Mit der Rückgabe seines Diploms scheint die Plagiatsaffäre für Xavier Bettel politisch ausgestanden. In der wissenschaftlichen Gemeinschaft rumort es jedoch. Renommierte Forscher der Universität Luxemburg üben scharfe Kritik am Umgang mit der Affäre.

„C’est choquant quoi“, kommentiert David Howarth die Schlussfolgerungen der beiden Experten, die im Auftrag der Université de Lorraine die Abschlussarbeit von Xavier Bettel überprüften. Das Plagiat sei „eindeutig“ und „auch ohne Software festzustellen“, so der Professor für Politikwissenschaft an der Universität Luxemburg im Gespräch mit Reporter.lu.

Geradezu „lächerlich“ findet der Wissenschaftler zudem den Vorschlag der Universität in Nancy, wonach der heutige Premier 22 Jahre später seine Quellen einfach nachreichen könne. „Würde Xavier Bettel die Stellen korrekt zitieren, wäre es umso offensichtlicher, dass er fast nichts in seiner Arbeit selber verfasst hat“, sagt David Howarth. In seiner Bewertung der Affäre geht der Politologe denn auch weiter als viele andere Beobachter. Bereits im November hatte er in einem Interview mit „Delano“ Luxemburgs Regierungschef den Rücktritt nahegelegt.

Anders als etwa in Deutschland, wo bereits mehrere hochrangige Politiker wegen Plagiatsaffären zurücktreten mussten, halten sich die Folgen für den Premier in Grenzen. Indem ihm seine ehemalige Universität erlaubte, dass er selbst entscheidet, ob er auf sein DEA-Diplom verzichtet, konnte sich Xavier Bettel vergleichsweise unbeschadet aus der Affäre ziehen. Ein Rücktritt stand in Luxemburg zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise zur Debatte.

Zwischen Politik und Wissenschaft

Dafür gibt es sicherlich mehrere Gründe. Einen grundlegenden Unterschied sieht der Rechtswissenschaftler Herweg Hofmann im Vergleich zwischen den Plagiatsaffären von Xavier Bettel und dem früheren deutschen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. „Es ist auch eine Frage, welche Erwartungen die Menschen an Politiker haben“, sagt der Dekan der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Universität Luxemburg im Gespräch mit Reporter.lu. „Xavier Bettel verkauft sich ja selbst nicht als großer Intellektueller. Im Gegensatz dazu hat Karl-Theodor zu Guttenberg während seines Amtes eine Doktorarbeit geschrieben und ist mit dem Titel danach hausieren gegangen.“

So erhält das Diplom auch eine grundlegend andere Bedeutung. „In Deutschland ziehen Politiker auch aus ihrem akademischen Titel Legitimität, dadurch wird dies auch zu einer politischen Frage“, sagt auch der Verfassungsrechtler Luc Heuschling. Heuschling spielte die Bedeutung der Plagiatsaffäre des Premiers schon früh herunter. „Im Recht gab es nicht immer diese großen Anforderungen, korrekt zu zitieren“, sagte der studierte Jurist im November im „RTL Kloertext“.

Mit dieser Einschätzung stand Luc Heuschling in der Luxemburger Forschungsgemeinschaft aber ziemlich alleine da. „Seit Anfang des 19. Jahrhunderts haben sich die wissenschaftlichen Kriterien nicht verändert“, sagte etwa der Politikwissenschaftler Philippe Poirier im vergangenen Oktober bei „Radio 100,7“.

DEA ist nicht gleich DEA

Ein Aspekt, der in der Debatte über Xavier Bettels 1999 eingereichte Abschlussarbeit immer wieder aufkam, ist die Frage, welche wissenschaftlichen Standards damals galten. Die Université de Lorraine begriff die nahezu komplett abgeschriebene Arbeit im Rahmen des „Diplôme d’études approfondies“ (DEA) als eine „Kompilation“, der lediglich die Fußnoten fehlten.

Der Fall von Pierre Gramegnas DEA-Abschlussarbeit in Europäischem Recht zeigt jedoch beispielhaft, dass diese Sichtweise höchst fragwürdig ist. In der mehr als zehn Jahre älteren Arbeit des ehemaligen Finanzministers konnte Reporter.lu nur kleine Zitierfehler, aber kein Plagiat nachweisen. Die Arbeit enthält etliche Fußnoten und eigene analytische Beiträge zur Forschungslage.

Beide DP-Politiker studierten allerdings an verschiedenen Universitäten. Xavier Bettel lieferte seine „Kompilation“ in Nancy ab, Pierre Gramegna schrieb seine DEA-Arbeit mehr als zehn Jahre zuvor in Paris.

Dabei zeigt sich jedoch, dass es auch zwischen den Forschungsdisziplinen wesentliche Unterschiede in der Betrachtung gibt. Während Rechtswissenschaftler der Affäre nur wenig Beachtung schenkten, sehen Politik- und Sozialwissenschaftler darin durchaus einen Skandal.

Scharfe Kritik an der Université de Lorraine

Auch Anna-Lena Högenauer, die die Arbeit von Xavier Bettel vor Publikation der Recherchen von Reporter.lu prüfen konnte, zeigt sich über die Entscheidung der Université de Lorraine nämlich äußerst überrascht. „Man kann eine milde Strafe verhängen, aber man sollte zumindest das Problem beim Namen nennen“, so die Professorin für Politikwissenschaft. Die Universität habe dagegen versucht, den Vorfall stark zu relativieren, indem sie etwa unterstrich, dass es sich nicht um eine publizierte Doktorarbeit handelt. „Man hätte aber genauso gut sagen können, es ist keine Bachelorarbeit, sondern eine weiterführende Forschungsarbeit“, sagt Anna-Lena Högenauer.

Es ist der Versuch, uns von etwas zu überzeugen, das eindeutig nicht wahr ist.“Josip Glaurdić, Politologe der Universität Luxemburg

In ihrem Fachbereich gibt es wenig Verständnis für das Vorgehen der französischen Universität. Einige Äußerungen der Verantwortlichen der Université de Lorraine, des Betreuers der Abschlussarbeit und der Gutachter könnten als bewusste Irreführung angesehen werden. „Es ist der Versuch, uns von etwas zu überzeugen, das eindeutig nicht wahr ist“, sagt etwa Josip Glaurdić im Gespräch mit Reporter.lu. Die Abschlussarbeit des Studenten Xavier Bettel sei ein Plagiat. „Diese Arbeit ist heute ein Plagiat und war es auch 1999. Es war schon immer ein Plagiat“, so der Professor für Politikwissenschaft der Universität Luxemburg.

Josip Glaurdić schließt sich denn auch seinem Forscherkollegen David Howarth an und bringt den Rücktritt des Premierministers ins Spiel. „Ich teile die Ansicht von Kollegen, die darauf hinweisen, dass ein Rücktritt die ethisch vertretbare Folge wäre“, so der Politikwissenschaftler.

„Es ist nun aber offensichtlich, dass die Affäre der politischen Klasse herzlich egal ist. Deshalb musste er ja auch nicht zurücktreten“, sagt David Howarth heute. Würde die Affäre auch politisch ausgeschlachtet, öffne sich allerdings eine Büchse der Pandora. „Xavier Bettel ist nämlich mit ziemlicher Sicherheit nicht der Einzige in dem Fall“, meint der kanadische Politikwissenschaftler.

Politische und andere Gesichtspunkte

Der eigentliche Skandal sei deshalb auch inzwischen, wie die Universität mit dem Vorwurf umging, sagt auch Josip Glaurdić. Auf Nachfrage will die Université de Lorraine weder die Namen der beiden Experten noch den vollständigen Bericht der Untersuchungskommission veröffentlichen. Der Universitätspräsident begründet diese Geheimhaltung mit dem in der Wissenschaft üblichen Peer-Review Verfahren. Für die Publikation von Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften überprüfen meistens mindestens zwei Gutachter anonym die Arbeit.

Allerdings handelt es sich hier um zwei unterschiedliche Vorgänge. „Bei manchen Plagiatsaffären in Deutschland wurden die Namen auch veröffentlicht, um mögliche Interessenkonflikte transparent auszuweisen“, sagt Anna-Lena Högenauer.

Die Universität in Nancy sollte sich auch fragen, welches Signal sie mit dieser Entscheidung an die eigenen Studenten sendet.“Anna-Lena Högenauer, Politologin der Universität Luxemburg

Durch ihre erstaunlichen Schlussfolgerungen steht nun allerdings die Glaubwürdigkeit der Universität auf dem Spiel. „Man kann klar erkennen, dass auf die Université de Lorraine Druck ausgeübt wurde. Diese Entscheidung wurde nach politischen Gesichtspunkten getroffen. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass das französische Hochschulministerium der Universität vermittelt hat, dem Freund des französischen Präsidenten nicht zu schaden“, sagt Philippe Poirier im Gespräch mit Reporter.lu. Der Inhaber des Lehrstuhls für parlamentarische Studien geht stark davon aus, dass dieses Ergebnis so vom Staatsministerium ausgehandelt wurde. Konkrete Belege für seine Aussagen gibt es jedoch nicht.

Unterschiedliche Nuancen, aber ein klarer Tenor: Forscher der Uni Luxemburg reagieren kritisch auf die Plagiatsaffäre von Xavier Bettel. (Foto: Mike Zenari)

Dennoch hinterlässt die Pressemitteilung der Universität bei einigen Experten einen bitteren Nachgeschmack. „Die Universität in Nancy sollte sich auch fragen, welches Signal sie mit dieser Entscheidung an die eigenen Studenten sendet“, betont Anna-Lena Högenauer. Doch auch für Professoren an der Universität in Nancy sei das Urteil nur schwer zu verdauen. „Ich habe auch mit Kollegen von der Universität in Nancy gesprochen, die diese Schlussfolgerungen kritisch sehen“, so Philippe Poirier.

In Luxemburg hat die Affäre indes schon gewisse Spuren hinterlassen. Seine Studenten seien wie vor den Kopf geschlagen gewesen, als sie von der Plagiatsaffäre hörten, erzählt Philippe Poirier. Dies wäre jedoch vermeidbar gewesen, wenn der Premierminister sein Diplom gleich zu Beginn und aus freien Stücken zurückgegeben hätte. „Man kann nicht gegenüber den Impfgegnern Alarm schlagen und sie ermahnen, auf die wissenschaftlichen Autoritäten zu hören, und andererseits durch sein eigenes Handeln diese untergraben“, kritisiert der Politologe.

Mangelnder Respekt vor Forschungsethik

In ihrer Vehemenz und Verurteilung der Affäre stehen die meisten Wissenschaftler der Uni Luxemburg ihren deutschen Kollegen also in nichts nach. Im öffentlichen Diskurs spielten die Akademiker jedoch eine geringere Rolle. Das sei auch durch ihre Anzahl zu erklären. An der Universität in Luxemburg sind lediglich sieben Politikwissenschaftler fest angestellt. „Jetzt haben sich fast alle von ihnen zu Wort gemeldet. Prozentual sind es also wahrscheinlich mehr als etwa in Deutschland“, bemerkt Anna-Lena Högenauer.

Die Universität in Luxemburg ist in gewisser Weise entkoppelt von der Luxemburger Gesellschaft.“Luc Heuschling, Rechtswissenschaftler

Dass Forscher in Luxemburg sich nur wenig über die Plagiatsaffäre äußerten, erklärt Luc Heuschling übrigens auch durch den gesonderten Status der Universität innerhalb der Gesellschaft. „Die Universität in Luxemburg ist in gewisser Weise entkoppelt von der Luxemburger Gesellschaft“, so der Verfassungsrechtler. Die Universität ist in der Tat noch nicht so im Land verankert wie in Staaten mit akademischen Traditionen, die zum Teil Jahrhunderte zurückreichen. Laut Luc Heuschling würden in Belval auch viele ausländische Professoren lehren, die sich nicht alle tiefgründig mit der Luxemburger Politik auseinandersetzen würden.

Für den Rektor der Universität Luxemburg spielt die Plagiatsaffäre denn auch offenbar keine Rolle. „Nach der Veröffentlichung der Schlussfolgerungen hat Xavier Bettel eine persönliche Entscheidung getroffen, die es zu respektieren gilt“, so das kurze Statement von Stéphane Pallage auf Nachfrage von Reporter.lu.

Für die meisten Wissenschaftler sei die Affäre in erster Linie ein Problem für die Université de Lorraine, meint schließlich Luc Heuschling. Die Universität in Luxemburg habe damit nichts zu tun. „Die Legitimität der Wissenschaft ist ja nicht dadurch infrage gestellt, dass jemand einmal erwischt wurde. Man würde das Rechtssystem ja auch nicht infrage stellen, wenn jemand bei einer Straftat erwischt wird“, so der Jurist. Man sollte auch den Einfluss der Politik auf die Wissenschaft nicht überschätzen. „Wir haben nicht auf Xavier Bettel gewartet, um den Studenten während ihres Studiums wissenschaftliche Methoden und korrektes Zitieren beizubringen“, sagt Luc Heuschling.

Wie die Politik mit der Affäre umging, sei trotzdem problematisch, sagt hingegen Philippe Poirier. Es zeige, welchen Stellenwert sie der Wissenschaft zumesse. Der Politologe geht sogar so weit und behauptet: „Die Politik verachtet die Wissenschaft.“ Die Wissenschaftler würden bei den Amtsträgern auch sonst oft auf taube Ohren stoßen. Die Reaktion von Xavier Bettel in der Plagiatsaffäre habe dies nun jedoch in ungeahnter Form untermauert.


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