Demonstranten durchbrechen Absperrungen, bedrängen Polizisten und marschieren vor das Haus des Premiers: Der Protestmarsch vom Wochenende legte sicherheitspolitische Schwächen schonungslos offen. Die Politik gelobt Besserung, entzieht sich bisher aber ihrer Verantwortung.
Auch Henri Kox ist offenbar ein Anhänger der Deeskalation. „Es war nicht alles perfekt“, sagte der zuständige Minister am Dienstag im Parlament über die Ausschreitungen bei Corona-Protesten in der Hauptstadt. Mit seinem Understatement versuchte der Minister für innere Sicherheit den öffentlichen Eindruck zu entkräften, wonach die Polizei bei den Vorkommnissen überfordert war. „Wir haben da noch Luft nach oben, um die Situation besser in den Griff zu bekommen“, so der Politiker von Déi Gréng.
Der Hintergrund: Ein Protestmarsch, der nicht von den Verantwortlichen der Stadt Luxemburg zugelassen worden war, artete am vergangenen Samstag gleich in mehrerer Hinsicht aus. Demonstranten stürmten förmlich die Weihnachtsmärkte auf der Place d’Armes und der Place de la Constitution. Dabei kam es laut Videoaufnahmen, die in den sozialen Netzwerken zirkulieren, auch zu Handgreiflichkeiten mit Polizeibeamten. Zudem marschierte ein Teil der Demonstrierenden zu den Privatwohnungen von Premierminister Xavier Bettel und Familienministerin Corinne Cahen (beide DP). Hier kam es laut Augenzeugen zu vereinzelten Sachbeschädigungen.
Henri Kox war im Parlament sichtlich bemüht, die Polizeibeamten in Schutz zu nehmen. Was der Minister dabei nicht sagte: Die Polizei griff bei den Protesten nicht aktiv in das Geschehen ein und nahm so diverse Gesetzesverstöße bewusst in Kauf. Die wenigen Beamten, die bei den Weihnachtsmärkten vor Ort waren, überließen letztlich den Demonstranten das Feld. Bei den Protestaktionen vor den Häusern des Premiers und der Familienministerin konnte von wesentlicher Polizeipräsenz dagegen nicht die Rede sein. Allerdings heißt es von offizieller Seite, dass der Premier und die Ministerin samt Familie im Vorfeld in Sicherheit gebracht worden seien.
Regierungsmitglieder müssen in Luxemburg vor Demonstranten in Sicherheit gebracht werden: Alleine diese Erklärung veranschaulicht den potenziellen Ernst der Lage am vergangenen Wochenende. Sie deutet aber auch auf das Ausmaß der sicherheitspolitischen Verfehlungen im Vorfeld der Ereignisse hin.
Präventives und kommunikatives Versagen
Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Man sei sich im Vorfeld bewusst gewesen, dass es sich um eine größere Demonstration handele, „die auch ausarten könnte“, räumte der Generaldirektor der Polizei, Philippe Schrantz, am Sonntag auf einer Pressekonferenz ein. Die Dimension der Ausschreitungen sei jedoch schwer voraussehbar gewesen.
Auch Henri Kox beteuerte am Dienstag vor den Abgeordneten, dass es natürlich vorab eine Analyse der möglichen Risiken gegeben habe. Es seien auch „substanziell“ mehr Beamte im Einsatz gewesen als bei früheren Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Regierung. Zudem seien noch weitere Polizisten in Reserve gewesen, um bei Bedarf die Kollegen in der Hauptstadt zu unterstützen. Weitere Aussagen könne man aber erst nach Abschluss einer andauernden „Analyse“ treffen.
Ein bestimmteres Eingreifen der Polizei hätte das Risiko mit sich gebracht, dass die Situation weiter eskaliert.“
Eine Sprecherin der Polizei
Aus regierungsnahen Quellen verlautet allerdings, dass die Verantwortlichen die Lage schlicht falsch eingeschätzt hätten. Auch aus Polizeikreisen wird mittlerweile offene Kritik an der Einsatzleitung laut. So kritisierte der Präsident der Polizeigewerkschaft SNPGL, Pascal Ricquier, im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“, dass der Einsatz am Samstag nicht gut vorbereitet und die Ordnungskräfte nicht zahlreich genug vor Ort gewesen seien.
Hinzu kommt ein ungeahntes Kommunikationsversagen zwischen Politik und Polizei. „Ich wusste auch nichts“, sagte nämlich Lydie Polfer im Interview mit „RTL“. Sie sei im Vorfeld nicht von der Polizei informiert worden und habe erst im Laufe der Demonstrationen mit der Einsatzleitung Kontakt aufgenommen, so die Bürgermeisterin der Hauptstadt, die laut eigener Schilderung selbst am Samstag im Stadtzentrum zugegen war. „Die Massen, die da unterwegs waren, das hat einem richtig Angst gemacht“, sagte die DP-Politikerin. Sie habe schließlich selbst die Initiative ergriffen, die Stände auf den Weihnachtsmärkten schließen zu lassen, um Schlimmeres zu verhindern.
Mangelndes Verständnis der Corona-Proteste
Wie es die Bürgermeisterin schon andeutete, gehört auch eine falsche Einschätzung des Aggressionspotenzials der Corona-Proteste zu den Lehren aus den Geschehnissen. Angesichts von gewaltsamen Ausschreitungen im Ausland hätte man „erwarten können, dass Ähnliches auch hierzulande geschehen könnte“, sagte Pascal Ricquier gegenüber dem „Luxemburger Wort“. Doch auch die Verfolgung der zunehmenden Radikalisierung mancher Impfgegner in einschlägigen sozialen Netzwerken hätte die Polizei längst zu einer erhöhten Wachsamkeit bewegen können.
Die Politik gibt sich dagegen durchweg erstaunt. „Wir haben es mit einem ganz neuen Phänomen zu tun“, sagte Henri Kox im Parlament. Dass die Proteste gegen Corona-Maßnahmen nicht einheitlich sind, sondern sich aus „verschiedenen Gruppen“ und „unkontrollierten Mobs“ zusammensetzen können, wie der Minister weiter ausführte, dürfte die Verantwortlichen der Luxemburger Sicherheitspolitik aber eigentlich nicht überraschen.
Wir haben erste Informationen, dass auch Personen aus dem Ausland dabei waren.“Philippe Schrantz, Generaldirektor der Polizei
Neu ist allerdings in der Tat, dass sich die Gewaltbereitschaft der Proteste auch im Großherzogtum zeigte. Dabei spielten laut den Behörden auch Gruppierungen eine Rolle, die aus dem grenznahen Ausland angereist waren. „Wir haben erste Informationen, dass auch Personen aus dem Ausland dabei waren“, sagte der Generaldirektor der Polizei, Philippe Schrantz, am Wochenende vor der Presse. Konkrete Details wollte er dazu aber nicht preisgeben.
Doch auch diese Entwicklung dürfte aufmerksame Beobachter der Szene von radikalen Gegnern der Anti-Corona-Politik nicht überraschen. Seit geraumer Zeit gebe es Kontakte zwischen den Organisatoren von Corona-Protesten in Luxemburg mit vergleichbaren Bewegungen im grenznahen Ausland, heißt es aus Polizeikreisen. Die Spur mancher gewaltbereiter Demonstranten vom vergangenen Wochenende führt laut Informationen von Reporter.lu etwa zu sogenannten Ultras von Fußballclubs im französischen Grenzgebiet sowie zu Gruppierungen im Dunstkreis der „Gilets Jaunes“.
Von der Risikoeinschätzung zur Deeskalation
Die Polizeidirektion will ihrerseits dennoch nicht von einer Fehleinschätzung oder Überforderung sprechen. Im Rahmen einer Risikoeinschätzung ziehe man verschiedene Elemente in Betracht, erklärt eine Sprecherin der Polizei auf Nachfrage von Reporter.lu. Dabei gehe es um Informationen, die im Internet und in sozialen Medien verfügbar sind oder die der Polizei zugetragen werden. Auch Informationen von lokalen Stellen oder aus dem Ausland könnten in die Analyse einfließen.
Im Fall der Demonstrationen vom vergangenen Samstag habe es sich einerseits um eine Gruppierung gehandelt, die bisher „30 bis 50 Teilnehmer“ versammelt habe und bei der die Organisatoren der Polizei bekannt seien. Bei den Demonstranten des sogenannten „Rassemblement national“, eine Bezeichnung, die übrigens mit jener der Nachfolgerorganisation des „Front national“ von Marine Le Pen identisch ist, habe es dagegen keinen Ansprechpartner gegeben, erklärt die Sprecherin der Polizei.
Auf der Grundlage der Informationen, die uns vorlagen, erhielt diese Demonstration eine andere Risikoeinstufung als vergangene Demonstrationen.“
Eine Sprecherin der Polizei
Bei letzteren Protestlern habe es allerdings schon im Vorfeld Hinweise auf „eine größere Anzahl von Teilnehmern“ und auch eine „eventuelle Gewaltbereitschaft“ gegeben, so die Pressestelle der Polizei weiter. Wie groß dieses Risiko genau eingeschätzt wurde, könne man zwar nicht sagen. Aber so viel: „Auf der Grundlage der Informationen, die uns vorlagen, erhielt diese Demonstration eine andere Risikoeinstufung als vergangene Demonstrationen.“
Ebenso wie der zuständige Minister betont auch die Polizei selbst, dass man generell auf eine Strategie der „Deeskalation“ gesetzt habe, was neben der verhältnismäßigen Gewaltanwendung ein Grundprinzip von Polizeieinsätzen sei. Man wollte unbedingt eine Eskalation der Gewalt verhindern, damit keine Unbeteiligten verletzt würden. „Ein bestimmteres Eingreifen der Polizei hätte das Risiko mit sich gebracht, dass die Situation weiter eskaliert“, so die Sprecherin auf Nachfrage von Reporter.lu.
Eine zentrale Frage, die weder die Polizei noch der Minister beantworten wollen: Hätte die Zahl der bereitgestellten Polizisten ausgereicht, um im Fall einer weiteren Eskalierung der Situation aktiv einzugreifen? Man könne aus operativen Gründen keine Angaben zur Anzahl und Aufstellung von Polizeieinheiten geben, auch nicht bezogen auf vergangene Einsätze, heißt es dazu.
Zeitversetzte Aufarbeitung von Straftaten
Ebenso bleibt im Unklaren, inwiefern mutmaßliche Gesetzesverstöße tatsächlich verfolgt werden können. Die Polizei betont auf Nachfrage: „Sämtliche festgestellten Straftaten werden zu Protokoll gebracht und an die Justiz übermittelt.“ Diese Arbeiten, bei denen etwa sämtliches Bildmaterial und weitere Indizien zur Identifizierung von Straftätern gesammelt werden, würden zwar noch andauern. Doch prinzipiell gelte: Auch im Nachhinein könne eine wirksame Strafverfolgung geschehen.
Auch in diesem Punkt verteidigt sich die Polizei übrigens mit dem Argument der Deeskalationsstrategie. Während des Einsatzes müsse „abgewogen werden, was opportuner ist“: Entweder die öffentliche Sicherheit bestmöglich aufrechterhalten oder einzelne Verhaftungen durchführen „und damit eine komplette Eskalation der Lage riskieren“.
Bei der Staatsanwaltschaft wurden bisher keine Ermittlungsverfahren bezüglich der Ereignisse vom Samstag eingeleitet, wie Reporter.lu auf Nachfrage erfuhr. Man warte auf die Berichte der Polizei, heißt es von der Pressestelle der Justiz. Dabei stellt sich die Frage, für welche mutmaßlichen Vergehen die Demonstranten eigentlich belangt werden könnten. Fest steht: Die Teilnahme an einer nicht angemeldeten Veranstaltung allein stellt für den einzelnen Teilnehmer kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar.
Wir werden alles dafür tun, dass die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger garantiert wird.“Henri Kox, Minister für innere Sicherheit
Vielmehr wird die Polizei ganz unterschiedliche, voneinander unabhängige Vergehen ermitteln müssen. Diese könnten laut Strafgesetzbuch von Vandalismus bis Gewalt oder Beleidigungen gegenüber Polizeibeamten reichen. Ob auch das Banner, das an der „Gëlle Fra“ enthüllt wurde und einen QR-Code mit einem Judenstern gleichsetzt, einen Straftatbestand, etwa den des Revisionismus, erfüllt, ist ebenso fraglich.
Offensichtlich sind hingegen die Zuwiderhandlungen in Bezug auf die derzeit geltenden Corona-Maßnahmen. Weitere Verstöße siedeln sich im Bereich der öffentlichen Ordnung an und beziehen sich auf das Polizeireglement der Stadt Luxemburg. Dieses untersagt unter anderem die Behinderung des Verkehrs ohne ausdrückliche Genehmigung, das Abfeuern von explosivem oder pyrotechnischem Material sowie etwaige Akte von Vandalismus. Es sind dies aber allesamt vergleichsweise geringfügige Verstöße, die denn auch bei einer Verurteilung vor Gericht keine hohen Strafen nach sich ziehen würden.
Zudem verbietet die Stadtverordnung, sich vermummt auf den Straßen oder öffentlichen Plätzen zu bewegen, was zu einem weiteren Problem bei der Strafverfolgung führt: Die Behörden müssen zunächst einmal einzelne Verdächtige zweifellos identifizieren. Denn auch wenn nur die wenigsten Protestler eine chirurgische Maske trugen, waren manche vermummt, darunter viele, die an vorderster Front agierten. All diese Aspekte verdeutlichen schließlich, dass der Diskurs der Politik, wonach jegliche Gewaltanwendung bestraft werde, in der Praxis schwer haltbar ist.
Politische Verantwortung und Hoffnungen
Indes kündigte die Regierung striktere Maßnahmen für kommende Demonstrationen an. Man werde „alles dafür tun, dass die öffentliche Ordnung und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger garantiert wird“, sagte etwa Henri Kox am Dienstag im Parlament. Dabei räumte der Polizeiminister in einem Nebensatz ein, dass es sich bei seiner Versicherung an die Bevölkerung nicht unbedingt um eine mit konkreten Maßnahmen untermauerte Entschlossenheit handelt. Mit den Worten „Mir paaken Holz un“ formulierte er eher eine diffuse Hoffnung, dass die Corona-Proteste auch in Zukunft vergleichsweise friedlich ablaufen werden.
Die Frage der politischen Verantwortung wird dagegen von allen Beteiligten bisher erfolgreich ausgeklammert. Immerhin gab es in den vergangenen Tagen mehrere Treffen zwischen Regierung, Gemeindeverantwortlichen, Polizei und Justiz, bei denen die künftige Vorgehensweise abgestimmt wurde. Zudem haben Minister Henri Kox, Bürgermeisterin Lydie Polfer sowie die Polizeidirektion an diesem Donnerstag zu einer weiteren Pressekonferenz geladen, bei der sie die Maßnahmen für die Demos am kommenden Wochenende vorstellen werden. Am Samstag und am Sonntag sollen weitere Protestmärsche in der Hauptstadt stattfinden.
Eine konkrete Folge haben die Geschehnisse vom vergangenen Wochenende aber schon jetzt: Der traditionelle Fackelzug zum internationalen Tag der Menschenrechte wurde abgesagt. Anstelle der Veranstaltung, die für diesen Freitagabend geplant war, soll nun eine symbolische Kerzenaktion in den sozialen Medien stattfinden. Der Veranstalter, „Amnesty International“, begründete die Absage gegenüber „Radio 100,7“ damit, dass man in Absprache mit den Behörden zum Schluss gelangt sei, dass die Sicherheit der Teilnehmer nicht gewährleistet werden könne. Im Vorfeld hatten Teile der Corona-Protestbewegung ankündigt, die Veranstaltung unterwandern zu wollen.