Die Justiz verwendet Daten über die Nutzung von Telefonen und Internet. Und das obwohl der Europäische Gerichtshof vor fünf Jahren feststellte, dass die Vorratsdatenspeicherung die Privatsphäre aller Bürger verletzt. Justizminister Felix Braz schiebt die Verantwortung auf andere.
Es ist früher Abend am vergangenen Donnerstag. Justizminister Felix Braz freut sich. Seine EU-Kollegen haben gerade in seinem Sinne entschieden. Die Europäische Kommission soll eine Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung prüfen, lautet der Auftrag der Justizminister. Luxemburgs Regierung fordert dies seit 2015.
Die EU-Minister wollen an dieser Überwachungsmaßnahme festhalten, obwohl der Europäische Gerichtshof (EuGH) 2014 die vorige Richtlinie für ungültig erklärt hatte. Der Grund: Die massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten verstoße gegen Grundrechte. Ein zweites Urteil des EuGH 2016 bestätigte das erste.
Mehrere Länder setzten die Vorratsdatenspeicherung nach den Beschlüssen des EuGH und nationaler Gerichte aus – so etwa in Deutschland. In anderen Ländern gab es Anpassungen. In Luxemburg ist dagegen nichts passiert. Im Gegenteil: Die „Police judiciaire“ greift weiterhin tausendfach auf die Daten zu.
Die Regierung wartet auf eine europäische Lösung – bisher vergeblich. „Die EU-Kommission hat in diesem Dossier versagt“, empört sich der grüne Justizminister im Gespräch mit REPORTER. Das Verschieben der Verantwortung auf die EU-Ebene heißt allerdings, dass der Staat tagtäglich die Grundrechte aller Bürger massenhaft missachtet. Und das könnte noch mehrere Jahre so weitergehen.
„Ein rechtswidriger Zustand“
Der EuGH kassierte 2014 die Vorratsdaten-Richtlinie, dieser Text ist demnach nicht mehr gültig. Das betrifft die nationalen Gesetze nicht direkt, diese bleiben in Kraft. Trotzdem verstoßen sie gegen die EU-Grundrechtecharta.
Die Mitgliedstaaten müssten die Vorratsdatenspeicherung laut der Entscheidung der europäischen Richter aussetzen. Luxemburg hat das nicht getan. „Das ist ein rechtswidriger Zustand“, betont Stefan Braum, Professor für Strafrecht an der Universität Luxemburg.

Justizminister Braz weist jegliche Verantwortung von sich. „Das ist ein europäisches Problem“, sagt er im Gespräch mit REPORTER. Tatsächlich geht die Massenüberwachung in der Mehrheit der EU-Länder weiter.
Luxemburgs Regierung verabschiedete im Januar 2015 einen Gesetzesentwurf, der die Vorratsdatenspeicherung an das erste Urteil des EuGH anpassen sollte. Doch mit dem zweiten Urteil 2016 wurde klar, dass selbst diese Anpassungen den Anforderungen der Richter nicht gerecht würden. Die Arbeit an diesem Entwurf versandete schließlich in der Justizkommission des Parlaments.
Justiz nutzt Vorratsdaten tausendfach
Die Vorratsdatenspeicherung ist in Luxemburg nicht nur weiter in Kraft, sondern das Instrument wird von der Justiz weiterhin massenweise eingesetzt (siehe Grafik). 2017 stellten die „Police judicaire“ und die Justiz insgesamt 4.759 Anfragen an die Telekomdienstleister, um Vorratsdaten zu erlangen. In knapp 4.000 Fällen erhielten die Ermittler auch tatsächlich Daten. Die Statistiken werden von der nationalen Datenschutzkommission CNPD erhoben. Die Zahlen für 2018 sind noch nicht verfügbar.
Dass diese Datenerhebung Grundrechte missachtet, stört die luxemburgische Justiz nicht. Die Zahl der Anfragen hat sich seit 2012 mehr als verdoppelt. Nur 2014 gingen sie leicht zurück – wohl aufgrund des ersten EuGH-Urteils.
Ist das viel oder wenig? Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, denn es fehlt an europaweiten Statistiken. Die Zahl der Anfragen ist je nach Land sehr unterschiedlich, stellte die EU-Kommission fest. Besonders häufig nutzen die britischen Behörden die Vorratsdaten: Sie geben an, bei einem „durchschnittlichen“ Mordfall 500 bis 1.000 Anfragen zu stellen.
Mord, Kindesmissbrauch, Finanzkriminalität
„Der Nutzen von Metadaten für die Justiz ist unbestritten“, betont der Justizminister. Tatsächlich schilderten die Luxemburger Behörden der EU-Kommission detaillierte Fälle, in denen Vorratsdaten für die Ermittlungen wesentlich waren.
Streng genommen ist die Nutzung von Vorratsdaten eine unzulässige Beweisaufnahme“Professor Stefan Braum
Es geht dabei um Mordfälle, den Vertrieb von Kinderpornografie und Finanzkriminalität. In einem Fall konnte die Justiz aufgrund der gespeicherten Verbindungsdaten die Kontaktaufnahme zu einem Auftragskiller beweisen. In einem Finanzbetrug wurden Investoren von Luxemburg aus Aktien angedreht, deren Kurs die Kriminellen dann manipulierten. Aufgrund der Vorratsdaten konnten die Täter aufgespürt werden. Allerdings konnte der Fall nicht vollständig aufgeklärt werden, weil manche der Daten bereits gelöscht worden waren. Die Speicherfrist beträgt in Luxemburg sechs Monate.
Hunderte Verhaftungen in ganz Europa gab es aufgrund eines Servers mit Kinderpornografie, den Ermittler in Luxemburg fanden. Die dort gespeicherten zehntausenden IP-Adressen gaben Hinweise auf Straftaten in zahlreichen Ländern.
Vorratsdaten könnten Gerichtsverfahren sprengen
Die Vorratsdatenspeicherung lebt weiter, weil sie für Polizei und Justiz sehr nützlich ist. Doch der andauernde Rückgriff auf diese Überwachungsmaßnahme ist für beide Seiten problematisch: Zum einen werden die Grundrechte der Verdächtigen verletzt. Zum anderen droht den Staatsanwälten, dass ihre Anklage platzt, weil sie auf Beweisen beruht, die rechtswidrig erlangt wurden.
„Streng genommen ist die Nutzung von Vorratsdaten eine unzulässige Beweisaufnahme“, erklärt der Strafrechtler Stefan Braum. Die Verteidigung könnte demnach die Daten anfechten, die angeben, wer mit wem kommuniziert hat oder welches Handy wo geortet wurde.
In der Praxis ist das allerdings schwierig. Während der Ermittlungen gelten sehr kurze Fristen, um Beweise als unzulässig zu beanstanden, erklärt der Strafverteidiger und Mitglied der Menschenrechtskommision Frank Wies. Auch im Gerichtsprozess gibt es hohe Hürden: Die Frage müsste an den Europäischen Gerichtshof verwiesen werden.
Luxemburg ist keine Ausnahme: Die Mehrheit der Mitgliedstaaten erwartete 2017, dass die Zulässigkeit von Vorratsdaten als Beweismittel nicht beanstandet werde, zeigt ein Bericht von Eurojust.
Alternativlose Massenüberwachung?
Europaweit betonten die Behörden, dass sie Vorratsdaten benötigen, um Terroristen und andere Schwerkriminelle zu fassen. Allerdings ist deren Nutzung in Luxemburg nicht auf schwere Straftaten beschränkt. Das Kriterium ist, dass Richter die Tat mit einer Höchststrafe von einem Jahr oder mehr ahnden können.
Diese Bedingung ist sehr lose: Als das Parlament 2010 über die Maßnahme diskutierte, kritisierte der damalige Oppositionspolitiker Xavier Bettel, dass 472 Straftaten darunter fielen – von der Vergiftung von Tieren bis zur Beleidigung von Abgeordneten. 2015 wollte die Regierung die Liste auf 33 Straftaten eingrenzen. Doch diese Änderung wurde nie beschlossen.
Die Vorratsdatenspeicherung und die Möglichkeiten, die der Zugang zu diesen Daten eröffnet, verletzten das Recht auf Privatsphäre auf nie da gewesene Art und Weise.“Felix Braz und Xavier Bettel im Jahre 2010
Kritiker der Vorratsdatenspeicherung bezweifeln, dass dieses Instrument für die Behörden unerlässlich ist. Häufig wird dabei das sogenannte „Quick Freeze“ als Alternative genannt. Die Idee: Sobald die Polizei von einer möglichen Straftat weiß, beantragt sie beim Provider alle Daten der Verdächtigen „einzufrieren“. Das sind Daten, die die Dienstleister sowieso speichern – etwa um ihren Kunden eine detaillierte Handyrechnung zu schicken. Das Problem ist allerdings, dass sie diese Daten innerhalb von Monaten wieder löschen. Das geschehe oft, ehe die Straftat entdeckt wird, so die Kritik der Behörden. Die CNPD betonte 2014, dass in Luxemburg die sechsmonatige Frist letztlich auf das gleiche wie ein „Quick Freeze“ hinauslaufe.
Wie geht es weiter?
Trotz allem wollen die EU-Justizminister an der Vorratsdatenspeicherung festhalten. Die Initiative geht auf Felix Braz zurück, der das Thema während des Luxemburger Ratsvorsitzes vor vier Jahren auf die Agenda setzte. Die EU-Kommission soll bis Ende des Jahres einen Bericht vorlegen, beschloss der EU-Rat am vergangenen Donnerstag. Erst danach könnte sie einen Entwurf erstellen. Selbst im besten Fall würde es aber noch Jahre dauern, bis eine neue Richtlinie in Kraft sein wird.
Zwar soll eine mögliche Neuauflage die Urteile des EuGH berücksichtigen. Doch wohin die Reise geht, ist zumindest für die Minister klar. Sicherheit kommt vor Freiheit, lautet ihr Motto: „Die Kriminalitätsbekämpfung ist ein Ziel von allgemeinem Interesse; sie dient dazu, die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten und die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, was eine Voraussetzung für den Schutz der Grundrechte ist“, heißt es in den Schlussfolgerungen des Ministerrates.
Einen solchen Satz hätte Felix Braz wohl noch vor neun Jahren nicht unterschrieben. Als die CSV-LSAP-Regierung 2010 erstmals die Vorratsdatenspeicherung in Luxemburg einführte, gaben sich der heutige Premierminister Bettel und sein Vize Braz als Bewahrer der Grundrechte. In einem von ihnen eingereichten Antrag hieß es damals: „Die Vorratsdatenspeicherung und die Möglichkeiten, die der Zugang zu diesen Daten eröffnet, verletzten das Recht auf Privatsphäre auf nie da gewesene Art und Weise.“
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