Von der Pandemie bis zum Ukraine-Krieg: Seit mehr als zwei Jahren findet Politik fast nur noch im Krisenmodus statt. Auch Luxemburgs Regierung reagiert mehr, als dass sie gestaltet. Darunter leidet die Demokratie – und die Lösung von längerfristigen Problemen.

Es gibt wohl nur wenige Wörter, die in der Politik so allgegenwärtig sind wie die „Krise“. Quasi jede Situation, die schwierig erscheint und in der von Regierungen entschlossenes Handeln erwartet wird, wird gerne so bezeichnet. Der Begriff beschreibt dabei die andauernde Störung eines ansonsten regulär funktionierenden Systems – quasi die Abwandlung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Norm.

In den vergangenen zwei Jahren scheint die Krise jedoch selbst zur Normalität geworden zu sein. Der Ausbruch der Pandemie führte dazu, dass sich nahezu alle Regierungen der Welt in ihren Handlungen auf die Bewältigung dieser „Corona-Krise“ konzentrierten. Viele andere krisenartigen Entwicklungen, etwa der Klimawandel, internationale Konflikte oder soziale Ungleichheiten, spielten in dieser Zeit oft eine untergeordnete Rolle.

Kaum wurde die Pandemie zumindest eingedämmt, brach jedoch die nächste Krise globalen Ausmaßes aus. Der Angriff Russlands auf die Ukraine führte zu einer neuen internationalen Krise, die wiederum weitere Störungen im Bereich der Verteidigungs-, Wirtschafts- und Energiepolitik nach sich zog – mit bisher offenem Ausgang.

Reagieren statt Regieren

Der rasante Anstieg der Energiepreise führte auch in Luxemburg zu einem politischen und wirtschaftlichen Schock. Er zwang die Regierung dazu, einen „Energiedësch“, dann eine Tripartite einzuberufen und ein 800 Millionen Euro schweres „Solidaritätspaket“ zu beschließen. Seitdem ist „die Krise“ wieder allgegenwärtig. Der Krieg nimmt kein Ende, die Inflation schreitet voran. Regierung und Sozialpartner werden sich schon in Kürze wieder zusammensetzen, um über „Anti-Krisen-Maßnahmen“ zu verhandeln.

Wenn es in einer Krise ernst wird, muten demokratische Prozesse für die Regierenden schnell lästig an. Und nur die Wenigsten scheinen sich an dieser Tatsache zu stören.“

In einer solchen Krise scheint der politische Gestaltungsspielraum außerordentlich klein. Die Regierung reagiert meist nur noch auf äußere Einflüsse und die getroffenen Entscheidungen haben eine immer kürzere Wirkungsdauer. Dieser Politikmodus wurde in der Pandemie am offensichtlichsten: Man beschloss Maßnahmen, die zum Teil bereits im Moment der Verkündung überholt oder unzureichend waren. Die Regierenden, die sonst zumindest den Eindruck eines überlegten Vorgehens erwecken wollen, werden so immer mehr zu Reagierenden.

Dass die Regierung nur „auf Sicht fährt“ und keine vorausschauende Politik verfolge, ist dabei eine gängige Kritik seitens der Opposition oder der Medien. In einer akuten Krise haben politisch Verantwortliche aber kaum eine andere Wahl. Dafür liegen zu viele Faktoren außerhalb des Wirkungsbereichs nationaler Politikgestaltung. Die äußeren Einflüsse machen die meisten Politiker zunehmend zu Getriebenen.

Je begrenzter der Handlungsspielraum erscheint, desto wuchtiger sind aber oft die in einer Krise beschlossenen Maßnahmen. In der Pandemie wurden unverzüglich, und ohne wirkliche Debatte, präzedenzlose Freiheitseinschränkungen beschlossen. Und auch zur Bewältigung der Inflation und Energiekrise verabschiedete man innerhalb kürzester Zeit Maßnahmen, die ansonsten erst nach monatelangen Vorbereitungen und Debatten möglich gewesen wären. Es zeigt, wie Krisen die ansonsten geltenden Regeln und Maßstäbe der Politik sprengen können.

Lehren der „Coronakratie“

Diese mittlerweile zur Regel gewordene Ausnahmesituation stellt die Regierenden vor neue Herausforderungen im Umgang mit der Bevölkerung. Es gebe bei vielen Bürgern eine „Erwartungssicherheit gegenüber dem Nichterwartbaren“, drückte es der deutsche Politologe Karl-Rudolf Korte in Bezug auf die Pandemiebewältigung aus. In seinem Buch „Coronakratie. Demokratisches Regieren im Ausnahmezustand“ beschreibt er, wie die Politik in der akuten Phase der Pandemie die Gewissheiten des modernen, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates herausforderte.

Eine weitere Erkenntnis lautet: Die Politik entschied während dieser Zeit immer wieder auf Grundlage einer unzureichenden Faktenbasis. Auch das liegt bis zu einem gewissen Grad in der Natur einer Krise. Damit man das Vertrauen der Bürger dennoch nicht verspielt, kommt es laut dem Politikwissenschaftler Korte vor allem auf eine transparente Kommunikation an. Um die Krisenresilienz der Gesellschaft zu stärken, sollten Politiker offen mit ihren nicht immer zu Ende gedachten Abwägungen im Krisenmanagement umgehen.

Von Regierenden zu Getriebenen: In der Pandemie machten Xavier Bettel, Paulette Lenert und Co. nur selten den Eindruck, dass sie die Politik des Landes noch aktiv gestalteten. (Foto: Eric Engel)

Die oft kritisierte politische Kommunikation verdeutlicht, wie stark sich das Reagieren in der Krise vom Regieren in „normalen“ Zeiten unterscheidet: Wo die Regierung sonst sorgfältig ihr Koalitionsprogramm abarbeitet, Entscheidungen in interministeriellen Arbeitsgruppen und Ausschüssen vorbereitet und nach ausführlicher parlamentarischer Debatte ein Gesetz verabschiedet, muss in einer Krise alles schnell gehen. Die interessierte Öffentlichkeit wird dabei vollends auf die Zuschauerrolle degradiert. Krisenpolitik wird stets in den Hinterzimmern, oder um es mit Jean-Claude Juncker zu sagen, in der „dunkelsten Dunkelkammer“ der Macht ausgestaltet.

Folgen für die Demokratie

Dass dieser intransparente Dauerkrisenmodus sich auf die Funktionsweise der Demokratie auswirkt, ist offensichtlich. Das prägnanteste Beispiel war der „Etat de crise“ ab März 2020. Während drei Monaten wurde die parlamentarische Demokratie in Luxemburg faktisch außer Kraft gesetzt. Die Begründung war klar: Die Regierung wollte schneller auf die Ausbreitung des Coronavirus reagieren können. Die Folge war jedoch ebenso offensichtlich: Wenn es in einer Krise ernst wird, muten demokratische Prozesse für die Regierenden schnell lästig an. Und nur die Wenigsten scheinen sich an dieser Tatsache zu stören.

Seit März 2020 hat diese Regierung keinen wirklichen Plan mehr. Sie managt die aufkommenden Krisen, aber gestaltet nur noch selten.“

Dabei geht es nicht nur um den offensichtlichen Mangel an Debatten im Vorfeld von Entscheidungen. Der Modus Operandi der Coronakrise brachte auch mit sich, dass die Regierung kaum Rechenschaft über ihre Handlungen ablegen musste. Der Fall der Virus-Cluster in den Alten- und Pflegeheimen führte zwar zu hitzigen Diskussionen im Parlament und einem Abschlussbericht. Doch die Verantwortung der Regierung wollte man dann doch nicht bis ins letzte Detail analysieren. Bei anderen Entscheidungen, etwa der umstrittenen Wirkung der Ausgangssperre, dem konsequenten Outsourcing von staatlicher Souveränität oder der suboptimalen Organisation der Impfkampagne, hielt sich der Wille zur objektiven Aufarbeitung der Geschehnisse noch stärker in Grenzen.

Die Pandemie war in dieser Hinsicht einmalig. Doch auch bei der Bewältigung der Krisen infolge des Ukrainekriegs werden die demokratischen Prozesse strapaziert. Zwar werden die Lösungen, die bei der Tripartite ausgehandelt werden, im Parlament diskutiert und verabschiedet. Faktisch haben die Abgeordneten aber wenig Spielraum, um an den auf höchster Ebene beschlossenen Maßnahmen noch etwas zu ändern. Sobald die Regierung mit den Sozialpartnern einen intransparent zustande gekommenen, stets als alternativlos gepriesenen Konsens gefunden hat, geht es nur noch darum, diesen umzusetzen. Eine offene Debatte über den besten Weg zur Bewältigung der Krise kann so nicht stattfinden.

„Et kascht, wat et kascht“

Eine weitere Herausforderung der anhaltenden „Polykrise“ sind die öffentlichen Finanzen. „Et kascht, wat et kascht“, hatte Premierminister Xavier Bettel (DP) in den Anfangstagen der Pandemie versichert. Auch das ist ein Erkennungsmerkmal einer allgegenwärtigen Krise. Während viele Politiker sonst zumindest mit einem Auge auf die Gegenfinanzierung und das Gleichgewicht des Staatshaushalts schielen, gelten auch diese Prinzipien in einer Krise nicht mehr.

In der Finanzkrise rettete die Regierung systemrelevante Banken, zur Bewältigung der Pandemie wurden Milliarden ausgegeben. Und auch jetzt, bei der Entlastung der Bevölkerung in Zeiten von Energiekrise und Inflation, kennt die Politik kaum finanzielle Zurückhaltung. In dieser Legislaturperiode, also seit 2018, wird die Staatsschuld voraussichtlich um über sechs Milliarden Euro bzw. rund 50 Prozent angewachsen sein. Auch wenn die Notwendigkeit des Handelns in den genannten Krisen offensichtlich erscheint, sind die Kosten eine Bürde für kommende Generationen – und eventuell auch für die Manager kommender Krisen.

Andererseits hält sich Luxemburgs Staatsverschuldung im europäischen Vergleich immer noch in Grenzen. Im Verhältnis zur – immer noch wachsenden – Wirtschaftskraft des Landes ist der Anstieg der Schulden weitaus weniger stark. Mit voraussichtlich 24,4 Prozent des BIP in 2022 ist die Staatsverschuldung des Großherzogtums immer noch überschaubar. Wie in der Vergangenheit geht diese Rechnung allerdings nur auf, solange die Wirtschaft immer weiter und vor allem schneller wächst als in anderen Ländern.

Regierung ohne Programm

Die finanzielle Entwicklung wirkt sich dennoch auf die politischen Perspektiven aus. In ihrer ersten Amtszeit war die Rhetorik der blau-rot-grünen Koalition noch von der ausgehenden Finanzkrise geprägt. Blau-Rot-Grün war ursprünglich als Krisenkoalition angetreten, konnte dann aber mit konjunkturellem Rückenwind durchregieren.

Die aktuelle Legislaturperiode folgt der umgekehrten Logik. 2018 gaben sich DP, LSAP und Déi Gréng ein Wohlfühlprogramm, das viel kosten und niemandem so richtig wehtun sollte. Keine zwei Jahre später wurden mit der Pandemie und den folgenden Entwicklungen weite Teile des Koalitionsprogramms ad absurdum geführt. Auch wenn sich die führenden Koalitionspolitiker lange weigerten, es zuzugeben: Seit März 2020 hat diese Regierung keinen wirklichen Plan mehr. Sie managt die aufkommenden Krisen, aber gestaltet nur noch selten.

„Et kascht, wat et kascht“: Blau-Rot-Grün ist eine Koalition, von deren ursprünglichem Plan für diese Legislaturperiode nicht mehr viel übriggeblieben ist. (Foto: Mike Zenari)

Gleichzeitig können Krisen die politischen Verhältnisse herausfordern. Eine Koalition, die ihr ursprüngliches Programm nicht mehr einfach abarbeiten kann, gerät öfter in Konfliktsituationen. In den seit 2020 zu bewältigenden Krisen taugt der nach den Wahlen 2018 ausgeklügelte Konsens jedenfalls nicht mehr viel. Neue Kompromisse müssen her, koalitionsinterne Dissonanzen werden offensichtlich. Im Zweifel fangen die Koalitionsverhandlungen bei jeder Krise wieder von vorne an. Die Perspektive des anstehenden Superwahljahres 2023 dürfte diesen Effekt nur noch verstärken.

Der Dauerkrisenmodus führt denn auch dazu, dass sich manche Koalitionspolitiker vorstellen können, auch bei der Lösung anderer Probleme eine proaktivere Finanzpolitik zu verfolgen. Es ist ein Ansatz, der vor allem von LSAP und Grünen mittlerweile offen vertreten wird. Die Sehnsucht nach mehr haushaltspolitischer Gelassenheit geht dabei einher mit Forderungen nach mehr Steuergerechtigkeit. In diese Richtung äußerte sich etwa Dan Kersch (LSAP) in der rezenten Steuerdebatte im Parlament. Neue Entlastungen der Bürger durch mehr budgetäre Flexibilität wünschen sich auch Déi Gréng, wie deren Parteivorsitzende kürzlich vor der Presse deutlich machten.

Ausgeblendete Dauerkrisen

Dass die Politik auch zur Überwindung anderer Krisen mehr Geld in die Hand nimmt, ist zumindest denkbarer geworden. Das Motto „Et kascht, wat et kascht“ ließe sich etwa auch auf die Überwindung sozialer Ungleichheiten oder auf die Begrenzung des Preisanstiegs auf dem Wohnungsmarkt übertragen. Doch an dieser Stelle verfallen die meisten Koalitionspolitiker, allen voran jene der Premierpartei DP, dann doch wieder in den normalen Politikmodus. Wenn es um die hausgemachten Krisen geht, spielen ein ausgeglichener Haushalt und die Balance zwischen unterschiedlichsten politischen Interessen wieder eine große Rolle.

Krisen sind nicht nur Entwicklungen, deren negative Folgen begrenzt werden müssen, sondern auch Phasen, in denen eine Gesellschaft am Scheideweg steht.“

Sich im Kabinett oder mit den Sozialpartnern zusammenzusetzen und schnell ein Maßnahmenpaket zur Lösung der „Wohnungskrise“ vorzulegen, bleibt also eine Illusion. Auch eine „Klima-Tripartite“, bei der wegweisende Schritte zur Erreichung der Klimaneutralität beschlossen werden, wird es wohl so schnell nicht geben. Manche Politiker scheinen sich demnach im Dauerkrisenmodus ganz wohl zu fühlen. Denn in dieser Ausnahmesituation fällt weniger auf, dass sie keine nachvollziehbaren Konzepte zur Lösung regulärer politischer Probleme haben.

Dabei könnte die Regierung die Krisen eigentlich auch für solche Schritte nutzen. Hinzu kommen die Lehren, die man politisch aus den andauernden Krisen ziehen könnte. Die Pandemie legte etwa Schwächen des Gesundheits- und Pflegesystems, zum Beispiel die personelle Abhängigkeit von der Großregion, schonungslos offen. Die aktuelle Energiekrise, die nicht zuletzt auf der starken Abhängigkeit von russischen Rohstoffen beruht, könnte auch der Startpunkt sein, um die Energiepolitik komplett neu und nachhaltiger aufzustellen.

Politische Ausnahmezustände können jedenfalls das Bewusstsein dafür stärken, was wesentlich ist. Was bei der inflationären Krisenrhetorik nämlich oft vergessen wird: Das Wort „Krise“ hat ursprünglich eine durchaus hoffnungsvolle Bedeutung. Krisen sind nicht nur Entwicklungen, deren negative Folgen begrenzt werden müssen, sondern auch Phasen, in denen eine Gesellschaft am Scheideweg steht. Sie können als Chance begriffen werden. Doch, so formuliert es der Politologe Karl-Rudolf Korte in „Coronakratie“: „Krisen sind nur Chancen, wenn man sie auch nutzen möchte.“