Seit dem Rückzug der USA und der türkischen Offensive in Nordsyrien ist die Sicherheitslage im Nahen Osten äußerst fragil. Insbesondere der Islamische Staat kann davon profitieren, sagt der Terrorismusexperte Mattia Caniglia. Ein Gespräch über Sicherheitsrisiken, Radikalisierung und die neue Strategie des IS.
Interview: Charlotte Wirth
Vor knapp zwei Wochen hat die Türkei eine Offensive gegen die autonomen Kurden in Nordsyrien gestartet. Was ist der Hintergrund?
Die derzeitige Offensive soll dazu dienen, die kurdische Miliz von der Grenze mit der Türkei zu entfernen. Für die Türkei sind die autonomen Kurden Terroristen. Die dortige Regierung macht keinen Unterschied zwischen dieser Gruppe und der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK, die tatsächlich auch von den USA und der EU als Terroristengruppe eingestuft wird. Die Ankündigung Donald Trumps, die US-Truppen aus Nordsyrien abzuziehen reichte aus, damit die Türkei den Vorstoß wagte. Erdogan möchte eine Pufferzone von rund 32 Kilometern an der Grenze mit Syrien schaffen und diese somit militärisch sichern. Zudem sollen die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge, die die Türkei im Rahmen des Syrienkrieges aufgenommen hat, dorthin umgesiedelt werden.
Wie wirkt sich die Situation auf die Sicherheitslage in der ohnehin schon zerbrechlichen Region aus?
Es entsteht ein Machtvakuum. Und das wird jetzt durch Iran und Russland gefüllt. Russland will seinen Einfluss in der Region, und bis ans Mittelmeer ausbreiten. Die Türkei will nicht nur verhindern, dass die Kurden einen autonomen Staat gründen. Sie will bis nach Syrien vordringen und unter anderem auch Gas und Wasservorkommen in Syrien kontrollieren. Letztlich will sich die Türkei aber als Großmacht im Nahen Osten festigen. Und inmitten der Konflikt- und Krisensituation im Nahen Osten spitzt sich auch Irans Stellvertreterkrieg gegen Israel in Syrien und dem Libanon weiter zu. So kann der Iran von den Spannungen profitieren, um Israel unter Druck zu setzen.
Und dann haben wir noch die Terrormiliz Islamischer Staat. Sie wird alles daran setzen, jegliche Versuche, die chaotische Lage in Syrien und dem Irak zu stabilisieren, zu boykottieren.

Hatte Donald Trump nicht im April nach der Schlacht von Bhaguz behauptet, der Islamische Staat sei besiegt?
Das ist natürlich nicht der Fall. Der IS hat den Fall von Baghuz lange im Voraus vorbereitet. Die Terrorgruppe hat ihre Strategie längst gewechselt. Die Gruppe funktioniert jetzt als ausgeklügeltes, globales Netzwerk und bevorzugt eine asymmetrische Kriegsführung.
Der IS hatte eine territoriale Identität. Nun hat er eine globale Identität.“
Der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi hat in den letzten sechs Monaten zwei Audionachrichten veröffentlicht. Darin beschreibt er die neue Taktik der Gruppe. Ziel ist es, sich weiter auszubreiten. Der IS hatte eine territoriale Identität. Nun hat er eine globale Identität. Seit dem Fall von Bhaguz haben wir weltweit 15 Videos gesehen, in denen IS-Ableger al-Baghdadi Treue schwören. In vier Videos handelt es sich um neue Ableger. Und das in Gegenden, in denen die Terrorgruppe zuvor gar nicht aktiv war: Zentralafrika, Pakistan, Indien und Türkei. Auch Häufigkeit und Umfang von IS-geführten Operationen nimmt weltweit zu. Insbesondere in Afrikas Sahel-Zone breitet sich der IS aus.
Wie hoch schätzen Sie das Sicherheitsrisiko bezüglich der IS-Kämpfer in kurdischer Gefangenschaft seit der türkischen Offensive ein?
Schätzungsweise 10.000 IS-Kämpfer sind zurzeit in kurdischer Haft. Darunter sind unseren Schätzungen nach rund 2.000 ausländische Kämpfer. Sie sind in Gefängnissen untergebracht. Jene IS-Mitglieder, die entkommen sind, waren jedoch in den beiden großen Flüchtlingslagern in Al-Hol und Ain Issa untergebracht. In den Camps sind zwar ausländische Rekruten, jedoch keine Kämpfer untergebracht. Dort leben vor allem die Angehörigen von IS-Kämpfern, also deren Frauen und Kinder. Soweit wir wissen, sind kurz nach der Offensive rund 800 Frauen und Kindern aus Ain Issa entkommen.
Wenn also weiter gekämpft wird, könnte es sein, dass weitere IS-Anhänger ausbrechen?
Die Kurden spielen diese Karte natürlich aus. Sie sagen: Wenn Europa und die westlichen Staaten zusehen, wie die Türkei gegen sie in den Krieg zieht, dann gibt es ein Problem. Dann müssen die Kurden ihre Gefängniswächter abziehen und sie an die Front schicken. Und das könnte zu weiteren Ausbrüchen führen. Bisher hat es aber noch keine großen Ausbrüche gegeben: Die Gefängnisse sind besser abgesichert, als die Camps. Doch der IS hat bereits angekündigt, die Männer aus den Gefängnissen befreien zu wollen. In seiner letzten Mitteilung hat sich al-Baghdadi direkt an die Gefangenen gewendet. Er sagte: „Eure Brüder haben euch nicht vergessen.“ Das war auch eine Nachricht an alle IS-Anhänger in der Region, die Gefangenen zu befreien.
Das Risiko ist also sehr real?
Ja. Wir haben in der Vergangenheit bereits erlebt, wie der IS seine Kämpfer befreit hat. 2013 etwa hat die Terrororganisation rund 500 Kämpfer aus dem Irak befreit. Doch auch die Lage in den Camps ist gefährlich. In al-Hol sind rund 70.000 Menschen untergebracht. Viele unter ihnen sind äußerst aggressiv und sehr radikalisiert. In den letzten zwei Monaten kam es etwa dreimal täglich zu Übergriffen durch radikalisierte IS-Mitglieder. Al-Hol könnte ein neues Bucca werden: Das Lager, in dem die Amerikaner während des Irak-Kriegs radikalisierte Milizen unterbrachten, gilt als Geburtsstätte des IS.
Und das könnte auch in al-Hol passieren?
Ja. Das Camp ist ein Ort, an dem Dschihadisten sich ganz in Sicherheit treffen, diskutieren und sich reorganisieren können. Und das, ohne sich vor US-geführten Luftangriffen oder anderen Attacken fürchten zu müssen. Dies und die insgesamt sehr instabile Lage in der Region um die Camps könnte dazu führen, dass der IS wieder an Boden gewinnt.
Wie schätzen Sie das Sicherheitsrisiko für Europa ein?
Für Europa ist das größte Risiko, dass ausländische Kämpfer entkommen. Bisher war die Haltung der europäischen Staaten sehr unreif. Sie wollten die Kämpfer den Kurden überlassen. Gibt es einen großen Ausbruch, so wissen wir, dass die Kämpfer die Möglichkeit haben, bis nach Europa vorzudringen. Sie könnten alte Zellen wiederbeleben oder neue Terrorzellen bilden: Die Terrorgefahr wird wachsen.
Die größte Gefahr ist zur Zeit jene, dass der IS von der instabilen Lage im Nahen Osten profitiert.“
Um welche Gefangenen handelt es sich?
Die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben nie öffentlich gemacht, welche Gefangenen, in welchen Gefängnissen untergebracht sind. Doch das ESISC hat es geschafft eine Liste der gefährlichsten Häftlinge zu erstellen. Unter ihnen sind mindestens zehn hochrangige und hochgefährliche IS-Mitglieder. Etwa der französische Staatsbürger Adrian Guihal, der die Verantwortung für die Attentate in Nice, St Etienne und Maganville übernommen hat. Oder noch der Schweizer Damien Grivat, der über die Terrorattacken in Paris Bescheid wusste: Er warnte seine Schwestern in Paris wenige Stunden vor den Übergriffen. Auch einige hochgefährliche belgische Kämpfer sitzen in den kurdischen Gefängnissen. Einer von ihnen ist Abdellah Nouamane. Er hat Belgien in mehreren Videonachrichten und anderen IS-Propagandaprodukten damit gedroht, „alles in die Luft zu sprengen“, sogar Spitäler und Schulen. Dennoch: Die größte Gefahr ist zurzeit, dass der IS von der instabilen Lage im Nahen Osten profitiert.
Der Fall des Steve Duarte
Auch der in Luxemburg aufgewachsene IS-Anhänger Steve Duarte ist in einem kurdischen Gefängnis untergebracht. Am Dienstag hat die Regierung die zuständigen Parlamentsausschüsse über die Sachlage informiert. Obwohl Steve Duarte portugiesischer Staatsbürger sei, müsse auch Luxemburg eine Verantwortung übernehmen, sagte Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng). Schließlich habe er sich hierzulande radikalisiert. REPORTER hatte bereits berichtet, dass ein internationaler Haftbefehl und ein internationales Rechtshilfeersuchen gegen Duarte ausgestellt wurden. Man will sich alle Mittel geben, um eingreifen zu können, falls sich Duarte nach Luxemburg absetzt.
Luxemburg arbeitet intensiv mit Frankreich zusammen, um die Lage zu überwachen. Frankreich setzt sich für einen internationalen Gerichtshof im Irak ein. Dort sollen die Täter nach internationalem Recht vor Gericht gestellt und später im Irak inhaftiert werden. Die Todesstrafe, die im irakischen Recht verankert ist, würde demnach nicht appliziert, betont der LSAP-Abgeordnete Marc Angel. Die Idee des Internationalen Gerichtshofs unterstützt auch Luxemburg. Unklar ist jedoch, ob sich genug Staaten von diesem Konzept überzeugen lassen, um den Vorschlag umsetzen zu können.
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