In Vittel pumpt der Lebensmittelkonzern Nestlé Grundwasser aus dem Reservoir der Bevölkerung und will die Bürger stattdessen über eine Pipeline versorgen. Dem Projekt droht nun das Aus. Proteste und Ermittlungen der Justiz bringen das System Nestlé zunehmend ins Wanken.

Die „Nestlé City“ Vittel gerät immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik: Nach der Ankündigung eines Gerichtsprozesses wegen „einseitiger Parteinahme“ im Sinne des Lebensmittelkonzerns nimmt die Politik nun mehrere zweifelhafte Entscheidungen im Sinne Nestlés unter die Lupe. Wie REPORTER in Kooperation mit Frontal21 (Deutschland) und Mediapart (Frankreich) berichtet, agierten in Vittel nicht nur Politiker, sondern auch Beamte und Wissenschaftler Jahre lang einseitig im Interesse des Konzerns.

Ein „Paukenschlag“, „revolutionär“, eine „Politik-Wende“: Umweltexperten und Aktivisten können ihre Freude kaum im Zaum halten. Die in Vittel geplante, dutzende Kilometer lange Trinkwasser-Pipeline wird aller Voraussicht nach nicht gebaut. Auch weitere Entscheidungen zugunsten Nestlés wie etwa Pump-Genehmigungen könnten fallen. In einer Experten-Sitzung Ende September hat sich die einflussreiche ostfranzösische Wasserschutzbehörde gegen die vom Lebensmittelkonzern beeinflusste Wasser-Politik in Vittel in Stellung gebracht – ein einmaliger Schritt.

„Vittel“ ist nicht gleich „Vittel“

An die Seite der Behörde gesellte sich die Präfektur, die sich vor wenigen Tagen in einer knappen Pressemitteilung zum Thema Grundwasser-Defizit in Vittel äußerte. Bei einer Bürgerbefragung seien zuletzt „zahlreiche Bedenken“ zur geplanten Pipeline laut geworden, hieß es. Zudem sei deren technische Umsetzung fraglich.

Aus diesem Grund habe man gemeinsam mit der Wasserschutzbehörde eine „alternative Lösung entwickelt, bei der die Ressourcen vor Ort besser genutzt“ werden sollen, so das Versprechen. Diese Lösung werde dann mit der lokalen Bevölkerung diskutiert. Mit Journalisten diskutieren wollte die Behörde das Thema offenbar nicht. Schriftlich eingereichte Fragen zur Rolle der Präfektur in der Vittel-Affäre ließ die Behörde unbeantwortet.

Eine Trinkwasser-Pipeline in ein Gebiet, aus dem als Mineralwasser deklariertes Grundwasser in großen Mengen in Plastikflaschen ins Ausland transportiert wird: Um zu verstehen, warum eine solche Idee überhaupt über Jahre intensiv diskutiert worden ist, braucht es ein wenig Hintergrundwissen. „Vittel“ ist nämlich nicht gleich „Vittel“. Während der Weltkonzern Nestlé vor Ort das Gros seines Mineralwassers in einer speziellen Mineralwasser-Schicht entnimmt, beliefert das Unternehmen vor allem den deutschen Markt aus der vom Austrocknen bedrohten Grundwasserschicht, dem Trinkwasser-Reservoir der Bevölkerung.

Um zu begreifen, warum auch dieser Fakt lange kein Kopfzerbrechen bereitete, hilft ein kleiner Exkurs in die französische Wasser-Politik. Während die Regierung in Paris die Richtung vorgibt, entscheiden auf regionaler Ebene die zum Umweltministerium gehörenden Wasserschutzbehörden und vor Ort lokale Wasserkommissionen. Dass französische Wasserschutzbehörden die lokale Politik in Frage stellen, kommt dabei äußerst selten vor. „Wir greifen nur ein, wenn die lokale Demokratie in Gefahr ist“, erklärte auf Anfrage Marc Hoelzel, Leiter der für Ostfrankreich zuständigen Wasserschutzbehörde. Der Fall Vittel sei „absolut nicht die Regel“.

„Späte Einsicht“ der Behörden

Seine Behörde habe festgestellt, dass die Wasserkommission in Vittel zwar insgesamt eine gute Arbeit geleistet habe. Beim Thema Trinkwasser-Pipeline sei aber eine „Blockade-Situation“ entstanden, so Marc Hoelzel. Weil, wie berichtet, die größten industriellen Wasser-Konsumenten vor Ort, „Nestlé Waters France“ und die Käserei „Ermittage“, ihre Grundwasser-Entnahmen nicht weiter senken wollten, sollte die Bevölkerung im Raum Vittel aus vielen Kilometer entfernten Nachbargemeinden mit zusätzlichem Trinkwasser versorgt werden. „Wir haben festgestellt, dass über dieses Szenario kein Konsens herrschte“, sagte Behördenleiter Hoelzel.

Während sich die Wasserschützer Jahre lang offen für die vor Ort entwickelte Idee der Pipeline zeigten, legten sie im Sommer 2018 ein Veto ein und kündigten an, das Projekt finanziell nicht mitzutragen. Das sei zwar „eine späte Einsicht gewesen“, gab Marc Hoelzel zu. Dass seine Behörde den Vorschlag zunächst mitgetragen habe, habe vor allen Dingen an den „optimistischen Prognosen“ des zuständigen Bergbauamtes zu gelegen, so der Behördenleiter.

Tatsächlich beschäftigte sich eine Bergbauamt-Studie aus dem März 2014 mit Szenarien für das Grundwasser-Defizit in Vittel. „Optimismus“ lässt sich darin jedoch kaum ausmachen. Im Fazit der Untersuchung steht vielmehr, dass es notwendig sei, überhaupt einmal herauszufinden, ob die Pipeline-Lösung von der Bevölkerung und der Wirtschaft angenommen werde und zudem praktikabel sei.

Weitreichende Verflechtungen

In dem Experten-Bericht machten die Wissenschaftler außerdem keinen Hehl daraus, dass ihre Forschungen von vornherein gelenkt wurden: Der (nur aus staatlichen Akteuren bestehende, Anm. d. Red.) technische Begleitauschuss habe von ihnen verlangt, „Wasser-Einsparungen bei der Industrie (Nestlé Waters und Käserei Ermittage) nicht zu berücksichtigen“. Ein hochrangiger Amtsmitarbeiter wird noch deutlicher: „Uns wurde ganz klar gesagt, das Szenario zu finden, bei dem am wenigsten Arbeitsplätze gefährdet werden.“

Der Studie des Bergbauamtes kam eine wichtige Rolle zu, diente sie doch der Vitteler Wasserkommission im Frühjahr 2016 als Grundlage für eine erste Entscheidung in Richtung Pipeline. Noch ein weiteres Element verwundert dabei schon auf den ersten Blick: Mitherausgeber der rund 100-seitigen Untersuchung ist die „Vigie de l‘eau“, ein Nestlé nahestehender Verein mit Sitz in Vittel. Vom 1,5 Millionen Euro großen Startkapital des auf das Thema Wasser spezialisierten Vereins kamen ein Fünftel, also stolze 300.000 Euro, vom Lebensmittel-Riesen aus der Schweiz.

Noch im Sommer 2016 von der Antikorruputions-NGO Anticor angezeigt, wird der Vigie bald vor dem Strafgericht in Nancy wegen „einseitiger Parteinahme“ der Prozess gemacht, wie REPORTER Ende August berichtete. Vorsitzender des Vereins war lange Zeit Bernard Pruvost, ein ehemaliger Nestlé-Manager. Auch dessen Ehefrau Claudie, langjährige Leiterin der Wasserkommission, muss sich bekanntlich bald vor Gericht wegen desselben Straftatbestands verantworten. Wegen Lobbyismus für Nestlé drohen beiden bis zu fünf Jahren Haft.

Nestlé gräbt Dörfern das Wasser ab

Während „Nestlé Waters France“ das anstehende Gerichtsverfahren bisher nicht kommentierte, sieht der Konzern offenbar den neuesten politischen Entwicklungen entspannt entgegen. Einen am Mittwochabend von REPORTER und Mediapart zugesandten Fragenkatalog ließ das Unternehmen zunächst unbeantwortet.

Bereits wenige Minuten nach der Veröffentlichung der Pressemitteilung der Präfektur versandte das Unternehmen stattdessen eine Meldung an andere Journalisten. Darin ließ Nestlé Waters France wissen, dass man die neue Lage nun eingehend analysieren werde. Das Unternehmen bekräftige sein Engagement bei der Suche nach einer nachhaltigen Lösung, verlautbarte Generaldirektorin Sophie Dubois. Gerne beteilige sich Nestlé bei der „gemeinsamen Suche eines neuen Ansatzes“ ganz im „Sinne des Grundwasserschutzes und der Zukunft der Region“.

Sophie Dubois erinnerte außerdem daran, dass der Konzern seit 2010 seine Grundwasserentnahmen in Vittel bereits um 26 Prozent reduziert habe. Dieser Wert solle bis kommendes Jahr auf 30 Prozent ansteigen. Was der Konzern verschwieg: Im selben Zeitraum hat Nestlé seine Entnahmen in einer anderer Wasserschicht der Region, dem Muschelkalk, um etwa dieselbe Menge erhöht.

Aktuell wartet der Konzern gar auf die Genehmigung einer weiteren Pumpstation. Das Problem auch dort: Der Muschelkalk, ein Oberflächengewässer, dient als Grundwasser-Reservoir mehrerer Nachbargemeinden Vittels. Weil aber auch hier die Ressourcen nicht ausreichen, war der Bürgermeister einer dieser Dörfer bereits mehrfach gezwungen, mit Tanklastern Wasser heranzuschaffen. Im vorigen Jahr kostete das die Bürger stolze 40.000 Euro. Nestlé offerierte dem Rathaus derweil mehrere Flaschen Vittel, zur kostenlosen Mitnahme für die Bevölkerung.

Den Einwohnern wird das Wasser abgedreht: Am Gemeindebrunnen in Vittel dürfen Bürger „maximal sechs Flaschen“ abfüllen. (Foto: Alberto Campi)

Zwei Bürgermeistern, die von diesen bisher unbekannten Entnahmen Nestlés betroffen sind, platzte jüngst der Kragen. In einem offenen Brief forderten sie im neuen Wasser-Plan von Vittel doch bitte endlich berücksichtigt zu werden, etwa durch eine neue Querverbindung zu bestehenden Entnahmestellen. Auch mehrere andere Bürgermeister der Region fanden zuletzt deutliche Worte. Mehrere erklärte Gegner des Pipeline-Projekts klagen, Drohanrufe erhalten zu haben. So hätten ihnen einflussreiche Amtskollegen angekündigt, den Gemeinden Zuschüsse zu streichen, sollten sie das Vorhaben nicht mittragen.

Absatzrückgang und Zahlenspiele

Die Lokalpolitiker berichten zudem von einer tumultartigen Sitzung im Departemental-Rat. „Schluss mit dem Kindergarten“, habe ihnen der Vorsitzende zugerufen. Das Image der Stadt Vittel und der Tourismus der Region stünden auf dem Spiel. Außerdem seien sie mitverantwortlich für den Rückgang des Absatzes der Marke Vittel in Deutschland um über 40 Prozent. Mehrere Nestlé-Mitarbeiter bestätigten diese Zahl. International sei die Marke um zehn Prozent eingebrochen.

Ein gut informierter Mitarbeiter der Firma, der anonym bleiben möchte, sprach von einem Wendepunkt für sein Unternehmen: „Die Stimmung hat zuletzt sehr gelitten, alle haben Angst.“ Im Übrigen seien die von Nestlé kommunizierten Zahlen falsch. Nicht 200 Arbeitsplätze hingen an den kritisierten Grundwasser-Entnahmen, sondern vielmehr 50, allerhöchstens jedoch 100.

Die Zahlen-Tricksereien Nestlés dürften auch die Wasserschutzbehörde interessieren. Bei der nächsten Vorstandssitzung der Behörde am 18. Oktober soll die neue Grundwasser-Strategie zur Abstimmung gestellt werden. Dass es überhaupt soweit kommen konnte, ist vor allem ein Erfolg der Bürger von Vittel. Seit vier Jahren engagiert sich das Kollektiv „Eau 88“ gemeinsam mit dem Umweltdachverband „Vosges Nature Environnement“ und den Verbraucherschützern von „Que choisir“ für eine gerechte Wasser-Politik in Vittel.

Die fachlich gut informierten Umweltschützer organisierten Demos mit bis zu 2.000 Teilnehmern, veranstalteten Info-Abende und schrieben unzählige Briefe an die Behörden. Viele ihrer Vorschläge wurden nun aufgegriffen. Was die anstehende Sitzung angeht, erklärten sich die Umweltschützer „wachsam“. Auch Behördenleiter Marc Hoelzel mahnte: „Das ist alles andere als eine Formalie.“ In dem Gremium würde schließlich „von verschiedenen Seiten Druck ausgeübt“. Neben staatlichen Akteuren und Bürger-Verbänden ist dort auch die Industrie vertreten.


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