Die Université de Lorraine hat entschieden, sich nicht klar zu entscheiden. Ihre Untersuchung bestätigt zwar in Teilen den Plagiatsbefund gegen Xavier Bettel. Gleichzeitig verteidigt die Universität den heutigen Premier – und das mit fadenscheinigen Argumenten. Eine Analyse.

Mehr als zehn Wochen brauchte die Universität, um rund 60 Seiten zu analysieren. Das Resultat, das die „Délégation à l’intégrité scientifique“ der Université de Lorraine am Dienstag veröffentlichte, ist ebenso bemerkenswert wie die Dauer der Untersuchung. Einerseits stellt sie fest, dass Xavier Bettels Abschlussarbeit aus dem Jahre 1999 teilweise als „eine Form von Plagiat“ angesehen werden könne. Andererseits handele es sich aber um ein „travail original de compilation de documents et de synthèse“.

Die Ausführungen der Universität sind vor allem angesichts des Ausmaßes des Plagiats überraschend. Zur Erinnerung: Recherchen von Reporter.lu im vergangenen Oktober hatten gezeigt, dass mehr als drei Viertel aller Wörter der Abschlussarbeit von Xavier Bettel für sein „Diplôme d’études approfondies“ (DEA) abgeschrieben wurden. Das „Tageblatt“ konnte Mitte November die achte – und somit bisher letzte Inspirationsquelle – für die Arbeit identifizieren. Obwohl der Befund und das Ausmaß des Plagiats auf Nachfrage von Reporter.lu bereits von unabhängigen Forschern bestätigt wurden, spricht die Universität jetzt nur von einzelnen Passagen, die betroffen seien.

Faktische Fehler und Versäumnisse

Im Detail kommen dabei Zweifel an der Seriosität der Untersuchung der Université de Lorraine auf. So erklärt zwar einer der beiden Forscher, die von der Universität mit der Analyse beauftragt worden waren, dass Teile der Arbeit als Plagiat gewertet werden könnten. Dabei beruft er sich auf zwei Werke, aus denen Xavier Bettel ohne Quellenangabe seitenlang (Zitat: „toutefois excessifs“) abgeschrieben habe. Ein weiteres Buch, aus dem fast ein Viertel der Abschlussarbeit kopiert wurde, wird in der Untersuchung jedoch mit keinem Wort erwähnt.

Wie oberflächlich die Untersuchung der Universität offenbar stattfand, spiegelt sich selbst in ihrer Pressemitteilung wider. Dort spricht die Université de Lorraine von einer DEA-Arbeit aus dem Jahr „1998“ (sic!). Dabei wurde die Abschlussarbeit erst 1999 eingereicht. Der Beleg dafür ist leicht anzuführen: In Xavier Bettels Abhandlung „Vers une réforme possible des modes de scrutin aux élections du Parlement Européen?“, geht es über weite Strecken um die Ergebnisse der Europawahlen von 1999.

Zweifelhafte Rechtfertigungen

Zudem betont der Bericht der Universität mehrmals, dass der Kontext der Arbeit sich über die Jahre geändert habe. Will heißen: Plagiate bzw. die wörtliche Übernahme von nicht zitierten Quellen seien zum Zeitpunkt von Xavier Bettels Studium üblich gewesen. „Vor mehr als 20 Jahren spielten Online-Recherchen eine geringe Rolle und es gab noch keine Plagiatsdetektoren“, sagt Professor Pierre Mutzenhardt auf Nachfrage von Reporter.lu. Der Präsident der Universität erklärt zudem, dass erst später gesteigerter Wert auf „korrektes Zitieren“ gelegt worden sei.

Dennoch räumt Pierre Mutzenhardt ein, dass Plagiate auch zur damaligen Zeit an der Universität von Nancy nicht erlaubt gewesen seien. Es ist eine Lesart, die auch andere unabhängige Forscher im Zusammenhang mit der Affäre immer wieder betonten. „Das direkte Übernehmen von Textpassagen ohne Kennzeichnung des ursprünglichen Autors war schon immer Plagiat“, sagte etwa die Politologin der Universität Luxemburg, Anna-Lena Högenauer, nach der Enthüllung der Plagiatsaffäre des Premiers im Interview mit Reporter.lu.

Letztlich scheint das Ausmaß des Plagiats die Universität jedoch nur bedingt zu interessieren. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen einer Doktorarbeit und einem DEA. Die Doktorarbeit ist eine wissenschaftliche Arbeit, die publiziert wird. Ein DEA hingegen sei nur ein Mémoire de stage“, eine erste „Forschungsübung“, so der Universitätspräsident. Niemand sei durch die Arbeit zu Schaden gekommen, „da sie kaum auffindbar ist“. Das ist allerdings nicht ganz korrekt, denn Xavier Bettels Arbeit ist in der Universitätsbibliothek hinterlegt worden und auf simple Nachfrage dort auch einsehbar.

Ein außergewöhnliches Angebot

Die Universität verteidigt jedoch nicht nur das Plagiat von damals, sie geht noch einen Schritt weiter: Würde der Premierminister die gleiche Arbeit mit korrekten Quellenangaben erneut einreichen, könnte er den DEA-Abschluss behalten, heißt es in der Pressemitteilung der Université de Lorraine. Damit fordert die Universität gewissermaßen zur rückwirkenden Genehmigung eines offensichtlichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens auf.

Auf Nachfrage erklärt Pierre Mutzenhardt, dass es auch kein Problem sei, wenn ein „Zitat“ sich ohne Unterbrechung über sechs Seiten hinziehen würde, wie das etwa in Xavier Bettels Arbeit der Fall ist. Dabei ist die Arbeit gerade einmal 56 Seiten lang. Auch diesen Schritt begründet die Universität damit, dass es sich nicht um eine veröffentlichte Doktorarbeit handele. Die damaligen wissenschaftlichen Standards würden das außergewöhnliche Angebot an den Autor rechtfertigen, so der Universitätspräsident.

Auf die Frage, inwiefern das seitenlange Abschreiben überhaupt als Nachweis einer wissenschaftlichen Eignung herhalten könne, antwortet Pierre Mutzenhardt: Es sei Ende der 1990er Jahre durchaus „eine akademische Leistung“ gewesen, „Quellen zu kompilieren“, da die passenden Texte erst ausfindig zu machen waren. Dies könne jedoch nicht über die objektiv mangelhafte Qualität der Arbeit hinwegtäuschen. Für seine schriftliche Arbeit, um die es in der Affäre geht, habe Xavier Bettel damals ein „Insuffisant“ (8 von 20 möglichen Punkten) erhalten.

Sehr viel Zeit für wenig Substanz

Angesichts des geringen Umfangs der Arbeit drängt sich jedoch auch die Frage auf, warum die Universität sich bei ihrer Untersuchung so viel Zeit ließ. Noch am Tag der Veröffentlichung der Recherche von Reporter.lu – Ende Oktober – gab die Forschungseinrichtung zwar bekannt, dass sie eine Untersuchung einleiten werde. Die eigentliche Analyse startete aber erst zwei Wochen später. Dann sollte der Bericht laut Angaben der Universitätsleitung „gegen Ende des Jahres“ 2021 abgeschlossen sein. Tatsächlich dauerte es aber noch weitere vier Wochen.

Die Dauer ist überraschend und im Vergleich mit anderen Plagiatsaffären im Ausland auch durchaus unverhältnismäßig. Die Universität Bayreuth konnte etwa innerhalb von einer Woche feststellen, dass es sich bei der fast 500-seitigen Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg um ein Plagiat handelte. Die Université de Lorraine benötigte dagegen mehr als zweieinhalb Monate für weniger als 60 Seiten. Die Erklärung laut Pierre Mutzenhardt: Man habe zuerst unabhängige Prüfer in dem Bereich finden müssen. Zudem musste die Arbeit erst noch digitalisiert werden. Vielleicht hätten auch „die Pandemie“ und „die langsamen französischen Prozeduren“ mitgespielt, meint der Präsident der Université de Lorraine im Gespräch mit Reporter.lu.

Schützenhilfe für den Premier

Mit ihrer fragwürdigen Vorgehensweise macht die Universität sich und ihre wissenschaftliche Integrität angreifbar. Gleichzeitig erlaubte sie ihrem früheren Studenten (den sie übrigens einen Tag vor der restlichen Öffentlichkeit informierte) einen gesichtswahrenden Ausweg aus der Affäre. Da die Untersuchung das offensichtliche Plagiat relativiert, konnte Xavier Bettel am Ende selbst entscheiden, wie er mit seiner Abschlussarbeit umgehen möchte.

In einer Pressemitteilung hat der Premierminister bereits angekündigt, dass er das Angebot, die Quellen nachzureichen, nicht annehmen und stattdessen auf sein Diplom verzichten wolle. Dadurch sollen „Zweifel an den Verdiensten des DEA ausgeräumt und ein Vertrauensverlust in die akademische Arbeit vermieden werden“, schreibt der Premier in seinem Statement, das kurz nach Veröffentlichung des Berichts der Universität verschickt wurde. Es ist eine Entscheidung, die der Universitätspräsident eigener Aussage nach übrigens bereut.

Xavier Bettel musste sich dabei gar nicht weiter rechtfertigen. Die Verteidigung des Premiers hatte zuvor schon die Université de Lorraine übernommen. Die beauftragten Forscher schreiben etwa immer wieder von einer „Kompilierung“ von Quellen oder Dokumenten. Es ist exakt die gleiche Formulierung, die auch der Premier schon vor Wochen bei einer Pressekonferenz gebrauchte. Er habe „nicht geschummelt und nicht getrickst“, sondern lediglich „eine Reihe von Punkten rechts und links zusammen kompiliert“.

Politische Aufarbeitung steht noch aus

Auch am Dienstag betonte Xavier Bettel erneut, dass es nicht seine Absicht war, jemanden zu täuschen. Die Entscheidung der Universität, eine reine „Kompilation“ ohne korrekte Quellenangabe und ohne wesentliche eigene Analyse des Autors als akademisch passabel zu bezeichnen, könnte ihr jedoch nachträglich noch selbst schaden. Die Gefahr, dass seine Universität in Teilen der Öffentlichkeit als Institution mit minderwertigen Qualitätsstandards angesehen werden könnte, sieht Pierre Mutzenhardt jedoch nicht. „Erstens haben wir die vorgesehene Prozedur für einen solchen Fall eingehalten. Zweitens handelt es sich nicht um eine wissenschaftliche Publikation und drittens kam niemand zu Schaden“, so der Präsident der Université de Lorraine.

Die politische Verteidigungsstrategie von Luxemburgs Regierungschef war allerdings schon vor der Publikation der Ergebnisse der Université de Lorraine klar. „Die Bürger bitte ich, nicht den Studenten Bettel von damals zu bewerten, sondern den heutigen Premierminister für die Arbeit, die er macht“, sagte Xavier Bettel im Interview mit „RTL“ zu Jahresbeginn.

Nun stellt sich nur noch die Frage, wie die akademische Gemeinschaft im eigenen Land die Sachlage einschätzt. Und auch die Opposition hatte angekündigt, sich erst nach der Untersuchung der Universität zu möglichen Verfehlungen des heutigen Premiers zu äußern. Während sich die Kritiker von Xavier Bettel bisher auffällig zurückhielten, könnte die politische Aufarbeitung der Affäre also gerade erst beginnen.


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