Unter den Flüchtlingen und Migranten, die nach Luxemburg kommen, sind immer wieder unbegleitete Minderjährige. Nur wenn sie einen Asylantrag stellen, gewährt Luxemburg ihnen Schutz und Unterkunft. Alle anderen fallen notgedrungen durch das staatliche Raster.
2018 stand sie auf einmal vor dem Außenministerium. Ein Mädchen von vier Jahren, abgeliefert von einem entfernten Verwandten. Wie sie nach Luxemburg gelangt ist, weiß auch heute keiner ganz genau. Die Eltern jedenfalls, waren weit weg im Iran. „Das Mädchen war zu klein um überhaupt zu wissen, was ein Asylantrag ist“, erinnert sich ein Beamter, der damals dabei war.
Die Behörden standen vor einem Dilemma. Denn Luxemburg hat für Kinder in ihrer Situation keine Prozedur vorgesehen: Der Schutz unbegleiteter Minderjähriger beginnt erst, wenn ihr Asylverfahren läuft. Ohne Aufenthaltsgenehmigung und ohne Asylantrag war das Kleinkind schutzlos.
„Man schob die Verantwortung hin und her“, erinnert sich der Ombudsman für Kinderrechte René Schlechter. „Niemand fühlte sich verantwortlich.“ Ohne elterliche Befugnis habe die Justiz nicht eingreifen können, sagt er. Ohne Asylantrag sei das „Office luxembourgeois de l’accueil et de l’intégration“ (OLAI) nicht zuständig gewesen. Und das „Office national de l’enfance“(ONE) habe auch nicht einspringen wollen. Letztlich einigte man sich auf eine Notlösung: Das Rote Kreuz brachte das Mädchen in einer seiner Strukturen unter.
Kinder in „äußerst prekärer Lage“
Es ist nicht das erste Mal, dass die Behörden vor diesem Dilemma stehen. Im gleichen Jahr stellte sich die Situation ein weiteres Mal. Betroffen war wieder ein Mädchen, auch wenn sie mit zwölf Jahren etwas älter war. Auch für sie musste eine pragmatische Lösung gefunden werden.
Wir sprechen von ‚enfants disparus‘. Sie sind irgendwo, aber eigentlich sind sie verschwunden.“René Schlechter, Ombudsmann für Kinderrechte
Die Beispiele machen deutlich: Einen wirklichen Schutz kann Luxemburg erst garantieren, wenn die Minderjährigen die regulären Prozeduren durchlaufen. Doch dadurch fallen immer wieder Kinder aus dem Raster. Nicht immer sind es Mädchen. Oft sind die Betroffenen auch älter als vier. Vielmals entscheiden sie aus unterschiedlichen Gründen selbst, dass sie keinen Antrag auf Asyl stellen.
Solange sie in Luxemburg kein Statut haben, ist ihr Schutz nicht garantiert. „Wir sprechen von ‚enfants disparus‘. Sie sind irgendwo, aber eigentlich sind sie verschwunden“, sagt der Ombudsmann für Kinderrechte, René Schlechter.
Eines haben sie allerdings gemeinsam: Es sind Kinder, deren Lage äußerst prekär ist. Sie sind dem Risiko von Gewalt, Ausnutzung und Menschenhandel ausgesetzt, schreiben sowohl das „Ombudskomitee für Kinderrechte“ (ORK) als auch die „Commission consultative des droits de l’homme“(CCDH) in ihren diesjährigen Berichten.
Unterschiedliche Fälle und Ursachen
Christof Müller, der die Abteilung „Refugiés und Migrants“ des Luxemburger Roten Kreuzes leitet, und die Betreuung der beiden Mädchen begleitet hat, betont: „Diese Jugendlichen sind sehr anfällig. Sie haben keinen festen Bezugspunkt und sind einem höheren Risiko ausgesetzt, in die Kriminalität abzurutschen.“
Wie viele sich in Luxemburg aufhalten ist unklar. Da sie illegal im Land sind, sind sie im System nicht erfasst. Die Gründe, warum sie illegal im Land sind, sind verschieden. So berichtet das Rote Kreuz von Jugendlichen auf der Durchreise, die oftmals gar nicht vorhaben, hierzulande Schutz zu suchen. Manche kommen aus vermeintlich sicheren Ländern und wissen demnach, dass sie kaum Chancen auf Asyl haben.
Andere wurden zum Beispiel nach Europa geschickt, um Geld nach Hause zu bringen. Eine Asylprozedur steht dieser Aufgabe im Weg, schließlich besteht für die Minderjährigen Schulpflicht. Es bleibt die Arbeit auf dem Schwarzmarkt – oder der Weg in die Kriminalität.
Ministerium: ein „marginales Phänomen“
Mehrere Streetworker erzählen von Gruppen von Migranten, dem Anschein nach Minderjährige, die sich im Bereich des Hauptbahnhofes aufhalten. Die Gefahr sei groß, dass sie dort etwa in den Drogenhandel hineingezogen werden. Man könne davon ausgehen, dass sie das bereits tun, erklärt die Polizei auf Nachfrage. Laut dem Außenministerium handelt es sich jedoch um ein „marginales Phänomen“.
Ein Asylantrag ist für sie dann die einzige Möglichkeit, um regulär im Land bleiben zu können.“Frank Wies, Anwalt für Asylrecht
„Diese Jugendlichen wollen meistens keinen Kontakt“, sagt der Direktor von Inter-Actions Roger Faber. Seine Organisation betreut Menschen, die auf der Straße leben. „Wir wären froh, wenn wir eine Möglichkeit hätten, an sie heranzukommen. Doch sie schaffen es, sich irgendwie durchzuschlagen.“
Unnahbar und auf einmal verschwunden
Die Minderjährigen werden erst dann erfasst, wenn zum Beispiel die Polizei sie bei Kontrollen aufliest: Etwa weil sie keine Papiere vorzeigen können. Oder, weil sie bereits in kriminelle Machenschaften verwickelt sind. „Ein Asylantrag ist für sie dann die einzige Möglichkeit, um regulär im Land bleiben zu können“, berichtet der Anwalt für Flüchtlingsrecht Frank Wies. Zumindest so lange, bis das Asylverfahren abgeschlossen ist.
Asylverfahren für unbegleitete Minderjährige
Die Prozedur sieht vor, dass die Minderjährigen, die in Luxemburg ankommen, erst im „Centre de Primo-Accueil“ untergebracht werden. Am nächsten Werktag müssen sie im Außenministerium vorstellig werden. Danach werden sie in einer der Unterkünfte für unbegleitete Minderjährige untergebracht. Ihren Asylantrag können sie erst mithilfe eines „administrateur ad hoc“ stellen, der ihnen vom Familienrichter zugeteilt wird. Bis dahin sind die Minderjährigen vom Statut her „illegal“. Erst mit dem Antrag beginnt die reguläre Asylprozedur.
Immer wieder kommt es allerdings vor, dass Minderjährige verschwinden, die sich bereits in der Asylprozedur befinden. Manche würden irgendwann wieder auftauchen, andere nicht. „Man weiß nicht, warum sie sich unserer Betreuung entziehen und was sie bereits durchgemacht haben. Viele sind traumatisiert“, schildert Christof Müller vom Roten Kreuz. Oft seien sie es bereits gewohnt, sich auf der Straße durchzuschlagen.
Luxemburg oftmals nur „Transitland“
So betont auch Jean Asselborn in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von 2016: Man könne „legitimerweise denken“, dass Luxemburg für jene, die schnell in einen anderen Staat verschwinden, nur ein „Transitland“ ist. 2016 seien 37 Minderjährige verschwunden.
Man müsse diese Zahlen allerdings relativieren, sagt das Außenministerium auf Nachfrage. Es sei wahrscheinlich, dass darunter viele Migranten seien, die sich lediglich als minderjährig ausgegeben haben, weil sie sich so bessere Chancen ausrechneten. Auch deswegen seien sie wohl abgetaucht. 2019 hätten bisher 21 unbegleitete Minderjährige Asyl beantragt. Zwei davon seien inzwischen verschwunden.
Es ist nicht so, dass unbegleitete Minderjährige allein durch die Tatsache unter das Gesetz fallen, dass sie unbegleitet sind.“Generalanwältin Simone Flammang
Allerdings steht auch die Frage im Raum, unter wessen Verantwortung die unbegleiteten Minderjährigen, die sich nicht in einer Asylprozedur befinden, rein rechtlich fallen. „Unbegleitete Minderjährige, die keinen Antrag auf Schutz stellen, haben in Luxemburg kein Statut und sind von jeglicher Hilfe und Unterstützung ausgeschlossen“, bedauerte das ORK bereits 2018. Im diesjährigen Bericht macht das Ombudskomitee diese Kritik erneut geltend. „Das einzige Mittel, den Schutz der Jugendlichen zu garantieren, ist, dass sie einen Asylantrag stellen“, betont René Schlechter im Gespräch mit REPORTER.
Jugendschutzgesetz ist keine Patentlösung
Das ORK weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich das Jugendschutzgesetz nicht auf diese Kinder anwenden lasse. Das neue Gesetz müsse so reformiert werden, dass jungen Menschen in Not in Luxemburg geholfen werde, ganz gleich ob sie legal oder illegal im Land seien.
Die Generalanwältin Simone Flammang aber nuanciert: Das Jugendschutzgesetz greife sehr wohl, allerdings nur für „mineurs en danger“ und nur, wenn dem eine Meldung („signalement“) vorausgeht. „Es ist nicht so, dass unbegleitete Minderjährige allein durch die Tatsache unter das Gesetz fallen, dass sie unbegleitet sind.“
René Schlechter reicht das nicht aus. „Es müsste für sie ein Statut geben. Unabhängig davon, ob sie internationalen Schutz anfragen oder nicht.“ Damit wäre auch der Kinderrechtskonvention Folge geleistet, die auch Luxemburg ratifiziert hat.
Koalitionsversprechen bisher nicht eingelöst
Doch es sei schwer, den Jugendlichen zu helfen, wenn sie keine Unterstützung annehmen, bedauern Streetworker und Hilfsorganisationen. Laut Christof Müller vom Roten Kreuz dauere es in manchen Fällen mehrere Wochen, bis die Jugendlichen Vertrauen fassen und bereit sind, einen Schutzantrag zu stellen – oder bis sie wieder abtauchen.
Rechtlich sei die Situation allerdings nicht haltbar, betont Frank Wies. „Man kann nicht einfach sagen, man sei nicht zuständig. Oder dass wir uns nicht um diese Jugendlichen kümmern, solange sie keine Hilfe suchen. Luxemburg ist für sie zuständig.“
Doch muss sich Luxemburg dazu auch die nötigen Mittel geben. So war es auch im Regierungsprogramm vorgesehen: Die Situation der unbegleiteten Minderjährigen, die keinen Atrag stellen, „nécessite un renforcement de la prise en charge immédiate et adéquate de ces enfants via la mise en place de structures d’accueil spécifiques.“ Bisher gibt es diese Strukturen jedoch nicht.
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