Es war eine Entscheidung, mit der niemand rechnete: Abgeordnete sollen ein Recht auf Einsicht in staatliche Verträge haben, entschieden die Verwaltungsrichter. Das Urteil sorgte für Streit unter den Parteien. Am Ende wird es aber die demokratische Kontrolle des ganzen Parlaments stärken.
Der Verwaltungsgerichtshof zündete vergangenen Dienstag eine institutionelle Bombe. Dem Abgeordneten Sven Clement (Piratepartei) gelang ein Überraschungssieg gegen Premierminister Xavier Bettel (DP). Die Richter entschieden, dass der Parlamentarier den Konzessionsvertrag zwischen Staat und RTL Group einsehen darf. Die Regierung hatte ihm dies mit dem Verweis auf die Vertraulichkeit des Dokuments verwehrt.
Der Hintergrund: 2019 gab es eine politische Debatte über die Frage, ob RTL den Vertrag respektierte, indem das Unternehmen einen Teil seines „Corporate Centers“ nach Köln verlagerte. Jener Teil der Konvention, der den öffentlich-rechtlichen Auftrag des Medienkonzerns behandelt, ist öffentlich. Ein Zusatzprotokoll zur Verankerung der RTL-Gruppe in Luxemburg ist dagegen geheim. Sven Clement verlangte Einsicht in dieses Dokument, um seiner Kontrollfunktion als Abgeordneter nachkommen zu können. Diesem Anliegen gaben die Richter vergangene Woche statt.
Tumultartige Szenen im Plenum
Sven Clement soll noch diese Woche alleine Einsicht in das Dokument erhalten. Das sagte der Abgeordnete im Gespräch mit Reporter.lu. Der Premier und Medienminister respektiere das Urteil natürlich, heißt es aus dem Staatsministerium. Aktuell würden die praktischen Details geregelt.
Doch das Urteil der „Cour administrative“ ist brisant. Im Parlament wurde heftig über die Frage gestritten, wie die Abgeordneten damit umgehen sollten. Am vergangenen Donnerstag kam es zu tumultartigen Szenen im Parlament. Klar ist: Die Parlamentarier wollen Einsicht in den kompletten Konzessionsvertrag zwischen dem Staat und RTL Group.
Die blau-rot-grüne Mehrheit lehnte einen entsprechenden Antrag des ADR-Abgeordneten Roy Reding dennoch ab. Dieser sei überflüssig, meinte der DP-Fraktionschef Gilles Baum – das gehe klar aus dem Urteil hervor. Am Donnerstag wird sich die „Conférence des présidents“ damit befassen. Die Piraten fordern, dass das Parlamentsbüro eingebunden werden soll, damit alle Parteien mitentscheiden können.
Anpassung der Parlamentsregeln
Es geht unter anderem um die praktische Umsetzung. Die Vertraulichkeit der Dokumente müsse gewährleistet sein, betonte Gilles Baum. Für die DP sei das der wichtigste Punkt. Für Aufregung sorgte allerdings der Antrag des DP-Abgeordneten Pim Knaff, wonach das Parlament die Regierung auffordern solle, die Umsetzung des Urteils zu analysieren. Gilles Roth (CSV) nannte das eine „juristische Häresie“. Die richterliche Entscheidung sei umzusetzen und das Parlament müsse sich eigene Regeln geben.
Das Wichtigste am Urteil ist für mich nicht der Zugang zu Verträgen, sondern, dass wir einen Schiedsrichter zwischen Regierung und Parlament gefunden haben.“Sven Clement, Abgeordneter
Der Antrag sei „unglücklich“ formuliert gewesen, meint die grüne Fraktionschefin Josée Lorsché auf Nachfrage von Reporter.lu. Es gehe lediglich darum, wie sich das Parlament organisiere. Unter anderem soll ein geeigneter Leseraum eingerichtet werden. Abgeordnete sollen den Text, wie etwa beim Entwurf des Freihandelsabkommens TTIP, lesen können, aber keine Notizen oder Fotos mit dem Smartphone machen dürfen.
Sven Clement fordert, dass das Parlament das eigene Reglement anpassen müsse, um die Dokumenteneinsicht formal zu regeln. Der Piraten-Politiker geht davon aus, dass das von ihm erwirkte Urteil allen Abgeordneten den Zugang zu weiteren vertraulichen Verträgen des Staates sichern werde. „Das Parlament wurde durch dieses Urteil gestärkt“, freute sich der Parlamentarier am Donnerstag im Plenum.
Interessenkonflikte im Parlament
Für zusätzliche Aufregung sorgte am Donnerstag, dass auch die Fraktionschefs von DP und LSAP zu den Anträgen bezüglich des RTL-Konzessionsvertrages Stellung nahmen. Gilles Baum und Georges Engel sitzen im Verwaltungsrat von CLT-Ufa, einer Tochtergesellschaft der „RLT Group“. Auch der frühere CSV-Fraktionschef Claude Wiseler ist Mitglied des Aufsichtsgremiums von CLT-Ufa. Er intervenierte jedoch nicht in der Debatte.
„Es wäre prinzipiell wohl besser gewesen, wenn ich mich dazu nicht geäußert hätte“, sagt Gilles Baum auf Nachfrage von Reporter.lu. Er erklärt seine Intervention durch die Hektik der Debatte. Die Fraktionschefin von Déi Gréng, Josée Lorsché, nennt das Vorgehen „heikel“. Die Grünen sind die einzige Fraktion der Mehrheitsparteien, die nicht bei CLT-Ufa vertreten ist. Bei der Abstimmung über den Antrag nahmen Gilles Baum, Georges Engel und Claude Wiseler nicht teil, ohne jedoch ihren Interessenkonflikt als Verwaltungsratsmitglieder öffentlich kundzutun. Die Geschäftsordnung des Parlaments sieht das prinzipiell vor – außer, es geht klar aus den Erklärungen der Abgeordneten über ihre finanzielle Interessen hervor.
Die „Cour administrative“ ist die letzte Instanz in Verwaltungsfragen, eine Berufung gegen die Entscheidung ist nicht möglich. Ob das Urteil allerdings zum Präzedenzfall wird und auf welche vertraulichen Dokumente des Staats es anwendbar ist, wird sich noch zeigen müssen. Es geht im Urteil der „Cour administrative“ nämlich nicht nur um den RTL-Vertrag, sondern um eine Reihe von grundsätzlichen Fragen: Welche Rechte hat ein Abgeordneter in der Kontrolle der Exekutive? Welche sind politische Entscheidungen der Regierung und welche sind Verwaltungsentscheidungen, die juristisch anfechtbar sind?
Grundsatzurteil stärkt Abgeordnete
Letztlich geht es aber auch um die Frage: Wie gestaltet sich die Gewaltenteilung zwischen Parlament, Regierung und Gerichten in der Praxis?
Fragt man den Verfassungsrechtler Luc Heuschling nach seiner Einschätzung des Urteils, beginnt er bei Montesquieu und dessen Verständnis der Gewaltenteilung. Für den französischen Philosophen sei es ganz klar gewesen, dass Richter die Exekutive nicht kontrollieren könnten oder sollten. Doch diese Sichtweise ist heute nicht mehr aktuell: Moderne Demokratien verstehen sich als Rechtsstaat. Im Prinzip gilt: Sofern eine Regierung eine Entscheidung trifft, die rechtlich begründet ist, muss ein Gericht sie überprüfen können.
Die Richter der „Cour administrative“ haben ein aktivistisches Urteil gefällt.“Luc Heuschling, Jurist und Verfassungsexperte
Dabei bezogen sich die Richter in erster Instanz durchaus auf die klassische Theorie der Gewaltenteilung: Das Verwaltungsgericht erklärte sich im Streit zwischen Clement und der Regierung für nicht zuständig. Das Verwehren der Einsicht in den Konzessionsvertrag sei ein „acte de gouvernement“, den Gerichte nicht zu bewerten hätten, hieß es noch im August 2020. Streitpunkte zwischen Parlament und Regierung müssten politisch geklärt werden – in letzter Instanz an der Wahlurne, argumentierten die Richter damals.
Der Anwalt Hicham Rassafi-Guibal wundert sich über den Bezug auf den Rechtsbegriff des „acte de gouvernement“. Es handele sich um ein veraltetes Konzept, das zudem in der Luxemburger Rechtsprechung nie allgemein akzeptiert gewesen sei, erklärt der Jurist der Kanzlei „Thewes und Reuter“ im Gespräch mit Reporter.lu. Der auf öffentliches Vertragsrecht spezialisierte Jurist geht in einem in Kürze erscheinenden Beitrag für die „Revue luxembourgeoise de droit public“ auf diese Frage ein.
Das Parlament als Teil des Staates
In zweiter Instanz kamen die Richter des Verwaltungsgerichtshofs allerdings zum Schluss, dass das Konzept des „acte de gouvernement“ nicht zur Anwendung komme. Es gehe nämlich nicht um eine politische Entscheidung. Der Medienminister habe vielmehr auf die Vertraulichkeitsklauseln des Konzessionsvertrages verwiesen. Die Frage sei demnach, ob ein Abgeordneter Vertreter des Staates sei oder im Sinn des Vertragsrechts als Drittperson zu gelten habe. Und dies sei keine politische, sondern eine juristische Frage, begründeten die Richter nun ihre Zuständigkeit.
„Dass der Vertreter der Regierung im Prozess das Parlament als Dritter gegenüber dem Staat ansieht, hat mich schockiert“, sagt der Kläger Sven Clement im Gespräch mit Reporter.lu. „Das hat etwas von Sonnenkönig: Die Regierung dekretiert: ‚L’Etat, c’est moi'“, so der Abgeordnete.

Zwischen den Zeilen des Urteils wird auch die Irritation der Richter gegenüber dieser Regierungsposition deutlich. „La lecture particulièrement réductrice des attributions d’un député“ durch die Regierung stehe im Widerspruch zur Essenz des demokratischen Staates, aber auch zur ursprünglichen Haltung des Ministers, begründen sie ihre Entscheidung. Xavier Bettel habe nämlich nie infrage gestellt, dass es einem Abgeordneten zustehe, Einsicht in Verträge zu fordern. Als Argument führte die Regierung nur die Vertraulichkeit an.
Der Verwaltungsgerichtshof kommt zum Schluss, dass Abgeordnete als Organ des Staates qua Amt Einsicht in Verträge und Konventionen des Staates haben – genauso wie Beamte und Minister. Die Parlamentarier müssten sich dann allerdings genauso an die strenge Vertraulichkeit der Dokumente halten.
Ein „Memorandum of Understanding“ zwischen zwei Regierungen wäre demnach ein anderer Fall. Zudem gilt in Frankreich etwa die Außenpolitik als klarer „acte de gouvernement“, für den Richter nicht zuständig sind. In Luxemburg werden wohl weitere Verfahren die Rechte der Abgeordneten näher abgrenzen müssen.
Ein neuer Schiedsrichter?
Das Urteil stellt darüber hinaus aber die Frage, wie Streitfälle zwischen Regierung und Parlament entschieden werden. In Deutschland ist für solche „Organstreitigkeiten“ das Bundesverfassungsgericht zuständig, erklärt der Verfassungsrechtler Luc Heuschling. Das Luxemburger Verfassungsgericht sei jedoch dafür ausdrücklich nicht zuständig, sondern ausschließlich für die Kontrolle von Gesetzen.
Wir leben in einem Rechtsstaat. Auch ein Oppositionsabgeordneter hat Rechte.“Gilles Roth, Abgeordneter
In diese institutionelle Leere ist nun der Verwaltungsgerichtshof vorgestoßen. Mit potenziell weitreichenden Konsequenzen, wie Luc Heuschling meint. „Die Richter der „Cour administrative“ haben ein aktivistisches Urteil gefällt, das die Verfassung sehr dynamisch auslegt“, sagt der Professor der Universität Luxemburg. Er sieht darin eine Stärkung der Opposition.
„Das Wichtigste am Urteil ist für mich nicht der Zugang zu Verträgen, sondern, dass wir einen Schiedsrichter zwischen Regierung und Parlament gefunden haben“, sagt Sven Clement. Er sei lange belächelt worden für seine Klage vor dem Verwaltungsgericht, die viele für aussichtslos gehalten hätten.
Am Donnerstag war aus den Reden der Opposition dann auch eine deutliche Genugtuung herauszuhören. „Wir leben in einem Rechtsstaat. Auch ein Oppositionsabgeordneter hat Rechte“, betonte etwa der CSV-Parlamentarier Gilles Roth. Wenn man das Urteil genau nimmt, dann stärkt dieses nicht nur die Opposition, sondern eben alle Abgeordneten. Die Vertreter der Mehrheitsparteien hielten sich mit rhetorischen Freudensprüngen jedoch noch stark zurück.