Über ein Jahr lang konnte die Europäische Staatsanwaltschaft in Luxemburg nicht ermitteln. Ein entsprechendes Gesetz fehlte. In mindestens einem Fall blockierte dies die Arbeit der Staatsanwälte. Politik und Justiz brachten das Land in eine peinliche Lage.
31 teure Autos, 2,5 Millionen Euro in Scheinen, 104 Luxusuhren: Die Liste klingt nach einem Gangsterfilm, sie stammt aber aus Beschlagnahmen im bisher größten Fall der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO). Die „Operation Admiral“ deckte einen Mehrwertsteuerbetrug in Höhe von mindestens 2,2 Milliarden Euro auf. Ende November führten Ermittler in 14 Ländern über 200 Razzien durch – auch in Luxemburg.
Hierzulande durchsuchte die Kriminalpolizei im Rahmen dieser Operation drei Firmen, eine Anwaltskanzlei, eine Auditgesellschaft und ein Privathaus. Das bestätigt die EPPO auf Nachfrage von Reporter.lu. Der Clou: Nur drei Monate früher wäre dies so nicht möglich gewesen. Erst im August 2022 trat ein Gesetz in Kraft, das es der EPPO erlaubt, in Luxemburg Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmungen anzuordnen. Ganze 14 Monate, nachdem die Europäischen Staatsanwälte mit ihrer Arbeit begonnen haben.
„Weil Luxemburg nicht die nötigen Gesetzesänderungen vorgenommen hatte, war die Europäische Staatsanwaltschaft in ihrer Ermittlungsarbeit behindert“, heißt es auf Nachfrage von Reporter.lu aus dem EPPO-Hauptsitz in Kirchberg. Der Grund: zögerliche Justizminister, ein überfordertes Parlament und Misstrauen in Teilen der Justiz.
Hausdurchsuchung abgelehnt
Ein Urteil des Kassationsgerichtshofs von Ende Januar legte die Folgen der verspäteten Gesetzesänderung offen. Die EPPO hatte bei einem Luxemburger Untersuchungsrichter die Durchführung einer Hausdurchsuchung mit Beschlagnahmung beantragt. Doch dieser Antrag wurde abgelehnt. Sowohl die EPPO als auch die Luxemburger Generalstaatsanwaltschaft hatten diese Entscheidung daraufhin angefochten. Doch im März 2022 bestätigte die Ratskammer der „Cour d’appel“ die Entscheidung des Untersuchungsrichters. Der Kassationsgerichtshof hob dieses Urteil jetzt auf.
Nach unserem Kenntnisstand gab es solche Probleme in keinem anderen beteiligten Mitgliedstaat.“Stellungnahme der EPPO
Doch der Schaden war angerichtet: Die Ermittlung der EPPO war blockiert, die Hausdurchsuchung konnte während Monaten nicht ausgeführt werden. Da auch eine Beschlagnahmung beantragt war, verschwand möglicherweise kriminelles Geld.
Zwei delegierte Europäische Staatsanwälte sind zuständig, um die Fälle in Luxemburg zu bearbeiten. Sie haben die gleichen Kompetenzen wie ein nationaler Staatsanwalt. „Ihre Befugnis, Ermittlungsmaßnahmen anzufragen, wurde in Luxemburg angefochten“, betont die EPPO.
Die delegierten Staatsanwälte hatte keine andere Wahl, als gegen diese Infragestellung ihrer Macht durch alle Instanzen zu klagen. Besonders peinlich: Nur in Luxemburg war eine solche Klage der EPPO nötig. „Nach unserem Kenntnisstand gab es solche Probleme in keinem anderen beteiligten Mitgliedstaat“, heißt es in der Stellungnahme der EPPO. Aktuell beteiligen sich 22 EU-Länder an der europäischen Strafverfolgung.
Politik unterschätzte das Problem
Im Juni 2021, kurz nachdem die EPPO mit der Arbeit in Luxemburg begonnen hatte, hofften Parlament und Regierung noch, möglichen Konsequenzen vorzubeugen und das Gesetz noch vor der Sommerpause durchzubringen. „Die Europäische Staatsanwaltschaft wird in ihrer Arbeit nicht behindert“, versprach die Grünen-Abgeordnete Stéphanie Empain im Mai 2021.
Es sollte anders kommen. Der Text ging noch zweimal zwischen Parlament und Staatsrat hin und her. „Wir hatten extreme Schwierigkeiten, die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft in das Luxemburger System zu integrieren“, sagt die damalige Berichterstatterin Stéphanie Empain heute. Das Problem: Der delegierte Europäische Staatsanwalt muss von der nationalen Justiz unabhängig sein. Er hat zudem Befugnisse, die im Luxemburger Strafverfahren zwischen dem Untersuchungsrichter, der Ratskammer und dem Staatsanwalt aufgeteilt sind. „Das ist, als ob man Windows auf einem Mac installieren will“, meinte Stéphanie Empain bei der Abstimmung über den Text im Juli 2022. Über 70 neue Artikel wurden in die Strafprozessordnung eingefügt.

Dabei stammt die EU-Verordnung zur Europäischen Staatsanwaltschaft aus dem Jahr 2017. Die Herausforderung für die Luxemburger Strafverfolgung war von Anfang an klar. Trotzdem brachte Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng) den Gesetzentwurf erst im Februar 2021 im Parlament ein. Hätte das Gesetz bis zum Start der EPPO im Juni 2021 in Kraft treten sollen, wären dem Parlament und dem Staatsrat nur fünf Monate für die Prozedur geblieben. Ein quasi unmögliches Unterfangen.
Justizministerium zögerte lange
Die Regierung hätte diese Frage bereits vor der Annahme der EU-Verordnung klären müssen, kritisierte der CSV-Abgeordnete Gilles Roth im Mai 2021. Sam Tanson schob die Verantwortung auf ihren Vorgänger Felix Braz (Déi Gréng). Sie sei erst seit 2019 Justizministerin, verteidigte sie sich in einer Sitzung der zuständigen Parlamentskommission. Die Regierung habe erst begonnen, am Entwurf zu arbeiten, nachdem die EPPO ihre internen Regeln festgelegt habe. Das war im Oktober 2020. Zudem habe das Ministerium Divergenzen in der Auslegung der Verordnung mit der EU-Kommission klären müssen.
Die Regierung nahm das Dossier EPPO insgesamt nicht sehr ernst. Die beiden delegierten Europäischen Staatsanwälte wurden im Eilverfahren nominiert – noch kurz vor dem Start. Doch offensichtlich störte sich niemand daran, dass sie keine klaren Befugnisse hatten. Es sei wenig wahrscheinlich, dass bereits in den ersten Monaten Ermittlungen in Luxemburg nötig seien, meinte Stéphanie Empain im Mai 2021.
Regierung und Parlament gingen davon aus, dass die Justiz eine Lösung finden würde, sollten in der Zwischenzeit Ermittlungen anfallen. Die EPPO gründe auf einer EU-Verordnung, die anders als eine Richtlinie unmittelbar und verpflichtend anzuwenden sei, betont das Justizministerium auf Nachfrage von Reporter.lu. Das EU-Recht habe Vorrang und das habe der Kassationsgerichtshof auch festgehalten, so das Ministerium. Die nationale Umsetzung nehme aber Zeit in Anspruch.
Trotzdem könne keine Rede von einer Blockade sein, da die Bestimmungen zur EPPO eben sofort anwendbar gewesen seien. Die Frage, ob die behinderte Ermittlung der Justizministerin bekannt war, beantwortet das Ministerium nicht. Nur so viel: Das Ministerium mische sich weder in die Arbeit der EPPO noch in die der Luxemburger Justiz ein.
Zweifel in der Justiz
Tatsächlich hätte es auch ohne nationales Gesetz die Möglichkeit gegeben, dass die delegierten Europäischen Staatsanwälte eine sogenannte „Mini-instruction“ genutzt hätten. Dabei kann die Staatsanwaltschaft Ermittlungsmaßnahmen beim Untersuchungsrichter beantragen, ohne dass dieser selbst ein Verfahren einleitet. Doch das gelte nur für „kleine“ Fälle und nicht für solche der EPPO, die per Definition komplex seien, argumentierten die Richter im Berufungsverfahren.
Der Kassationsgerichtshof urteilte, dass die EU-Verordnung über dem nationalen Recht stehe und die Berufungsrichter die Europäische Staatsanwaltschaft deshalb zu Unrecht abgewiesen hätten. Nun muss die Ratskammer der „Cour d’appel“ erneut über den Fall befinden. Auch wenn die Frage mit der Verabschiedung des Gesetzes nun hinfällig ist.
Die Konfrontation zwischen EPPO und Luxemburger Justiz kommt nicht von ungefähr. Die Kompetenzen, die die delegierten Staatsanwälte erhalten sollen, würden schlicht nicht in das Luxemburger Rechtssystem passen, lautete das Fazit mehrerer Stellungnahmen aus der Justiz. Es ging dabei auch um die Zukunft des Luxemburger Rechtssystems. „Diese Umsetzung stellt einen weiteren besorgniserregenden Schritt dar, der unter anderem die Abschaffung des Untersuchungsrichters und der Ratskammer billigt“, warnte die Ratskammer des Bezirksgerichts Luxemburg im März 2021.
Ein Berg an Straftaten
Sam Tanson unterschätzte nicht nur die Vorbehalte in der Justiz, sondern auch das Ausmaß der Straftaten, für die die EPPO zuständig ist. Dazu zählt alles, was dem EU-Budget Schaden zufügt: Betrug mit Subventionen, Betrug bei EU-Ausschreibungen, Korruption und auch Mehrwertsteuerbetrug. In den ersten sieben Monaten eröffnete die EPPO 576 Ermittlungsverfahren, heißt es im Jahresbericht 2021. Das zeige, dass das Niveau der Aufdeckung von Betrugsfällen „suboptimal“ sei, schlussfolgern die Europäischen Staatsanwälte. Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor.

In Luxemburg lief Ende 2021 bereits ein Ermittlungsverfahren. Dabei ging es um Betrug mit Mitteln aus dem EU-Budget in Höhe von knapp einer halben Million Euro. Ob es sich dabei um die Ermittlung handelt, die Gegenstand des Kassationsurteils war, ist unklar. „Die EPPO kommentiert keine laufenden Verfahren“, heißt es auf Nachfrage.
Die Luxemburger Justiz befürchtet, dass ein Berg an Fällen auf die Ermittler zukommt. Es wird vor einem Wettbewerb um die knappen Ressourcen der Kriminalpolizei gewarnt. Doch die Forderung nach mehr Personal und Ressourcen umschiffte Sam Tanson. Im konkreten Fall des Mehrwertsteuerbetrugs unterschätzt die Regierung, wie sehr Luxemburg in diese Netzwerke einbezogen ist, wie Recherchen von Reporter.lu zeigen.
Zukunft als EU-Hauptstadt
„Die Europäische Staatsanwaltschaft bestätigt den juristischen EU-Standort unserer Hauptstadt und unseres Landes“, betonte die Justizministerin bei der Abstimmung über das Gesetz im Juli 2022. Neben dem Europäischen Gerichtshof festigt die EPPO den ansonsten wankenden Status Luxemburgs als EU-Hauptstadt.
Die Regierung will den Standort zudem ausbauen. Sie hat Interesse an der künftigen EU-Behörde für die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung angemeldet. Das antworteten die Justizministerin und die Finanzministerin Yuriko Backes (DP) auf eine parlamentarische Anfrage.
Beschädigt die blockierte Ermittlung des EPPO den Ruf Luxemburgs als Gastland? Die Justizministerin ist sich keiner Schuld bewusst. Die Peinlichkeit bleibt.


