Wann und wie müssen Kunstwerke aus der Kolonialzeit an Afrika zurückgegeben werden? Um diese Frage geht es bei der sogenannten Restitutionsdebatte. Dabei schwingt immer auch die Frage mit, inwiefern die koloniale Ideologie der Europäer die Epochen überdauert hat.
„Das britische Volk hat unsere Seele“. Mit diesen Worten wandte sich im November der Gouverneur der Osterinsel Tarita Alarcón Rapu an das „British Museum“. Die Seele, das ist die Moai-Steinstatue „Hoa Hakananai’a”, die im 19. Jahrhundert von einem britischen Kommandanten nach Großbritannien gebracht wurde – als Geschenk für Königin Victoria. Für die Briten ein exotisches Mitbringsel, ist die Statue für die Ureinwohner der Osterinsel von unschätzbarem kulturellen Wert. Die Rapa Nui glauben daran, dass in den Maoi-Statuen die Geister ihrer Ahnen wohnen. „Gebt uns eine Chance, sie nach Hause zu bringen“, wird der Gouverneur in der britischen Presse zitiert.
Objekte wie die Moai-Statue findet man in den meisten europäischen Museen. Für sie sind es ethnografische Ausstellungsstücke; für die Gemeinschaften, aus denen sie stammen, handelt es sich um wertvolle Kulturgüter. Die meisten kommen aus den ehemaligen Kolonien, ein Großteil aus Afrika. Und viele sind auf fragwürdigem Weg, etwa durch Raubzüge, nach Europa gelangt und wurden in den hiesigen Ausstellungen ihrem Kontext entrissen.
Für ein Museum ist die Legitimität das einzige, das uns von einer Räuberhöhle unterscheidet.“Michel Polfer, MNHA
Allein das Pariser Museum „Quai Branly“ besitzt rund 70.000 Objekte aus Afrika. Das belgische „AfricaMuseum“ besitzt sogar rund 180.000 Objekte. Und auch Luxemburg ist im Besitz vereinzelter Objekte.

„Blinde Flecken“, nennt der Kunsthistoriker Christian Kravagna diese eurozentrischen Sammlungen. Der Ausdruck erinnert an die imperialistische Ideologie, nach der Afrika in den Augen der Europäer ein weißer Fleck war, den es zu kolonisieren galt. Kravagnas Wortwahl suggeriert, dass eigentlich die Europäer blind für die fremden Kulturen waren. Und ihr imperialistischer Blick in den Sammlungen weiterlebt.
Legal ist nicht gleich legitim
Die Frage nach der Legitimität solcher Sammlungen lag lange brach. Erst vor kurzem geriet die Debatte zur Restitution kolonialer Güter ins mediale Rampenlicht: Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die Frage zur Staatssache erklärt und einen entsprechenden Bericht in Auftrag gegeben. Darin treten der Ökonom Felwine Sarr und die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy für eine zeitnahe Rückgabe von Frankreichs Kolonialgütern ein.
In Museumskreisen aber werde die Debatte bereits seit längerem geführt, erzählt der Direktor des Nationalen Museums für Geschichte und Kunst (MNHA) Michel Polfer. Eine gemeinsame Position aber gebe es nicht. Das liegt mitunter daran, dass es sich bei der Frage nach der Restitution um eine Interpretationsfrage handelt.
Michel Polfer bricht das Problem auf den Unterschied zwischen Legalität und Legitimität herunter. Dass eine Sammlung legal erworben wurde, bedeute nicht automatisch, dass sie auch legitim sei. Letzteres sei aber besonders für öffentliche Einrichtungen zentral: „Für ein Museum ist die Legitimität das einzige, das uns von einer Räuberhöhle unterscheidet“, so der Museumsdirektor. Für ihn gilt: Ist ein Objekt nicht legitim, hat es in der Sammlung nichts verloren, sondern muss zurückgegeben werden. Doch für viele Museen geht es um die eigene Existenz, weiß auch Michel Polfer. Geben sie alles Fragwürdige zurück, könnten manche bald leer sein.
Unmöglich sich über eigene Kultur zu informieren
Die aktuelle Debatte zeigt aber auch: Was während der Kolonialzeit als legitim galt, ist es heute nicht mehr. Bereits rechtlich ist die Sachlage problematisch, erklärt der Luxemburger Historiker Régis Moes. Erst 1899 wurde in einer Haager Landkriegsordnung festgelegt, dass Kunst nicht als Kriegsbeute dienen darf. Das Problem: Die Objekte aus den Kolonien wurden meist nicht als Kunst, sondern als Objekte zur Völkerkunde angesehen.
Für Michel Polfer geht es bei der Diskussion auch um den kulturellen Wert eines Objektes und die Frage, wo dieser am größten ist. Dass es in Europa etwa große ägyptische Sammlungen gebe, verhindere nicht, dass Menschen in Ägypten mit ihrem kulturellen Erbe in Kontakt kommen: Dort gibt es nämlich noch genug Material, ob in Museen oder Grabungsstätten. Anders sieht es in verschiedenen Gegenden Afrikas aus. „Es gibt Gebiete, in denen ist es den Menschen unmöglich sich vor Ort über die eigene Kultur, die eigene Geschichte zu informieren. Dort ist nichts mehr da. Es wurde alles mitgenommen. Und, nach heutigen Kriterien wurde es illegal mitgenommen“, bedauert der studierte Archäologe.
Herkunftsforschung steht aus
Auch der Direktor des „AfricaMuseums“ Guido Gryseels räumt gegenüber REPORTER ein: „Es ist nicht normal, dass 80 Prozent der afrikanischen Kunstobjekte in Europa sind. Es handelt sich um ihre Geschichte, ihre Kultur, ihre Identität.“ Im gleichen Atemzug betont der Verantwortliche des Museums in Tervuren aber, dass eine Restitution kein geradliniger Prozess ist: „Wie definiert man, was illegal erworben wurde? Ist alles, was aus der Kolonialzeit stammt illegal?“
Um diese Frage zu klären, muss in erster Linie Herkunftsforschung betrieben werden. Denn auch wenn die Museen wissen, von wem sie die Sammlungen haben, sprich wer die Objekte an das jeweilige Museum verschenkt oder verkauft hat, kennen sie noch lange nicht die ganze Geschichte: „Wir haben ein komplettes Inventar unserer Kollektionen und doch wissen wir nicht, wie sie lokal erworben wurden.“ Ein großer Teil der Tervurener Sammlung stammt etwa von Missionaren, die Objekte, oft auf Bitte des Museums, mitgebracht haben.
„Haben die Missionare die Artefakte aus den Dörfern mitgebracht? Stammen manche aus Raubzügen? Waren es Geschenke? Oder wurden sie gekauft und wenn ja, wie hat man die indigenen Völker dafür entschädigt?“ Es sind Fragen über Fragen, die die hiesigen Kunsthistoriker, Forscher und Kuratoren erst klären müssen – auch hierzulande. „Man muss wirklich ein enormes Spezialwissen haben, um herauszufinden, ob etwas bei einem Raubzug geklaut wurde oder etwa um die kulturelle Bedeutung eines Artefaktes zu kennen“, erklärt Régis Moes, der die Luxemburger Objekte untersucht.

An wen wird restituiert?
Wichtig sei aber, dass dies nicht als Ausrede gelten dürfe, um die betroffenen Gemeinschaften hinzuhalten, warnt Michel Polfer. Es ist ein Vorwurf, der im Rahmen der Restitutionsfrage bereits vielfach gefallen ist. Gleichzeitig drängt er: Auch die Forderungen zur Rückgabe müssen legitim sein. Anders als etwa bei den Restitutionen nach dem Zweiten Weltkrieg handelt es sich um eine Rückgabe an Gemeinschaften oder Staaten, nicht an Privatpersonen. Im Fall der Maoi-Statue im „British Museum“ etwa hat Chile die Anfrage stellvertretend für die Ureinwohner der Osterinsel gestellt.
Wir haben sehr wohl Historiker und Kuratoren, auch wenn unser Land politisch fragil ist.“Der Künstler Aimé Mpane
Guido Gryseels betont währenddessen, dass nur dann restituiert werden kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Im Kongo, wo das nationale Museum sich erst im Bau befindet, fehle die Infrastruktur. Im Ruanda, deren Gebiet ebenfalls zeitweise von Belgien verwaltet wurde, sieht die Sachlage anders aus. Hier kooperiert die belgische Regierung laut Gryseels bereits mit den ruandischen Autoritäten. „Wir sind dabei, alle historischen Archive zu Ruanda zu digitalisieren und werden sie anschließend zurückgeben“, betont Gryseels. Was mit jenen Artefakten geschieht, die sich nicht digitalisieren lassen, lässt der Direktor des Tervurener Museums offen. Eine diesbezügliche Nachfrage bei Ruandas Nationalmuseum blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Sollen Objekte zurückgehen, müssen sie auch betreut werden können, pflichten Michel Polfer und Régis Moes ihrem belgischen Kollegen bei. Auch sie nehmen den Kongo als Beispiel: „In Ländern mit einem ‚Failed State’ besteht das Risiko, dass die Objekte drei Monate später bei ‚Sotheby’s’ auf dem Kunstmarkt landen.“
Chance auf kulturelle Dekolonisierung?
Es ist aber genau diese Argumentation, die von der afrikanischen Diaspora vielfach kritisiert wird. Die Diskussion sei paternalistisch, betont etwa der kongolesische Künstler Aimé Mpane. Er hat eine der Skulpturen geschaffen, die im neuen „AfricaMuseum“ als Kontrast zu den kolonialen Statuen platziert wurden. Mpane sieht in der Darstellung, die Kongolesen könnten die Sammlungen nicht betreuen, ein Fortleben des imperialen Gedankenguts, bei dem die „Weißen“ die „Afrikaner“ belehren. „Wir haben sehr wohl Historiker und Kuratoren, auch wenn unser Land politisch fragil ist“, monierte der Künstler jüngst bei einer Pressevisite des Afrikamuseums.
Doch nicht nur hier spiegelt sich die koloniale Denkweise wider. Auch in der Diskussion um die betroffenen Artefakte werde nicht hinreichend differenziert, warnt Regis Moes. Die Kolonisierten würden demnach zu sehr als passive Opfer dargestellt werden, dabei hätten sie sich auch gewehrt und etwa den europäischen Markt als Chance verstanden. „Wenn die Europäer Keramiktöpfe wollten, haben sie Keramiktöpfe produziert. Wenn sie Speere wollten, dann haben sie Speere gemacht.“ In diesem Sinne sei es – gerade beim ehemaligen belgischen Kongo – wichtig zu bewerten, von wann die Objekte stammen: Etwa aus einer kolonialen Expedition im 18. Jahrhundert oder aus den 1950ern? Nicht jedes Artefakt sei ein Kulturgut: „Vieles wurde hergestellt, um es den Europäern zu verhökern“, wirft Michel Polfer ein.
In diesem Sinne ist die aktuelle Debatte auch eine Chance, um das europäische Verständnis der ehemaligen Kolonien sowie das Verhältnis mit den jeweiligen Staaten zu hinterfragen. Die Forderung zur Restitution wird demnach zu einer Dekonstrution des kolonialen Gedankenguts. In vielen Sammlungen und Ausstellungen schwingt die imperialistische Ideologie bis heute mit. Und noch lange nicht jeder Museumsdirektor kann, wie es Michel Polfer ausdrückt, mit „einem guten Gefühl durch sein Museum schreiten“.
Rund 60 Jahre nach der eigentlichen Dekolonisierung nimmt also auch die kulturelle Dekolonisierung langsam Fahrt auf und die westlichen Museen werden sich ihres „blinden Flecks“ bewusst. Wie jedes einzelne mit diesem Wissen umgeht, wird sich auch darin widerspiegeln, wie sie die Frage der Rückgabe ihrer Kunstwerke bewerten.
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