Die Parteien versuchen den Neustart bei der Verfassungsreform. Das Parlament will das Grundgesetz nur punktuell ändern. Doch bereits jetzt zeigen sich große Lücken, etwa bei der Rolle des Großherzogs. Dadurch gerät das Ziel einer modernen Verfassung in Gefahr.
Die große Reform sollte das Grundgesetz an die politische Realität anpassen. Gar eine „moderne und zeitgemäße Verfassung“ daraus machen. Dieses Ziel ist jedoch in die Ferne gerückt. „Anfangs sagte ich mir, es wäre eine Rettungsaktion: Das meiste, was sich bereits in dem neuen Text befindet, wird einfach in die alte Verfassung eingefügt“, sagt Luc Heuschling.
Doch daran glaubt der Professor für Verfassungsrecht an der Universität Luxemburg inzwischen nicht mehr. Die Politiker könnten die Artikel der neuen Verfassung nicht einfach so in die alte Verfassung übernehmen. „Ich sehe keinen Politiker, der die Liste der Änderungsvorschläge im Parlament durchsetzen könnte“, sagt Luc Heuschling. Demnach werde Luxemburg „nie einen modernen Verfassungstext bekommen.“
Streit um 20 Artikel
Mars Di Bartolomeo (LSAP) trat vergangene Woche den Vorsitz des Verfassungsausschusses an, um zu retten, was zu retten ist. Im Gespräch mit REPORTER sagte er, dass die Abgeordneten versuchen, so nah wie möglich am Entwurf für eine neue Verfassung zu bleiben. Die Liste der Meinungsverschiedenheiten sei kurz.
Doch ganz so einfach ist es nicht: Recherchen von REPORTER zeigen, dass der Verfassungsausschuss sich bei knapp zwanzig Artikeln von insgesamt 132 nicht einigen konnte. Diese Artikel wurden demnach nicht als Änderungsvorschläge übernommen.
Chronik der Verfassungsreform
- 2009 legte Paul-Henri Meyers (CSV) einen ersten Entwurf für eine neue Verfassung vor.
- 2015 stimmten die Luxemburger mit Nein bei den drei Fragen des Verfassungsreferendums.
- Im April 2019 schickte Xavier Bettel (DP) einen Brief an die Parteien. Darin fragt er nach ihrer Position bezüglich eines einheitlichen Wahlbezirks.
- Drei Monate später nutzt Frank Engel (CSV) diesen Brief als Vorwand, um der überparteilichen Zusammenarbeit für eine neue Verfassung ein Ende zu setzen.
- Spätestens ab November verhandeln Regierungsparteien und CSV über einen neuen Kompromiss.
- Am 5. Dezember kündigt Alex Bodry (LSAP) an, man lasse die neue Verfassung fallen. Die Parteien hätten sich auf voraussichtlich 31 Verfassungsänderungen geeinigt.
Zudem birgt das punktuelle Vorgehen der Abgeordneten Risiken. Wird nur Punkt für Punkt am Text gefeilt, droht er, zusammenhanglos zu werden. Andere Artikel könnten schlicht vergessen werden. „Es ist die Verantwortung der Berichterstatter dafür zu sorgen, einen kohärenten und vollständigen Text vorzulegen“, erwidert Léon Gloden (CSV). Er ist Berichterstatter für das Kapitel zur Justiz.
Die Rolle des Großherzogs
Wie schwierig das Unterfangen wird, weiß jedoch auch der Jurist und Abgeordnete. Bereits jetzt zeigen sich Ungereimtheiten. Darauf angesprochen, dass nach aktuellem Stand der Großherzog formal das Recht behält, Geld zu drucken, lacht Léon Gloden. „Ich hoffe und nehme an, dass er das nicht mehr macht.“ Den entsprechenden Artikel werde die Kommission natürlich abschaffen. An anderer Stelle will die CSV jedoch an der jetzigen Verfassung festhalten.
Die Oppositionspartei stört sich hauptsächlich an der Bezeichnung des „Staatschefs“ im Entwurf der neuen Verfassung. Statt dessen sollte es wieder „Großherzog“ heißen. Zudem solle der Großherzog weiterhin das Recht behalten, das parlamentarische Jahr zu eröffnen und zu schließen. Großherzog Henri machte zuletzt 2001 von diesem Recht Gebrauch.
Für Léon Gloden ist es eine symbolische Geste, die man wieder einführen könnte. Die Realität soll also an die Verfassung angepasst werden. Um Platz für den Thron zu schaffen, musste 2001 das Podium des Parlamentspräsidenten aus dem Plenum getragen werden. Der Teppich unter dem Thron musste ausgebessert werden. Danach musste der Thron wieder dem Sitz des Parlamentspräsidenten weichen.
Bekenntnis zur EU fehlt
Auch in anderen Punkten ist ein Rückschritt zu erkennen. Der letzte Entwurf der neuen Verfassung enthielt ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union: Die Regierung sollte die Möglichkeit haben, Kompetenzen an die EU abzugeben. Außerdem wurde auf Empfehlung der Venedig-Kommission des Europarats ein Artikel zum Verhältnis zwischen internationalem und nationalem Recht eingefügt. Beides wurde nun wieder fallen gelassen.
Die Menschenrechte tauchten aber erst spät in der Debatte auf.“Luc Heuschling, Universität Luxemburg
Luxemburgs Mitgliedschaft in der EU ist durch das Fehlen der entsprechenden Artikel nicht in Gefahr. Dennoch offenbart dieser Punkt, dass die Verfassungsrevision ihr eigentliches Ziel verfehlt: die Machtverhältnisse im Staat zu regeln.
Sinn und Zweck einer Verfassung
Eine Verfassung solle im Idealfall zusätzlich zu der Regelung der Machtverhältnisse ein Projekt für die Gesellschaft schaffen und die Organisation des Staates festhalten, sagt Luc Heuschling.
Grund- und Menschenrechte könnten etwa ein solches Gesellschaftsprojekt darstellen. „Diese tauchten aber erst spät in der Debatte auf“, so der Verfassungsexperte. In den jetzigen Änderungsvorschlägen wurden sowohl das Recht auf Asyl als auch die Forschungsfreiheit fallengelassen.
Laut Léon Gloden sind die Parteien sich jedoch beim Prinzip einig; der Ausschuss müsse nur noch den Wortlaut überarbeiten. Gleiches gilt für den Kampf gegen den Klimawandel – bis jetzt der einzige Vorschlag, der nicht bereits im Entwurf für eine neue Verfassung enthalten war.
Anspruch einer modernen Verfassung verfehlt
Ein Großteil der Artikel des Entwurfs der neuen Verfassung soll nun in die Reform einfließen. Etwa zwanzig Punkte hat der Ausschuss nicht übernommen. Unter anderem wurde in diesen Artikeln die Organisation des Staatsrats und der Berufskammern festgelegt. Für weiteren Konfliktstoff zwischen den Parteien wird auch die Reform des Wahlgesetzes sorgen. Sollte all dies wieder zur Diskussion stehen, ist unklar, ob diese Verfassungsänderung überhaupt noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird. Zur Erinnerung: Offiziell diskutiert das Parlament seit April 2009 über eine umfassende Verfassungsreform.
Die geplante neue Verfassung wurde dem Anspruch an ein modernes Grundgesetz nicht gerecht. Das Parlament hätte die Machtverteilung klarer regeln müssen. Die Menschenrechte gingen kaum über die bereits existierenden Rechte in internationalen Verträgen hinaus. Die Organisation des Staates sollte größtenteils über Gesetze festgelegt werden. Die nun geplante punktuelle Reform bleibt durch die fehlenden Artikel noch hinter diesem Entwurf zurück.