliche Lage

Man darf annehmen, dass es sich dabei nicht um zufällige Äußerungen handelt. Claude Wiseler ist nicht für programmatische Schnellschüsse bekannt, die nicht in den eigenen Reihen abgestimmt wurden. Der Parteivorsitzende spricht denn auch nur das aus, was in der CSV des Jahres 2021 Mainstream ist. Wie es zudem aus Parteikreisen verlautet, haben in den vergangenen Monaten mehrere Amtsträger eine klarere Profilierung der Partei gefordert. Und das Profil der CSV ist eben im Zweifel konservativ.

Das gilt umso mehr, als sich die Partei in einem Prozess der Vergangenheitsbewältigung befindet. Damit ist einerseits die rezente Episode Frank Engel gemeint. Der frühere Präsident habe nach außen den Eindruck der programmatischen Beliebigkeit der Partei verfestigt, so die einhellige Meinung führender CSV-Politiker.

Jene Politiker, denen eine fortschrittliche Haltung in gesellschaftspolitischen Fragen nachgesagt wird, sind in der heutigen CSV-Fraktion an einer Hand abzuzählen.“

Hinzu kommt aber die längerfristige Aufarbeitung des Oppositionsschicksals der Christsozialen. Dass die CSV in der Opposition als sprunghaft, profil- und orientierungslos gilt, dient manchen Wortführern als Vorlage, um die Partei wieder auf Kurs zu bringen. Auch sie wissen: Der CSV wird in der politischen Debatte immer wieder vorgeworfen, dass sie keine oder zu wenige greifbare Alternativen zur Regierungspolitik formuliere. In den eigenen Reihen macht sich zudem das Gefühl breit, dass man sich inhaltlich zu sehr an die Koalitionsparteien angepasst habe. Ein konservatives Profil scheint da für manche der richtige Ausweg zu sein.

Es ist dabei auch nicht schwer zu erraten, wer mit „manchen“ Wortführern in der Partei gemeint ist. Denn neben Claude Wiseler geben vor allem zwei Politiker den Ton an: Gilles Roth und Laurent Mosar. Beide Abgeordnete sind bekennende Vertreter des liberal-konservativen Flügels der Partei. Liberal sind sie in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, konservativ bei fast allen anderen Fragen, mit einer unverkennbaren Vorliebe für „Law and Order“-Politik.

Dagegen sind die anderen Flügel der CSV, die früher den dauerhaften Erfolg der Volkspartei ausgemacht haben, machtlos bis inexistent. Auch früher war die CSV schon im Kern konservativ, aber nicht nur. Der soziale, gewerkschaftlich engagierte Flügel schwindet jedoch seit Jahren. Auch jene Politiker, denen eine fortschrittliche Haltung in gesellschaftspolitischen Fragen nachgesagt wird, sind in der heutigen CSV-Fraktion an den Fingern einer Hand abzuzählen. Und selbst jene Vertreter, die unter diesem Verdacht stehen, wie Ex-Generalsekretär Paul Galles oder Serge Wilmes, reihen sich widerspruchslos in die offizielle Linie der Partei- und Fraktionsführung ein.

Widersprüche des modernen Konservatismus

Eine Frage, die nicht nur die CSV-Strategen beschäftigt: Was bedeutet eigentlich „konservativ“? Wie bei so vielen politischen Grundbegriffen hat sich auch die ursprüngliche Bedeutung von „konservativ“ gewandelt. Die wörtliche Übersetzung des lateinischen „conservare“ wirkt jedoch bis heute nach. Konservative Politik will demnach die Tradition bewahren, die politische-soziale Ordnung und die herrschenden Besitzverhältnisse aufrechterhalten.

Der Grundgedanke des Konservatismus sei die „Bewahrung des Bewahrenswerten“, drückte es der deutsche Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer einmal aus. Diese Leitlinie lässt sich auf nahezu alle Politikbereiche herunterbrechen, etwa auf die Sicherheitspolitik. Konservative setzen sich demnach für einen starken Rechtsstaat, innere Sicherheit und eine wirksame Landesverteidigung ein. Ein zweites klassisches konservatives Prinzip ist laut dem Politologen der „Schutz traditioneller Formen des menschlichen Zusammenlebens“, also vor allem der Einsatz für ein traditionelles Familienbild.

Mehr Profil, weniger Nuancen: Die aktuelle Führungsriege der CSV um den Vorsitzenden Claude Wiseler will die Partei wieder stärker als konservative Kraft positionieren. (Foto: Martine Pinnel)

Spätestens an dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie zeitgemäß dieser Konservatismus noch ist. Laut klassischer Lesart müsste eine konservative Partei demnach strikt gegen die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder gegen die gleichgeschlechtliche Ehe sein. Doch wie alle politischen Ideologien hat sich auch der Konservatismus gewandelt und angepasst. Oskar Niedermayer unterscheidet dabei zwischen 1. „restaurativen Tendenzen, die den gesellschaftlichen Wandel zurückdrehen“, also im Grunde nicht mehr bewahren, sondern umgestalten wollen, und 2. einem „aufgeklärten Konservatismus“, der den „Wandel verträglich gestalten“ will.

Die meisten modernen konservativen Parteien, darunter auch die CSV, haben sich letzterem Verständnis verschrieben. Wobei „aufgeklärter Konservatismus“ streng und historisch genommen ein Widerspruch in sich ist. Denn der politische Konservatismus entstand eben als Gegenbewegung zu den Ideen der Aufklärung, des Rationalismus und des wissenschaftlich begründeten Fortschritts. Die konservative Bewegung ging in den meisten Ländern lange Hand in Hand mit dem schwindenden Einfluss der katholischen Kirche, deren Glaubenssätze auch in Luxemburg als ideologischer Grundstein des mächtigen „CSV-Staates“ galten.

Zwischen konservativer Theorie und Praxis

Die Übermacht der christlich-konservativen Kräfte ist jedoch spätestens seit der von Blau-Rot-Grün vorangetriebenen Trennung von Kirche und Staat passé. Dennoch ist der Strategiewechsel der CSV auf den ersten Blick gar nicht mal so eine abwegige Idee: Eine Partei, die all jene Bürger ansprechen will, denen der Wandel der Gesellschaft zu schnell geht. Ein Sammelbecken für all jene, die ein Interesse an der Bewahrung ihres Status haben oder dem Vergangenen nachtrauern. Zumindest würde dies den innerparteilichen Wunsch nach einer klareren Profilierung und einer stärkeren Abgrenzung von den Koalitionsparteien erfüllen.

Ein Beispiel für die Beherzigung dieses Prinzips ist der konsequente Einsatz gegen eine zusätzliche Besteuerung von privaten Vermögen. Die unmissverständliche Ablehnung einer Erbschaftssteuer oder generell einer Umverteilung des Reichtums im Land ist eine klassische konservative Position. Gleiches gilt für den Schutz der bestehenden wirtschaftlichen Interessen vor allzu radikalen Klimaschutzmaßnahmen. Der von Claude Wiseler verwendete Ausdruck „gewisser Klimaschutz“ ist nichts weiter als ein Synonym für die moderne konservative Maxime des „verträglich gestalteten Wandels“.

Wie will man mit einem konservativen Profil punkten, wenn die aktuelle Regierung in den Kernbereichen ihrer Politik selbst keine fundamentalen Fortschritte mehr anstrebt?“

Ein Problem an diesem Ansatz ist aber, und zwar besonders in Luxemburg: Die Regierung selbst vertritt im Grunde, mit kleinen Nuancen, die gleichen Positionen. Auch DP, LSAP und Déi Gréng sind gegen eine Erbschaftssteuer und zählten die Herstellung von mehr Steuergerechtigkeit in ihrer bisherigen Amtszeit von bald acht Jahren nicht zu ihren Prioritäten. Und auch die als fortschrittlich geltenden Koalitionsparteien verweisen, wie die CSV, auf einen notwendigen „gesellschaftlichen Konsens“ für weitergehende Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel.

Das Potenzial, um mit einem konservativen Profil zu punkten, ist also nur theoretisch vorhanden. Praktisch steht die größte Oppositionspartei auch hier in Konkurrenz zu den regierenden Parteien. Mit einer konservativen Infragestellung der blau-rot-grünen Politik begibt sich die CSV jedenfalls in eine neue paradoxe Situation: Wie will man mit einem konservativen Profil punkten, wenn die aktuelle Regierung in den Kernbereichen ihrer Politik selbst keine fundamentalen Fortschritte mehr anstrebt?

Der schmale Grat einer (Mitte-)Rechts-Partei

Was bleiben also noch für Themen, die zur Abgrenzung von den anderen Parteien taugen? Es sind jene Politikfelder, die die CSV längst als konservative Profilierungsbereiche erkannt hat. Einerseits handelt es sich um die Familienpolitik und den – wenn auch zaghaften – Hinweis auf die besagten „traditionellen Formen des menschlichen Zusammenlebens“. Andererseits ist es das weite Feld der Sicherheitspolitik, das etwa rezent am Beispiel des Bahnhofsviertels in der Hauptstadt mit klassisch konservativen Argumenten beackert wird.

Das Potenzial zur Profilierung der CSV als Partei, die die Sorgen ihrer Wählerschaft versteht und ernst nimmt, ist hier definitiv vorhanden. Gleichzeitig ist aber das Reservoir an Ressentiments und populistischer Stimmungsmache größer als in anderen Bereichen. Gleiches gilt offensichtlich für die Asylpolitik. Eine aufgeklärte und seriöse konservative Partei kann und sollte diese Themen ansprechen. Doch ihr muss bewusst sein, dass sie mit einseitiger Agitation, Übertreibungen und verantwortungsloser Wortwahl schnell übers Ziel hinausschießen kann.

Die Erfahrungen in Luxemburgs Nachbarstaaten lehren, dass jene (konservative) Parteien, die die Populisten auch nur rhetorisch nachahmen, nicht an Zustimmung im Volk gewinnen.“

Denn wie sich im Ausland zeigt, stehen konservative Parteien nicht nur in Konkurrenz zu den Verfechtern des gesellschaftlichen Fortschritts, sondern auch zu den postmodernen Verfechtern der reinen konservativen Lehre. Auch in Luxemburg existiert mit der ADR eine Partei, die nicht nur das „Bewahrenswerte bewahren“, sondern am liebsten die Zeit zurückdrehen will. Das verdeutlichen die Forderungen der ADR in der Familien-, Asyl- und Identitätspolitik. Inwiefern die CSV ausgerechnet die seit jeher sehr begrenzte Wählerschaft der ADR umwerben kann, ist fraglich.

Weniger zweifelhaft ist jedoch das Risiko, dass mit dieser Strategie einhergeht. Die Diskurse der Rechtspopulisten wie der „AfD“, dem „Rassemblement National“ oder dem „Vlaams Belang“ offenbaren nämlich, wie schmal der Grat zwischen konservativ und reaktionär, zwischen rechts und rechtsextrem, in der Praxis ist. Allein die Erfahrungen in Luxemburgs Nachbarstaaten lehren, dass jene (konservative) Parteien, die die Populisten auch nur rhetorisch nachahmen, nicht an Zustimmung im Volk gewinnen – eher das Gegenteil ist der Fall.

Für die CSV stellt sich also die Frage, wie ernst ihre konservative Renaissance gemeint ist. Handelt es sich dabei tatsächlich um eine Strategie im Kampf gegen den Verlust an Einfluss und Zustimmung oder nur um eine verfrühte Wahlkampftaktik? Will sie den gesellschaftlichen Wandel aufhalten, zurückdrehen oder nur verträglich gestalten? Früher oder später muss sie diese Fragen wohl beantworten, zumindest wenn sie in absehbarer Zukunft überhaupt wieder etwas gestalten will.


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