Seit dem Fall von Baghuz befinden sich Tausende Mitglieder des Islamischen Staats in kurdischen Lagern und Gefängnissen. Es droht eine humanitäre und sicherheitspolitische Katastrophe. Dass die westlichen Staaten die Verantwortung für ihre Staatsbürger von sich weisen, heizt die Lage weiter an.
Ende März gilt der Islamische Staat als besiegt. Bei der sogenannten Schlacht von Baghuz, nahe der Ortschaft al-Baghuz Fawqani im Osten Syriens, haben Truppen unter kurdischer Führung die letzte Enklave des IS eingenommen. Im Laufe der monatelangen Besetzung haben tausende IS-Anhänger sich den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) ergeben. Unter ihnen ist auch Steve Duarte, der sich 2014 von Luxemburg nach Syrien aufmachte. Einige IS-Anhänger hatten sich bis zuletzt mit Frauen und Kindern in Zeltlagern eingeschlossen.
Eine große Zahl der IS-Anhänger befindet sich heute in Nordsyrien, unter Kontrolle der kurdischen Selbstverwaltung. Hier warten tausende mutmaßliche Terroristen in improvisierten Gefängnissen auf ihr Urteil, während Frauen und Kinder in Lagern untergebracht sind.
Radikalisierte Männer, rund 50 von ihnen in einer Zelle, die alle frustriert sind und nichts zu tun haben: Es ist der perfekte Nährboden für eine weitere Radikalisierung und neue Attacken.“
Quentin Sommerville BBC-Korrespondent
Allein im größten Camp, Al-Hol, ist die Situation dramatisch. Hier sind rund 70.000 Frauen und Kinder auf engem Raum zusammengepfercht. Es fehlt an Wasser, Sanitäranlagen und medizinischer Versorgung, warnt die NGO Ärzte ohne Grenzen.
Der BBC-Korrespondent für den Mittleren Osten, Quentin Sommerville, beschreibt die Lage im Gespräch mit REPORTER als eine Mischung zwischen humanitärem Albtraum und einem enormen Sicherheitsrisiko. „Besonders viele der ausländischen Frauen in den Camps sind weiterhin sehr militant. Manche stecken die Zelte in Flammen und bedrohen jene, die sich dem Kalifat abwenden. Die Camps sind sehr dreckig. Viele Kinder sterben an Mangelernährung“, berichtet Sommerville.
Humanitäre und sicherheitspolitische Katastrophe
In den kurdischen Gefängnissen, in denen auch Steve Duarte untergebracht ist, ist die Lage nicht viel anders. Laut dem BBC-Korrespondenten sind die mutmaßlichen Kämpfer zumeist in umfunktionierten Schulen und anderen Gebäuden untergebracht. Die Situation gleiche einem Pulverfass: „Radikalisierte Männer, rund 50 von ihnen in einer Zelle, die alle frustriert sind und nichts zu tun haben: Es ist der perfekte Nährboden für eine weitere Radikalisierung und neue Attacken“, warnt der Journalist.
Die Kurden scheinen mit der Situation überfordert zu sein. Es fehlen finanzielle Ressourcen, grundlegende Infrastrukturen sind im ehemaligen Kriegsgebiet oft unzureichend. Und sie fühlen sich insbesondere von den westlichen Alliierten im Stich gelassen, die sich zumeist weigern, ihre Staatsbürger zurückzuführen. „Die Kurden sind fuchsteufelswild. Sie haben es satt, dass sie sich um den ‚western trash‘ kümmern müssen“, sagt Quentin Sommerville, der mehrmals in die Region gereist ist.
Laut den jüngsten Berichten der Vereinten Nationen und des US-Verteidigungsministeriums ist der IS zudem alles andere als besiegt, sondern hat sich viel mehr neu organisiert. Die Terrorgruppe mag ihr Kalifat verloren haben, funktioniert nun jedoch wie ein weitreichendes Netzwerk. Die USA beschreiben die Camps und Gefängnisse als „Inkubatoren für die nächste Generation an Kämpfern“, berichtet der Guardian.
Die kurdischen Alliierten sind demnach in einer misslichen Lage. Denn während es ihnen zufällt, das Sicherheitsrisiko einzugrenzen, handelt es sich bei der kurdischen Selbstverwaltung nicht um einen von der UNO anerkannten Staat. Zudem stehen die kurdischen Streitkräfte durch türkische Offensiven und die weiterhin instabile Lage in Syrien weiter unter Druck.
Keine Unterstützung durch westliche Alliierte
Im Westen gibt es derweil keine einheitliche Haltung, wie mit den IS-Anhängern umzugehen ist – auch weil Washington wider Erwarten keine Führungsrolle übernimmt. Mit den Kurden kann nicht über ihre Auslieferung oder Rückführung verhandelt werden, denn sie sind kein anerkannter Staat. Im Zweifel ist das verhasste Regime in Damaskus der Ansprechpartner. Doch die eigenen Staatsbürger zurückholen, wollen ohnehin die wenigsten. „Man versucht loszuwerden, wen man loswerden kann“, sagt Quentin Sommerville.
Die europäischen Gerichte sind besorgt, dass die Beweislage nicht reicht, um die Kämpfer festzusetzen. Die Straftaten nachzuweisen, wäre für sie sehr schwierig.“
Quentin Sommerville
Die europäischen Staaten bleiben insbesondere bei IS-Kämpfern hart. „Das Hauptziel der europäischen Regierungen ist, dass kein Kämpfer zurück nach Hause kommt“, so Sommerville. Staaten wie Frankreich, Belgien und Deutschland haben inzwischen vereinzelt Kinder zurückgebracht. Dänemark hingegen, will Kindern von dänischen IS-Anhängern den Pass verweigern und die Kämpfer ausbürgern. Auch Großbritannien weigert sich inzwischen, die Kinder britischer Staatsbürger zurückzunehmen.
Auch versuchen mehrere Länder IS-Anhängern mit doppelter Staatsbürgerschaft die Nationalität abzuerkennen. In Großbritannien machte etwa der Fall der Shamina Begum Schlagzeilen: London hatte ihr die Staatsbürgerschaft entzogen, um zu verhindern, dass die junge Frau, die als 15-jährige dem IS beitrat, zurückkommen kann. Doch ein solches Vorgehen steht rechtlich auf wackligen Füßen und verstößt möglicherweise sogar gegen geltendes internationales Recht, bestätigt der Völkerrechtsexperte Michel Erpelding.
Gleichzeitig wollen die meisten Staaten, allen voran Frankreich, ihre Kämpfer im Irak richten lassen. Dort verhängt die Justiz oft die Todesstrafe im Rahmen von Prozessen, die durchschnittlich wenige Minuten dauern.
Internationales Gericht unwahrscheinlich
Formell ist das nicht falsch, sagt Michel Erpelding. Da die Straftaten auf irakischem und syrischem Boden begangen wurden, haben sie das Recht, die Kämpfer zu richten – aber auch die völkerrechtliche Pflicht, ihnen faire Prozesse zu gewährleisten.
Die kurdische Selbstverwaltung fordert ihrerseits einen internationalen Gerichtshof, ähnlich wie zum Beispiel nach dem Genozid gegen die Tutsi in Ruanda. „Solche Gerichte entstehen nur in Ausnahmesituationen“, sagt Michel Erpelding. Aktuell unterstützt kaum ein Staat den Vorschlag der kurdischen Selbstverwaltung, zumal dieser mit erheblichem finanziellem und logistischem Aufwand verbunden ist.
Eine andere Option ist laut Erpelding ein hybrides Gericht, wie es etwa im Falle der Roten Khmer in Kambodscha aufgestellt wurde. Jene Länder, deren Staatsbürger vor Gericht gestellt werden, könnten eigenes Personal zur Unterstützung entsenden. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint allerdings keine dieser Lösungen absehbar.
Klar ist nur: Die meisten Staaten wollen verhindern, dass IS-Anhänger nach Europa zurückkehren. Denn wenn die IS-Anhänger tatsächlich in ihre Heimatländer zurückkehren, stellen sie ein akutes Sicherheitsrisiko dar. „Die europäischen Gerichte sind besorgt, dass die Beweislage nicht reicht, um die Kämpfer festzusetzen. Die Straftaten nachzuweisen, wäre für sie sehr schwierig“, sagt Quentin Sommerville.
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