Hohe Infektionszahlen, Personalmangel, Burnout-Risiko: Luxemburgs Krankenhäuser befürchten eine Überlastung des Systems. Während die neue Covid-19-Welle für die Kliniken erst begonnen hat, sind die Notärzte des CHL schon jetzt am Limit. Eine Reportage aus der Intensivstation.
Freitagmorgen auf der Intensivstation des Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL): Die Betten sind beinahe vollständig belegt. „Ich habe Angst, dass es nicht reicht, was wir tun. Angst, dass Menschen sterben, die ohne Überbelastung der Station hätten gerettet werden können“, sagt Christophe Werer. Der Chefarzt der Intensivstation kommt gerade aus einer Krisensitzung. Seine Sätze sind klar, wohl überlegt und unmissverständlich. Seine Abteilung befindet sich bereits an der Grenze der Belastbarkeit. Ein Blick aus dem Fenster: „Und da draußen läuft alles weiter, fast wie in normalen Zeiten.“
18 Betten stehen auf der Intensivstation im CHL. Neun sind bereits heute, an diesem Freitag, 30. Oktober, mit Covid-19-Patienten besetzt. Im Durchschnitt bleiben die Patienten drei bis vier Wochen. Hinzu kommen an diesem Tag sechs weitere Patienten. Herzinfarkt, Autounfall, Komplikationen nach einer OP: Es gibt viele Gründe, warum Menschen auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Noch sind drei Betten frei. Sie könnten am nächsten Morgen allerdings bereits belegt sein.
„Da kann man schon nervös werden“, sagt Jeff Klein, der gerade seinen Bereitschaftsdienst angetreten hat. „Wir gehen davon aus, dass die zweite Welle viel schlimmer wird als die im März“, sagt der Intensivmediziner. Die Infektionszahlen seien heute deutlich höher als noch im Frühjahr. Doch die Maßnahmen, um gegen die Verbreitung des Virus vorzugehen, seien heute längst nicht so konsequent, meint der gelernte Anästhesist.
Auf dem Weg zum nächsten Lockdown
Hinzu kommt eine allgemeine Pandemiemüdigkeit. Im Krankenhaus, aber auch in großen Teilen der Gesellschaft. „Ich verstehe ja, dass nicht wieder alles zugemacht werden soll“, sagt Jeff Klein. „Die Wirtschaft“, sagt er, stockt ein paar Sekunden und fährt fort: „Ich bin sehr pessimistisch, dass wir einen zweiten Lockdown vermeiden können.“
Als am 16. März der erste landesweite Lockdown begann, lag auf der Intensivstation des CHL ein einziger Covid-19-Patient. Zwei Wochen später, am Tag der höchsten Auslastung, waren es 13. „Wir waren nicht ansatzweise am Limit, konnten sogar Patienten aus Frankreich aufnehmen“, erinnert sich Jeff Klein.

Es scheint, als spreche er aus einer anderen Epoche. Damals, als die Panik groß und die Angst vor einer Katastrophe überall präsent war. Damals, als die Menschen abends applaudierten und auch Mal ein Stück Kuchen oder Schokolade im Briefkasten steckte. Als Dankeschön für den Einsatz an vorderster Front.
Damals, als sich letztlich herausstellte, dass die Krankenhäuser die Situation im Griff haben. Allerdings auch nur, weil die Regierung wie in anderen Ländern massenweise medizinisches Material bestellte, das öffentliche Leben per Lockdown weitgehend stilllegte und die erste Infektionswelle somit gebrochen werden konnte.
Entscheidung über Leben und Tod
Die Mitarbeiter der Intensivstation erinnern sich noch an die große Solidaritätswelle im Frühjahr. Heute herrscht aber eine andere Stimmung. „Der ‚Superhero of the Nation‘-Effekt ist definitiv nicht mehr da“, sagt der Intensivarzt Jean Reuter. Hätte er noch mehr Energie übrig, könnte er sich furchtbar aufregen über all die Verharmloser, die Partygänger, die Corona-Leugner. „Dieses Virus ist unberechenbar. Es kann jeden treffen“, sagt der in der Wiederbelebung spezialisierte Mediziner und wird ernst. „Wir haben einen Covid-Patienten, der ist 37 Jahre alt. Keine Vorerkrankungen“, präzisiert er. „Dieser Patient würde sterben, wenn wir ihn nicht auf der Intensivstation behandeln könnten.“

Eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen, gehört für jeden Intensivmediziner zum Berufsalltag. Wie viel Therapie ist nötig und möglich? Wieviel Therapie ist medizinisch zu verantworten, welche ethisch vertretbar? Das sind Fragen, die sich auch Jean Reuter, Jeff Klein, Christophe Werer und all die anderen Ärzte hier im „Service de Réanimation – Soins intensifs“ des CHL immer wieder stellen.
„Aus medizinischen Gründen kann ich diese Entscheidungen treffen“, sagt Jean Reuter. „Ich will sie aber nicht aus einem Mangel an Kapazitäten treffen müssen. Zwei Patienten, aber nur noch ein freies Bett: Diese Situation müssen wir unbedingt vermeiden.“
Jean Reuter geht jetzt nach Hause. Zu seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern. Sein Bereitschaftsdienst war heute wieder einmal länger als 24 Stunden. „Ich liebe meine Arbeit“, sagt er, die Überstunden und hohe Belastung, damit käme er klar. „Die Leidtragenden sind meine Familie“, sagt er. „Ich bin fast nie da, und wenn, dann müde und erschöpft. Und in Gedanken sowieso im Krankenhaus.“
Angespannte Personalsituation
„Ich weiß nicht, wie lange wir das noch durchhalten“, sagt Frank Gils, der Leiter des 80-köpfigen Intensivpflege-Personals. „Wir sind müder als beim ersten Mal, körperlich und psychisch. Wir wissen, was uns erwartet. Wir wissen aber auch, was uns blüht“, sagt er und legt die Stirn in Falten. „Meine Angst ist, dass immer mehr Pflegekräfte ausfallen werden.“

Gerade für die Intensivstation sei es schwierig, schnell Ersatz zu finden. Die hohen psychischen Anforderungen, das technische und medizinische Fachwissen, die Unvorhersehbarkeit. Viele Menschen seien dem Stress auf einer Station, die auch ohne Pandemie kaum planbar sei, nicht gewachsen, betont Frank Gils. „Das Personal ist unsere Achillesferse“, sagt er besorgt. „Fallen Leute aus, müssen die anderen das auffangen.“
Dass auch im Krankenhaus Personal erkrankt und vorübergehend ausfällt, ist dabei nicht außergewöhnlich. Doch in den vergangenen Wochen haben das CHL und auch die „Hôpitaux Robert Schuman“ (HRS) in Kirchberg verstärkt mit den unmittelbaren Folgen der neuen Pandemie-Welle zu kämpfen. In den Kliniken der HRS waren vergangene Woche mindestens 22 Mitarbeiter positiv auf Covid-19 getestet worden und weitere 30 in Quarantäne. Beim CHL sind die Zahlen vergleichbar hoch. Vor zehn Tagen fielen 30 Angestellte wegen einer Coronavirus-Infektion aus, rund 60 weitere waren in Isolation.
Neue Welle ist noch nicht angekommen
Kombiniert mit den konstant hohen Infektionszahlen im Land und steigenden stationären Behandlungen führte diese Situation dazu, dass die Krankenhäuser mittlerweile wieder ihre Aktivitäten auf Covid-19-Fälle ausrichten. Wenn es nach den Einschätzungen der Mitarbeiter auf der Intensivstation des CHL geht, werden die Kliniken auch bald wieder in die nächste Krisenphase schalten müssen. Denn die neue Infektionswelle beginnt erst, sich in den Zahlen der Krankenhausaufenthalte niederzuschlagen.

Die Hälfte der Intensivstation sei bereits mit Covid-19-Patienten belegt, Durchschnittsalter 60 Jahre, beschrieb Jean Reuter Mitte vergangener Woche die Situation auf seinem Twitter-Account. All diese Patienten seien zwischen dem 14. und 20. Oktober positiv getestet worden. Zwischen dem 21. und 27. Oktober haben sich die Infektionszahlen im Land im Vergleich zur Vorwoche fast verdoppelt. „Vous voyez le mur qui nous attend? Le confinement, c’est pour quand?“, lautete der leicht zu verstehende Hilferuf des Intensivmediziners.
Schwer zu ertragende Machtlosigkeit
„Wir halten durch“, versichert Shirley Knobloch. Die Krankenschwester wirkt gelassen, trotz aktueller Ausnahmesituation. Sie erzählt, wie es ist, an Tagen auch mal nur eine einzige Pause von 15 Minuten zu haben. Wie ihr schwindelig wird, weil sie seit Stunden nichts gegessen hat. Wie ihre trockenen Lippen sie daran erinnern, schon ewig nichts mehr getrunken zu haben. Und wie sie sich den Toilettengang verkneift, um nicht die gesamte Schutzausrüstung aus- und dann wieder anziehen zu müssen. Shirley Knobloch lacht viel. Für den Job bräuchte man schon Humor, aber vor allem Charakterstärke und Fachwissen.

Plötzlich ist sie mitten drin. Am schlimmsten an der ganzen Situation sei, Menschen alleine sterben lassen zu müssen. Und Angehörigen das Abschiednehmen zu verweigern. „Wir können da nichts machen“, sagt sie, „es ist gesetzlich verboten.“ Shirley Knobloch ist anzumerken, wie sie diese Hilflosigkeit hasst. „Abschied nehmen zu können, gehört zum Trauerprozess dazu“, sagt sie. Sie spricht von Traumata, die sich meist erst Monate, manchmal Jahre nach dem Tod eines Angehörigen bemerkbar machten. „Wir können schon einiges auffangen, aber da sind wir machtlos“.
Infektionen und andere Gefahren
Die Betreuung von Covid-Patienten sei sehr zeitintensiv, erzählt Shirley Knobloch. „Beim Gefühl zu ersticken, bekommt jeder Panik.“ Da sei es wichtig, Menschen nicht allein zu lassen. Angst davor, sich selbst anzustecken, hat die Krankenschwester keine. Zumindest nicht im Krankenhaus. „Ich fühle mich nirgendwo so sicher, wie hier“, sagt sie und bestätigt damit die Aussagen aller ihrer Kollegen. Die Gefahr lauert „da draußen“.

„Wir sind alle besorgt, passen auf, dass wir uns nicht anstecken“, sagt Christophe Werer. „Ein Restrisiko vor allem in der Familie, bleibt schließlich immer.“ Hände waschen, viel Testen, Abstandsregeln befolgen. Es klingt wie ein Mantra.
Die Bilder aus italienischen Intensivstationen kommen ihm in den letzten Tagen verstärkt ins Gedächtnis. Menschen, die auf dem Boden in Krankenhausgängen liegen, eine leere Sauerstoffflasche neben sich. Das dürfe hier einfach nicht passieren. Der Chefarzt der Intensivstation spricht von Berufsethik und gesellschaftlicher Solidarität. Dann steht er auf und verschwindet durch die Tür. Christophe Werer wird gebraucht, wie so viele seiner Kollegen und Kolleginnen in diesen Tagen. Und das wird sich so schnell nicht ändern.
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