Rechtsextremismus, Nahost-Konflikt, Verschwörungstheorien: Die Gründe für Judenfeindlichkeit sind vielfältig. Während die letzten Zeitzeugen des Holocaust verschwinden, kehren alte antisemitische Denkmuster zurück. Der Versuch einer Ursachenforschung.
Thomas Gergely hat das Lehren noch nicht aufgegeben. Mit Mitte Siebzig unterrichtet der Historiker weiter jüdische Geschichte an der Université Libre de Bruxelles (ULB). „Ich bin ein Kind der Shoah“, erzählt er, „doch Gott sei Dank kann ich mich an nichts erinnern.“ Gergely wurde 1944 in einem ungarischen Getto geboren. Auf die Frage, wo die Ursprünge des Antisemitismus liegen, beginnt er lebhaft zu gestikulieren.
„Es ist wie bei der Matroschka, der russischen Schachtelpuppe“, erklärt er. Laut des Direktors des Instituts für Judaismus an der ULB sind die vielfältigen Formen des Antisemitismus nur dann zu verstehen, wenn man deren Ursprünge kennt.
Der Professor legt Daumen und Zeigefinger aufeinander, formt mit der Hand ein Gerüst. „Am Anfang war der griechisch-römische Anti-Judaismus“, erklärt er. Anti-Judaismus daher, weil es anfangs um die Religion ging. Die Menschen jüdischen Glaubens wurden als gottlos angesehen, das Judentum als Aberglaube, da es sich so fundamental vom Polytheismus der antiken Großmächte unterschied.
Am Anfang war die Neurose
„Darauf stülpt sich jetzt die zweite Puppe“. Gergely schiebt eine Hand über die andere. So habe sich später, mit dem Aufkommen des Christentums und mit der Auseinandersetzung über die Frage nach der Göttlichkeit Jesu ein christlicher Judenhass entwickelt. Die Juden, die Jesus nicht als Messias angenommen haben, wurden demnach durch die Figur des Judas zum „Mörder Jesus“.
„Nun wurden die Juden zur Paria der Welt“, zu den Ausgestoßenen und sozial Ausgegrenzten. Um die erste Jahrtausendwende entstand dann die dritte Form des Judenhasses – eine weitere Puppe, die sich über die anderen stülpte: Mit der Entwicklung der modernen Geldwirtschaft war das Bild des ‚kapitalistischen’ Juden geboren.
2000 Jahre permanenter Hass verschwinden nicht einfach.“Thomas Gergely, Direktor des Instituts für Judaismus an der ULB
Bis dahin könne man jedoch nicht von Antisemitismus sprechen, erklärt der Historiker Joël Kotek, der ebenfalls an der ULB lehrt und sich umfassend mit jüdischen Feindbildern befasst. Kotek bricht den Unterschied zwischen Judaismus und Antisemitismus auf den Unterschied zwischen Neurose und Paranoia herunter. „Bis ins 11. und 12. Jahrhundert wurden die Juden für das gehasst, was sie waren, nämlich jüdischen Glaubens“, erklärt der Wissenschaftler.
Der Jude als Sündenbock
Dann hätte sich die Auslegung aber verändert. „Man machte aus den Juden die Verkörperung des ‚what went wrong’. Sie wurden zu universalen Sündenböcken, zur Inkarnation des Bösen“, so Kotek. Wurden Juden zuvor noch toleriert, wurden sie nun verfolgt. Ab diesem Moment spricht Kotek von Paranoia. Mit der Verfolgung wären jene Stereotypen und Feindbilder entstanden, die bis heute Bestand haben. Etwa der Blutmythos, die Idee der jüdischen Verschwörungen oder der Ritualmord von Kindern, der im Israel-Palästina-Konflikt heute wieder Thema ist – wenn auch in abgewandelter Form.
Ab diesem Zeitpunkt spreche man von Antisemitismus, auch wenn der Begriff erst viel später gebraucht wurde. Die Bezeichnung wurde erst im 18. Jahrhundert vom österreichischen Journalisten Wilhelm Marr eingeführt. „Das Problem war eigentlich soziologischer Natur. Die Gesellschaft brauchte einen Sündenbock. Die jüdische Gemeinschaft war die einzige Minderheit. Der Funke war gezündet.“
Ein kurzes Gedächtnis
Ab diesem Moment blieb der Jude die Verkörperung des „Anderen“, das Feindbild wurde lediglich an die gesellschaftlichen Entwicklungen angepasst. Im 19. Jahrhundert war das die Idee der Rasse. Thomas Gergelys vierte Puppe kommt ins Spiel.
Mit der Aufklärung haben auch die Juden sich emanzipiert. Gleichzeitig verlor die christliche Religion an Bedeutung. Man konnte die Juden demnach nicht mehr aufgrund ihrer Religion hassen. „Somit kommt die Rasse ins Spiel, als neues Mittel, um die jüdische Gemeinschaft zu marginalisieren“, schlussfolgert Joël Kotek.
Antisemitismus ist weder links noch rechts. Es ist eine Paranoia, die sich ins kollektive, westliche Gedächtnis eingebrannt hat.“Joël Kotek, Historiker
Die historisch gewachsene Paranoia mündete letztlich im Holocaust. Und bis heute sei sie nicht geheilt, warnt Thomas Gergely. „2000 Jahre permanenter Hass verschwinden nicht einfach.“ Gergely verweist einmal mehr auf die russische Schachtelpuppe. „Das Gerüst bleibt. Dass es nach der Shoah einige Zeit ruhig war, ist lediglich als Klammer anzusehen.“
Demnach bauen die heutigen Formen des Antisemitismus grundlegend auf diesem Gerüst auf. „Die Menschen haben ein kurzes Gedächtnis, und noch kurzlebigeres Schamgefühl. Jetzt, wo die Zeitzeugen langsam verschwinden und das Verständnis des Ausmaßes des Holocaust entweicht, kehren alte Denkmuster zurück.“
Wiederbelebung alter Stereotypen
Warum konnte der Antisemitismus nicht besiegt werden? Wie in der Geschichte gehören auch strukturelle gesellschaftliche Probleme zu den Auslösern für die Wiederbelebung alter Feindbilder. Europa sei in der Krise, folglich nehme auch die Feindschaft gegenüber Minoritäten zu, sagt Gergely. Ein neues Phänomen sei zudem, dass das Wiederaufkommen rechtsextremer Bewegungen durch sinkende Hemmschwellen in den sozialen Medien weiter befördert werde.
Beide Forscher betonen zudem, dass durch die Shoah mittlerweile oft vergessen werde, dass es nicht nur rechten, sondern auch linken Antisemitismus gebe. Auch die radikale Kritik am Kapitalismus könne sich schnell in Hass gegen Juden verwandeln. „Antisemitismus ist weder links noch rechts. Es ist eine Paranoia, die sich in das kollektive, westliche Gedächtnis eingebrannt hat“, formuliert es Kotek. Und diese flamme immer dann auf, wenn die Gesellschaft vor einem tiefgreifenden Wandel stehe.
Antizionismus ist nicht gleich Antisemitismus
Gleichzeitig dürfe der Konflikt zwischen Israel und Palästina als maßgebliche Ursache des heutigen Antisemitismus nicht vergessen werden. Für Thomas Gergely handelt es sich um die fünfte Puppe, die sich über das antisemitische Grundgerüst stülpt. Er spricht von einem arabischen Antizionismus, den er auf einen neuen religiösen Konflikt seitens des Islam zurückführt. Auch für Joël Kotek ist der Antizionismus – also der Vorwurf des Rechtes der Juden auf einen eigenen Staat in Palästina – zu einem neuen Ausläufer des Judenhasses geworden.
Antisemitismus und Antizionismus
Antisemitismus geht auf den deutschen Journalisten Wilhelm Marr zurück, der 1879 die antijüdische Schrift „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthums“ veröffentlichte. Darin argumentierte er, dass Deutschland von Juden beherrscht würde. Der „Semitismus“ dessen sich Marr bedient, bezeichnete ursprünglich die Sprachfamilie der „Semiten“ (etwa Arabisch oder Hebräisch) und nicht etwa eine ethnische Gruppe. „Semit“ ist eine Ableitung des biblischen Namens des Sohnes Noahs, „Sem“.
Antizionismus ist die Ablehnung des Rechts der jüdischen Gemeinschaft auf einen eigenen Staat in Jerusalem. „Zion“ ist die biblische Bezeichnung für Jerusalem. „Zionismus“ wurde Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere durch den Österreicher Nathan Birnbaum geprägt und bezeichnet die Bewegung für die Gründung eines Nationalstaats für Juden in Palästina.
Dabei sind Antizionismus und Antisemitismus keine austauschbaren Begriffe. Für Henri Goldman von der „Union des Progressistes Juifs de Belgique“, der selbst scharfer Gegner der Politik Israels ist, gibt es viele Formen des Antizionismus. Nur eine aber sei antisemitisch: Wenn der Hass auf Israel zum Vorwand wird, um einen tiefgreifenden Hass auf das gesamte Judentum auszuleben.
„Der Jude der Nationen“
In diesem Fall nämlich würden sich alle Feindbilder, gewissermaßen das ganze Puppengerüst von Thomas Gergely, wiederfinden, erklärt Joël Kotek. Ob Verschwörungstheorien, Bilder von systematischen Kindertötungen, die Vorstellung, dass Israel allmächtig sei und den Frieden in der Welt verhindere oder die Bezeichnung Israels als Land, das „Nazi-Methoden“ anwende: Anhand alter Stereotypen würde Israel zum „Juden der Nationen“.
Die Arbeitsdefinition der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA)
Aktuell hat Luxemburg den Vorsitz der IHRA. Im Vorfeld sorgte bereits deren Arbeitsdefinition für Antisemitismus für Diskussionen. Sie beinhaltet aktuelle Beispiele des Antisemitismus, die sich auf den Nahostkonflikt beziehen. Etwa die „Anwendung doppelter Standards” bei der Kritik Israels. Die Beispiele führten zum Vorwurf, jegliche Israelkritik würde damit als Antisemitismus gewertet. Das lässt der Chef der Luxemburger Delegation für die IHRA, Georges Santer nicht gelten. Im Text stehe ausdrücklich, dass „Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist“ nicht als antisemitisch gelte. Während einige Länder die Definition bereits formell angenommen haben, hat sich Luxemburg bisher zurückgehalten. „Die Luxemburger Institutionen werden sich aber jetzt auch nochmal damit beschäftigen“, so Santer. Sowieso sei die Definition 2015 einstimmig von allen IHRA-Mitgliedern angenommen worden.
Doch auch hier müsse man unterscheiden. Im Mittleren Osten etwa seien solche Projektionen zum einen eine Konsequenz des Nahost-Konflikts. Zum anderen seien sie eine Folge des gesellschaftlichen Wandels in der Region, in der religiöse Gesellschaften von modernen Gesellschaften abgelöst würden.
Das führe auch zu materiellem und sozialem Neid gegenüber der jüdischen Gemeinschaft. Es ist sind vor allem solche Formen des Antisemitismus, die laut der Europäischen Kommission gegen Intoleranz und Diskriminierung (ECRI) aufgrund der Migration auch nach Europa überschwappen.
Paranoia lässt sich nicht heilen
Im Westen aber seien die Ursachen jedoch andere. Neben dem maskierten Antisemitismus scheint ein disproportionaler Hass gegen Israel auch dazu zu verleiten, sich der Schuld der Shoah zu entledigen. Die Opfer von gestern werden die Sündenböcke von heute. „Schadenfreude“ nennt Kotek dieses Phänomen und ergänzt: „Man redet anders über Israel als über alle anderen Nationen.“
Paranoia kann man nicht heilen, man kann lediglich eine Remission erzielen.“ Thomas Gergely, Direktor des Instituts für Judaismus an der ULB
Auch wenn die Formen des Antisemitismus heute vielfältiger sind, bleibe das Gerüst bestehen, befürchtet seinerseits Thomas Gergely. „Paranoia kann man nicht heilen, man kann lediglich eine Remission erzielen“, bedauert der Wissenschaftler und verweist erneut auf die Vergangenheitsbewältigung nach der Shoah.
„Der letzte Vergebungsprozess hat 70 Jahre gedauert, vielleicht können wir das nochmals schaffen. Doch dann müssen wir neue Wege finden“. Letztlich aber geht es beim Antisemitismus auch um das Bedürfnis eines Sündenbockes. Man braucht das „Andere“, dem man alles Schlechte zuschreiben kann. Und ob Juden oder andere Minoritäten, dieses Bedürfnis wird bleiben.