Nach drei Wochen weitgehender Funkstille laden Premier und Gesundheitsministerin heute wieder zum Pressebriefing. Dabei wurde in den vergangenen Tagen immer deutlicher: Luxemburg geht einen Sonderweg durch die Pandemie, der nur schwer durchzuhalten ist. Eine Analyse.
„Week-end au Luxembourg, un pays épargné par le confinement“: Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein harmloser Tweet einer Ministerin. Corinne Cahen (DP) teilte mit ihren knapp 5.000 Followern auf Twitter einen Beitrag des französischen TV-Senders TF1, in dem Luxemburg als beschauliches Reiseziel gepriesen wird. Der Titel verrät jedoch schon, dass das Timing der Reportage nicht ohne politische Brisanz ist. Während Luxemburgs Nachbarn seit rund zwei Wochen im Teil-Lockdown sind, bleibt das Großherzogtum bis auf Weiteres offen für Touristen aus dem Ausland.
Dass Luxemburg von einem neuen Lockdown „verschont“ bleibt, ist dabei freilich schon eine beschönigende Formulierung. Vielmehr hat sich die Politik hier bewusst dazu entschieden, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben nicht wie im grenznahen Ausland herunterzufahren. Auf die Gefahr einer Verschlimmerung der sanitären Lage hin, hält die Regierung seit Ende Oktober an ihrer neuen Strategie fest.
Mehr noch: Die Koalition bestätigt mittlerweile ganz offen, dass sie einen Sonderweg beschreitet. Premier Xavier Bettel (DP) betonte am Freitag in einem Facebook-Beitrag, dass Luxemburg „im Gegensatz zu anderen Ländern“ nicht das „Leben komplett herunterfahren und einen sogenannten Lockdown beschließen“ musste. Der Kampf gegen das Coronavirus sei „kein Sprint, sondern ein Marathon“, so der Regierungschef. Und auch wenn andere hin und wieder „stehen bleiben und Luft holen“, wolle Luxemburg „langsam weiterlaufen“ und nicht mehr „stehenbleiben“.
Die Pandemie der Anderen
Es bringe nichts, blind das Ausland zu kopieren, hatte auch Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) vor zwei Wochen gesagt, um die abwartende Haltung der Koalition zu begründen. Mehrmals hatte die Ministerin auch öffentlich behauptet, dass Luxemburg besser und zielstrebiger in der Pandemie agiere als andere Länder. Im Gegensatz zum Ausland sei man etwa beim Contact Tracing noch relativ handlungsfähig, teste viel mehr und man orientiere die eigene Politik nicht nur an den Infektionszahlen, sondern an einer Vielzahl von Faktoren.
Anhand von Fakten belegt wurden diese Vergleiche zwar nie, aber die Botschaft ist dennoch klar: Luxemburg handelt eigenständig und gründet seine Strategie auf jene Daten, die der Politik im eigenen Land zur Verfügung stehen. Andere Länder dienen nicht mehr der Inspiration, sondern vielmehr als warnendes Beispiel und Rechtfertigung des eigenen Handelns.
Die neuen Zahlen verheißen nichts Gutes und lassen erahnen, dass Luxemburgs Sonderweg nach kurzer Zuversicht in eine Sackgasse führen wird.“
Spätestens an dieser Stelle lässt sich in Luxemburgs Krisenpolitik ein Hauch von schwedischer Rhetorik erkennen. Die Situation in anderen Ländern sei weitaus kritischer als in Schweden, sagte der führende schwedische Virologe Anders Tegnell noch Mitte September. Andere Staaten seien „weitaus empfindlicher für rasche Ausbrüche“, so der mittlerweile über die Grenzen seines Heimatlandes bekannte Experte im Interview mit der „Financial Times“.
Ein gescheitertes Experiment
Heute zeigt sich, dass das „schwedische Experiment“, zumindest in seiner ursprünglichen Form, gescheitert ist. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten setzte Schweden im Frühjahr zwar keinen Lockdown durch und vertraute im Kampf gegen das Virus lange auf freiwillige Verhaltensregeln. Kürzlich reagierte aber auch die Regierung in Stockholm auf einen rasanten Anstieg von Infektionen und Hospitalisierungen. Unter anderem wurde der Alkoholausschank in Bars und Restaurants ab 22 Uhr untersagt sowie Besuche von Risikogruppen eingeschränkt.
Das Scheitern der Strategie zeigt sich aber vor allem am Begriff der Herdenimmunität. Das Ziel der kontrollierten „Durchseuchung“ der Bevölkerung war Kern des Konzeptes von Anders Tegnell und der schwedischen Regierung. Ende April hatte Tegnell noch prophezeit, dass sein Land in einigen Wochen die Herdenimmunität erreichen werde. Mittlerweile äußert sich der Staatsepidemiologe zwar zurückhaltender. Doch seine früheren Zitate sprechen für sich.
Immer wieder betonten die schwedischen Behörden, dass man im Vergleich zum Ausland in Schweden eine höhere Immunität gegen das Sars-CoV-2-Virus erreiche. Und diese höhere Immunität werde langfristig dazu führen, dass sich immer weniger Menschen anstecken können und die Pandemie damit kontrollierbar bleibe. Der rezente Anstieg der Infektionen in Schweden übersteigt jedoch die Entwicklung in vielen anderen Staaten. Es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, die Luxemburg heute mit der Corona-Strategie des skandinavischen Landes verbindet.
Angedeutete Herdenimmunität
Die Pandemie sei erst überstanden, „wenn eine große Mehrheit der Bevölkerung Antikörper hat“, schrieb Luxemburgs Premier am vergangenen Freitag in seinem Facebook-Beitrag. Da ein Impfstoff jedoch noch auf sich warten lasse, gelte es weiterhin die Verbreitung des Virus zumindest zu „limitieren“.
Bettels Wortwahl lässt an dieser Stelle aufhorchen, weil sie im Rückblick auf die bisherige Pandemie-Rhetorik des Premiers durchaus neu ist. Kombiniert mit der besagten „Marathon“-Metapher und den vergleichsweise milden Restriktionen, die in Luxemburg bis heute gelten, verstärken die Worte den Eindruck, dass Luxemburg sich seit gut drei Wochen eher an Schweden als am europäischen Mainstream orientiert.
Dabei hat der Premier natürlich Recht, wenn er betont, wie die Pandemie langfristig überwunden werden kann. Erst wenn genügend Menschen gegen das Coronavirus immun sind, wird es keine neuen Infektionswellen mehr geben. Mittlerweile lautet die Mehrheitsmeinung unter Virologen jedoch, dass eine weitgehende Immunität gegen dieses Virus nur durch einen wirksamen Impfstoff zu erreichen ist. Eine Strategie der „Durchseuchung“ wird dagegen abgelehnt, weil die Folgen von Covid-19 für die Gesundheit des Einzelnen, und damit für die Belastbarkeit des ganzen Systems, nach wie vor nicht zu unterschätzen sind. Zudem bestehen Zweifel, ob eine Erkrankung zu dauerhafter Immunität führt. Diese Erkenntnisse sprach der Premier in seiner jüngsten Stellungnahme jedoch nicht an.
Sonderweg ohne Kommunikation
Ein anderer Grund für Luxemburgs Sonderweg liegt allerdings in der Abwägung zwischen den gesundheitlichen Folgen und anderen Kollateralschäden der Pandemie. Harte, sanitär bedingte Maßnahmen führen nicht nur zu wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, sondern auch zu psychischen Langzeitfolgen der Bürger, die Luxemburgs Regierung offenbar so gut und lange wie möglich vermeiden will. Dafür ist man offenbar bereit, wie in Schweden, eine höhere Sterblichkeitsrate in der älteren Bevölkerung in Kauf zu nehmen.
Das letzte Pressebriefing liegt mittlerweile über drei Wochen zurück. Und damit auch eine nachvollziehbare Erklärung der Politik, die über die gebetsmühlenartige Wiederholung der Abstands- und Hygieneregeln hinausgeht.“
Blau-Rot-Grün versucht seit einigen Wochen, einen neuen Mittelweg durch die multiplen Herausforderungen der Krise zu finden. Die Bilanz des Luxemburger Experiments steht dabei noch aus. Ein Grundproblem der jüngeren Regierungspolitik lässt sich aber jetzt schon klar umreißen. Es betrifft die fehlende Kommunikation. Letztlich kann man nämlich nur mutmaßen, auf welche Fakten und Argumente sich die Regierenden genau beziehen. Nie wurde klar geäußert, welche Beweggründe für ihre umstrittene Herbststrategie den Ausschlag gaben.
Ist es die heimische Wirtschaft? Oder vielmehr die Freiheit und die psychische Gesundheit der Menschen? Ab wie vielen Toten pro Woche, ab welchem Grad der Überlastung der Krankenhäuser muss man gegensteuern? Auf all diese Fragen gibt die Regierung seit geraumer Zeit überhaupt keine Antworten mehr. Das letzte Pressebriefing liegt mittlerweile über drei Wochen zurück. Und damit auch eine nachvollziehbare Erklärung der Politik, die über die gebetsmühlenartige Wiederholung der Abstands- und Hygieneregeln hinausgeht.
Marathonläufer in Erklärungsnot
Heute Mittag ab 12.30 Uhr soll es allerdings wieder soweit sein. Nach einer außerordentlichen Kabinettssitzung wollen sich Premierminister Xavier Bettel und Gesundheitsministerin Paulette Lenert den Fragen der Presse stellen.
Am Montag meldeten die Behörden übrigens zehn neue Covid-19-Todesfälle. Damit sind in Luxemburg innerhalb von einem Monat über 100 Menschen an den Folgen einer Coronavirus-Infektion gestorben – nahezu so viele wie im gesamten Verlauf der Pandemie zwischen März und Mitte Oktober.
Die Infektionen und die Situation in den Krankenhäusern deuten zudem darauf hin, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichten, um die zweite Welle zu brechen. Die neuen Zahlen verheißen nichts Gutes und lassen erahnen, dass Luxemburgs Sonderweg nach kurzer Zuversicht in eine Sackgasse führen wird.
Fraglich ist damit nicht nur, wie lange man als Regierungsmitglied noch guten Gewissens für ein „Week-end au Luxembourg, un pays épargné par le confinement“ werben kann. Es darf auch bezweifelt werden, ob das Land seinen „Marathon“ so durchziehen wird, wie ihn der Premier erst vor vier Tagen stolz skizziert hatte. Und nicht zuletzt, ob die Regierung sich der Verantwortung entziehen kann, dass sie ihren Vorsprung der letzten Wochen mit ihrer schwedisch angehauchten Strategie selbst verspielt hat.
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