Die Lehre über die Einzigartigkeit der Shoah ist eine konstante Herausforderung. Hierzulande arbeiten die Schulen zudem oft mit veralteten Büchern, in denen Luxemburgs Rolle im Zweiten Weltkrieg kaum vorkommt. Neue Konzepte und didaktische Materialien sollen gegensteuern.
Die heute 20-Jährige Marie-Brufina Leshwange-Mokita gehörte damals noch zu den Kleinen ihres Lyzeums, als ihre Klasse Besuch von Schülerinnen und Schülern der Oberstufe bekam, die gerade von ihrer Reise nach Auschwitz zurückgekehrt waren. „Den Tag werde ich nie vergessen“, sagt Marie im Gespräch mit Reporter.lu. Die Älteren erzählten von ihrer Begegnung mit einem Zeitzeugen. „Während sie von dem alten Mann sprachen, hatten sie Tränen in den Augen und wir hingen an ihren Lippen“, erinnert sich Marie.
In diesen Tagen war wieder eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern in Auschwitz. Die Gelegenheit, einen Zeitzeugen zu treffen, hatten sie nicht mehr. Paul Sobol, der Holocaust-Überlebende, der die Schülergruppen aus Luxemburg jahrelang begleitet hatte, ist im November vergangenen Jahres gestorben.
Zeitzeugen gehen verloren
Dabei ist die Authentizität von Zeitzeugen schwer durch historische Fakten, Bücher oder Filme zu ersetzen. Doch nun, 82 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, muss Erinnerungsarbeit überwiegend ohne diese Unmittelbarkeit auskommen. Gleichzeitig hat die Geschichtsforschung in den letzten Jahren viele neue Kenntnisse hervorgebracht, besonders über die Rolle Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg.
Zeitliche Distanz einerseits und neue Forschungsergebnisse andererseits stellen die Geschichtsvermittlung vor große Herausforderungen. Diskussionen wie jene um die Vermischung der Opferkategorien bei einer Stolperstein-Verlegung in Junglinster, sowie Vergleiche zwischen den Corona-Maßnahmen der Regierung und der Judenverfolgung im Dritten Reich machen den Handlungsbedarf deutlich.
Mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geht es nicht mehr darum, die altbekannten und liebgewonnenen Narrative weiterzuvermitteln, die die Geschichte eines kleinen, wehrhaften Landes erzählen.“Zentrum fir politesch Bildung
„Wir brauchen eine konsequente Beschäftigung mit der Shoah in unseren Schulen“, sagt Mil Lorang, Autor des Buches „Luxemburg im Schatten der Shoah“, im Gespräch mit Reporter.lu. Der Nationalsozialismus sei ein perfektes Beispiel, um Schülern und Schülerinnen zu zeigen, was passiert, wenn humanistische und demokratische Werte umgekehrt würden. „Angesichts der verstärkten Präsenz radikalnationalen Gedankengutes, ist es unsere Aufgabe, Jugendlichen zu vermitteln, wie eine staatlich gewollte Umkehr der Werte stattfindet und welche Auswirkungen sie hat“, so Mil Lorang, der auch Vorstandsmitglied des Gedenkvereins „MemoShoah“ ist.
Schulische und politische Bildung
„Wir befinden uns in einer Umbruchphase“, sagt auch Marc Schoentgen. „Um die Generationen nach der Jahrtausendwende zu erreichen, brauchen wir ein Umdenken in alle Richtungen.“ Der Direktor des „Zentrum fir politesch Bildung“ ist sich der großen Herausforderungen bewusst, denen sich sowohl die schulische als auch die außerschulische Bildung in Bezug auf die Vermittlung der Shoah stellen muss. „Sobald dich eine Geschichte emotional berührt, dann willst du auch mehr über ihre Zeit wissen. Doch wir hören nicht gerne einem Lehrer zu, der vor uns steht und redet. Wir möchten selbst etwas machen“, beschreibt Marie die Haltung vieler ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.
Was junge Erwachsene tatsächlich über den Zweiten Weltkrieg, über den Holocaust und über Antisemitismus wissen, ist schwer in Erfahrung zu bringen. Mitte November wird „TNS Ilres“ eine Umfrage zum Wissen unterschiedlicher Altersgruppen über den Zweiten Weltkrieg und der mit ihr verbundenen Erinnerungskultur veröffentlichen. Doch bis heute existieren keine repräsentativen Daten darüber, welchen Stellenwert der Holocaust in Luxemburger Schulen hat.
Rudimentäres Grundwissen
Internationale Studien weisen jedoch darauf hin, dass das Wissen über den Nationalsozialismus bei den wenigsten Schulabgängern über eine rudimentäre Basis hinausgeht. In Österreich etwa kann laut einer Studie nicht davon ausgegangen werden, dass Abiturienten die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen hinreichend verstanden haben. Selbst bei der Vermittlung an den Hochschulen soll es einer Studie zufolge nicht viel besser aussehen. Lehramtsstudenten in Berlin ordnen den Holocaust demnach überwiegend nicht mehr als zentrales Thema des Geschichtsunterrichts ein.
Gleichzeitig jedoch widerlegt die Studie die weit verbreitete Übersättigungsthese, nach der es ein „Zuviel“ an Nationalsozialismus an den Schulen gebe. Die meisten Schülerinnen und Schüler (über 80 Prozent) geben an, sich einen intensiven Umgang mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu wünschen, und halten die Vermittlung der Geschichte der Shoah für wichtig. Allerdings müssen neue Mittel sowie aktuelle Bezüge gefunden werden, um vor allem jüngere Menschen zu erreichen. Junge Menschen, die meist keine familiären Verbindungen zur Zeit des Krieges mehr haben und darüber hinaus häufig über ganz andere Erfahrungshorizonte verfügen.
Die Autoren der Studie empfehlen deshalb eine stärkere Einbindung der Schüler und Schülerinnen in den Unterricht, konsequente Bezüge zur Gegenwart sowie eine generelle Steigerung des Lernumfangs. Bei 3.000 Jahren Geschichte in etwa sieben Schuljahren liegt auf der Hand, dass es ein schwieriges Unterfangen ist. Diskussionen über neue Schwerpunkte und Gewichtungen in der Geschichtsvermittlung und über Anpassungen im Schulmaterial kommen immer wieder auf. Einige Historiker fordern eine grundlegende Reform des Geschichtsunterrichts mit einer stärkeren Gewichtung auf der luxemburgischen Geschichte.
Luxemburger Lehrpläne
Mit dem Nationalsozialismus kommen Schülerinnen und Schüler zum ersten Mal im letzten Grundschuljahr in Berührung. „Danach kannte ich den Namen Adolf Hitler und wusste, dass unter seiner Führung schlimme Dinge passiert sind“, erinnert sich Marie. Im Sekundarunterricht dann soll sich das Thema wie ein roter Faden durch die Schullaufbahn ziehen, weshalb es nicht nur im Fach Geschichte auf dem Lehrplan steht, sondern auch in den Sprachen sowie in den ethischen und politischen Fächern „Vie et société“, „Education à la citoyenneté“ oder „Connaissance du monde contemporain“ behandelt wird. So steht etwa Paul Celans „Todesfuge“ auf dem Programm einiger Abiturklassen. Und bei der Behandlung politischer Systeme und Theorien wird der Nationalsozialismus als abschreckende Ideologie und als eine Gefahr für Demokratie und Unabhängigkeit behandelt.
Wie viel Gewicht die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und spezifischer jene der Shoah tatsächlich haben, bleibt jedoch die persönliche Wahl des Lehrenden. In Gesprächen mit Geschichtslehrern wird deutlich, dass die Intensität der Vermittlung stark vom Interesse des einzelnen Lehrers abhängt. Und dass sie sich nicht alleine auf die Schulbücher und Lehrpläne verlassen können.
Fehlender Bezug zu Luxemburg
Denn Luxemburger Lehrerinnen und Lehrer stehen noch vor einer ganz anderen Herausforderung: Es liegt größtenteils an ihnen selbst, den Bezug zur Geschichte des eigenen Landes herzustellen. Besonders im klassischen Lyzeum wird überwiegend auf ausländische Schulbücher zurückgegriffen, die die spezifische Geschichte Luxemburgs überhaupt nicht thematisieren. Hinzu kommt, dass es meist Jahrzehnte braucht, bis neue wissenschaftliche Erkenntnisse den Weg in die Schulbücher finden.

„Die zuständige Kommission passt die Schulprogramme ständig an neue Erkenntnisse der Geschichtsforschung an, Forschungsergebnisse können allerdings nur nach Bearbeitung und in schülergerechter Form und unter Anwendung pädagogischer Kriterien vermittelt werden“, heißt es hierzu aus dem Bildungsministerium. Es liege bei den Geschichtslehrern selbst, neue Forschungsergebnisse in ihren Unterricht mit einzubeziehen.
Fehlende Koordination
Das Ministerium empfiehlt ausdrücklich auch Besuche von Erinnerungsorten und Gedenkfeiern. Eine Leitlinie, welche Rolle Erinnerungskultur sowie die Aufarbeitung der Shoah in Luxemburger Schulen haben soll, gibt es allerdings nicht. Um die Verantwortung jedoch nicht alleine dem persönlichen Engagement der Lehrpersonen zu überlassen, befürwortet Mil Lorang etwa eine koordiniertere Herangehensweise. „Wir haben eine zentralisierte Unterrichtspolitik. Da müsste es doch relativ einfach sein, das Thema flächendeckend zu behandeln“, so Mil Lorang. „Material gibt es genug, allerdings braucht es hierfür einen klaren politischen Willen.“
Wir geben den Menschen ein Gesicht, eine Biografie, eine Komplexität, wir rekonstruieren ihre Leben, bevor sie zu Opfern wurden.“Denis Scuto, Universität Luxemburg
Sowohl Institutionen, wie die Universität oder das „Zentrum fir politesch Bildung“, aber auch zivilgesellschaftliche Vereinigungen zur Gedenkarbeit haben in den letzten Jahren verstärkt an neuen Instrumenten der Wissensvermittlung und an Materialien für Lehrende gearbeitet, die sich spezifisch auf die Situation in Luxemburg während des Zweiten Weltkrieges beziehen. Alle sind sich der großen Herausforderung bewusst, die die zeitliche Distanz und mit ihr der Verlust persönlicher Bezüge in der Geschichtsvermittlung mit sich bringen. Besonders in einer heterogenen Gesellschaft, wie der luxemburgischen, in der ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben und teils selbst mit Vertreibungen und Fluchterfahrungen konfrontiert wurden, seien multiperspektivische Ansätze wichtiger denn je.
Das Aufarbeiten von Einzelschicksalen
„Mehr als 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges geht es nicht mehr darum, die altbekannten und liebgewonnenen Narrative weiterzuvermitteln, die die Geschichte eines kleinen, wehrhaften Landes erzählen, das sich als Opfer eines brutalen Besatzungsregimes ab Mai 1940 geschlossen dem Nationalsozialismus entgegengestellt habe“, schreibt etwa das „Zentrum fir politesch Bildung“ in einer aktuellen Pressemitteilung zu neuem didaktischem Material. Historisch-politische Bildung solle zum Nachdenken über die Kriegsjahre anregen und das Gelernte und Erlebte mit der Gegenwart verbinden.
Zu diesem Zweck hat das „Zentrum fir politesch Bildung“ mit dem „Musée National de la Résistance et des Droits Humains“ in Esch/Alzette und dem „Musée National d’Histoire Militaire“ in Diekirch nun eine Box mit dem Namen „50 Faces – 50 Stories“ entwickelt. Sie enthält 50 Lebensläufe, die die Ereignisse aus den Jahren 1940-1945 widerspiegeln und unterschiedliche, auch widersprüchliche Perspektiven auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges erlauben. „Unsere Aufgabe ist es, unsere Geschichte aufzuarbeiten“, sagt Marc Schoentgen. Durch die Beschäftigung mit Einzelschicksalen könne diese nicht nur humanisiert, sondern auch in ihrer Komplexität dargestellt werden.
Digitale Möglichkeiten
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das „Luxemburg Centre for Contemporary and Digital History“ (C²DH) der Universität, das Geschichte mithilfe von digitalen Instrumenten einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. „Wir möchten das Gegenteil von dem tun, was die Nationalsozialisten gemacht haben“, erklärte der Vizedirektor des Instituts, Denis Scuto, auf einer Fachtagung am 18. Oktober. „Wir geben den Menschen ein Gesicht, eine Biografie, eine Komplexität, wir rekonstruieren ihre Leben, bevor sie zu Opfern wurden.“ Gerade bei der Sensibilisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen müsse Geschichte anhand von Geschichten einzelner Menschen vermittelt werden.
Marie begann sich für die Zeit des Nationalsozialismus zu interessieren, nachdem Mitschüler ihr die Geschichte des alten Mannes, der den Nationalsozialismus noch selbst erlebte, erzählt hatten. Ihrerseits möchte sie nun, dass die CNEL („Conférence nationale des Elèves du Luxembourg“), deren Sekretärin sie ist, sich verstärkt mit dem Thema beschäftigt. „Ich möchte zum Beispiel Ausstellungen über die Schülerreisen nach Auschwitz organisieren“, sagt sie. „Denn dann könnte es vielen so gehen wie mir.“


