Mit Etienne Schneider verabschiedet sich ein ungewöhnlicher Politikertypus von der großen Bühne. Er wird als einer, wenn nicht sogar der Macher der Dreierkoalition in die Geschichte eingehen. Seine Bilanz als Minister ist jedoch durchwachsen. Ein Porträt zum Abschied.
„Etienne sagte mir: ‚Du bist der klare Wahlgewinner. Deshalb solltest du Premier werden.'“ Es ist ein Satz, an den sich Xavier Bettel sicher ewig erinnern wird. Ein Satz, ausgesprochen auf dem Balkon der Wohnung von Lucien Lux, am späten Abend des 20. Oktobers 2013. Ein Satz, der letztlich eine kleine politische Revolution besiegeln sollte.
Durch seinen Verzicht auf das höchste Amt der Regierung räumte Etienne Schneider an jenem Wahlabend die letzte Hürde zur Bildung der Dreierkoalition aus dem Weg. Schon zuvor war es vor allem Schneider, der darauf pochte, dass sich die drei Parteien schnell einig werden und Tatsachen schaffen müssten. Und es war ebenso Schneider, der später auf die Frage, ob er der wahre Macher von Blau-Rot-Grün sei, in der ihm eigenen selbstbewussten Lässigkeit sagte: „Ja, das kann man so sehen.“
Heute scheint jener Abend, an dem der LSAP-Politiker zum Macher eines historischen Regierungswechsels wurde, eine halbe Ewigkeit her. Sechs Jahre, eine Wiederwahl und viele politische Schlachten später hat Etienne Schneider offiziell seinen Rücktritt aus der Regierung angekündigt. Der selbsternannte Macher tritt ab und sorgt damit für eine tiefe Zäsur. Nach der Erkrankung von Felix Braz scheidet mit Schneider der Zweite des einstigen Führungstrios der blau-rot-grünen Pionierzeit aus der Koalition aus.
Von der Politik in die „Unabhängigkeit“
Warum der Rücktritt? „Ich will mein Leben zurück“, sagte Etienne Schneider bei seiner Abschieds-Pressekonferenz am Montag. Er habe immer gesagt, dass er nicht von einem politischen Amt abhängig sein wolle. Jetzt gehe er aus freien Stücken und mache Platz für eine Erneuerung. Es gebe viele Politiker, „die den richtigen Zeitpunkt, zu gehen, verpassten“, sagte er. Ein nicht allzu verdeckter Seitenhieb in Richtung aller Junckers und Asselborns, deren lange Wirkung Schneider in seiner Karriere hautnah miterlebte.
Privat bin ich ein umweltbewusster Typ. Ich kaufe bio, trenne meinen Abfall, und fahre nur ein Mal im Jahr mit meinem Rolls-Royce.“
Etienne Schneider
Während Kritiker seinen hingezogenen Abschied als unwürdiges Schauspiel bezeichnen, passt auch das eigentlich zur Person Etienne Schneider. Für ihn ist die Außenwirkung seiner Politik in der Regel zweitrangig. Auch sein Plan, jetzt in der Privatwirtschaft Geld zu verdienen, dürfte eigentlich niemanden überraschen. Schneider machte nie einen Hehl daraus, dass er eines Tages sein Regierungsamt freiwillig aufgeben werde. Schon früher wies der ehemalige Erste Regierungsrat scherzend darauf hin, dass man als hoher Beamter in Luxemburg dank diverser Posten in Verwaltungsräten weitaus mehr verdienen kann als ein Minister.
Wie schon als Minister will Schneider auch als Privatier in die Fußstapfen seines frühen Förderers Jeannot Krecké treten. Dass er sich als einen geeigneten Kandidaten für den Aufsichtsrat von ArcelorMittal sieht, bestätigte der Noch-Minister am Montag vor der Presse. Ansonsten sei es jedoch noch zu früh, um konkrete Karrierepläne zu verkünden. Unabhängig von der Anzahl und der Natur seiner kommenden Engagements, muss man sich um den langjährigen Wirtschaftsminister sicher keine Sorgen machen.
Schneider, der ungeliebte Sozialdemokrat
Etienne Schneider stand denn auch nie im Verdacht, ein überzeugter Sozialist zu sein. Damit ist er innerhalb der LSAP des Jahres 2019 auch nicht allein. Schneider war kein Fan jener parteiinternen Kämpfe um Anspruch und Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik. Das interessierte ihn weniger als die Möglichkeit, an vorderster Front Politik zu gestalten.
Gleichzeitig nutzte er die LSAP als Mittel zum Zweck – nämlich zum rasanten politischen Aufstieg. So bedankte sich Schneider am Montag ausdrücklich bei seiner Partei, und zwar aus dem einzigen Grund: „Ohne meine Partei hätte ich meine Karriere nie machen können.“ Doch auch in diesem Punkt war er keine Ausnahme. Er hat sich auf seinem Weg zur Macht wohl nur zielstrebiger und cleverer angelegt als mancher Parteifreund.

Seine Genossen haben ihn in den vergangenen Jahren jedoch eher geduldet als geliebt. Das lag jedoch weniger daran, dass er ein Liberaler im Sozialistenoutfit war. Bis zuletzt konnte Schneider aus seiner Legende zehren, dass sich die LSAP 2013 nur Dank ihm noch einmal in eine Regierungsbeteiligung retten konnte. Dafür verzieh ihm die Basis den nicht zu bestreitenden Abwärtstrend bei jeglichen Wahlen, die in den letzten sechs Jahren stattfanden.
Etienne Schneider ist für diesen Trend sicher nicht alleine verantwortlich. Doch verkörpert der scheidende Vizepremier mehr als andere die aktuelle Lage seiner Partei. Er hinterlässt eine Regierung, der immer mehr die Kraft zur politischen Gestaltung fehlt. Und eine LSAP, die sich seit Jahren in einer tieferen Sinnkrise befindet. Der Pragmatiker Schneider steht dabei symptomatisch für die luxemburgische Version der Krise der Sozialdemokratie. Eine Partei, der das Milieu der Arbeiterklasse abhanden gekommen ist, traf auf einen Politiker, der ohnehin nichts von Milieus, Ideologien oder anderen Hemmnissen nüchterner Realpolitik hält.
Die diesbezügliche Kritik am zu liberalen Vizepremier verdeckte aber auch die strukturelle Natur der Krise. Die LSAP ist schon lange keine Arbeiterpartei mehr, weil es nicht mehr allzu viele traditionelle Arbeiter (mit Wahlrecht) im Land gibt. Für all jene in der Partei, die das nicht wahrhaben wollen, war der latente Lebemann Schneider die perfekte Projektionsfläche, um von der generellen Entfernung der Partei von ihren einstigen Idealen abzulenken.
Schneider, der nüchterne Machtpolitiker
Dennoch: Als Retter seiner Partei wird Etienne Schneider nicht in Erinnerung bleiben. Sein Verdienst liegt auf einer anderen Politikebene. Als Macher der Dreierkoalition – und als Macher tout court – hat er die LSAP 2013 übernommen und sie seiner persönlichen Ambition untergeordnet. Sein Ziel war nie die Rettung der LSAP. Er wollte an die Macht. Und dafür ergriff er 2012 die erste Gelegenheit, als sein damaliger Chef Jeannot Krecké die Regierung ähnlich ruckartig verließ wie es Schneider jetzt angekündigt hat.
Die Chance, seine Macht zu vergrößern und zu zementieren, bot sich in der krisengeplagten Endphase der letzten schwarz-roten Koalition. Niemand strebte den folgenden Regierungswechsel mehr an als Etienne Schneider. „Als jemand, der die alte Regierung noch hautnah miterlebt hatte, wusste ich wahrscheinlich noch mehr als andere, warum ein Politikwechsel dringend nötig war, und habe dann auch ganz gezielt darauf hingearbeitet“, räumte er 2015 im Interview für das Buch „Blau. Rot. Grün. Hinter den Kulissen eines Machtwechsels“ ein.
Wir können kein Mickey-Maus-Land sein, das nur einen Finanzplatz hat und Dienstleistungen anbietet. Wir brauchen die Industrie, auch um nach außen als vollwertiges Land anerkannt zu werden.“Etienne Schneider
Seine Zielstrebigkeit und seinen kühlen Umgang mit der Macht eignete er sich erst mit der Zeit an. Noch während dem Studium wird er Mitglied in der LSAP. Nach ersten Jobs im Europaparlament und in der LSAP-Fraktion übernimmt er 1997 den einflussreichen Job des Fraktionssekretärs. Hier fühlt er sich wohl. Hier schnuppert er erstmals an der Macht. Und hier beginnt er auch, sich jene Netzwerke aufzubauen, aus denen er heute noch schöpft.
Eine Karriere zwischen Genie und Wahnsinn
Spricht man mit Weggefährten von Etienne Schneider, dann gibt es zunächst viel Bewunderung und Wertschätzung. Der heute 48-Jährige sei ein politisches und rhetorisches Ausnahmetalent, lerne schnell, schrecke weder vor Risiken noch vor unangenehmen Entscheidungen zurück. Doch selbst Freunde und Bewunderer weisen darauf hin, dass der Noch-Vizepremier eine Kehrseite hat: den Hang zur Selbstüberschätzung. So brillant und vereinnahmend er manchmal in direkten Gesprächen oder Verhandlungen agiert, so schnell kann seine Attitüde ins Unseriöse oder Vermessene ausarten.
Und doch: Bei vielen Menschen, und zwar nicht nur Unternehmern oder Selbstständigen, kam seine direkte Art gut an. Schneider sprach fast nie wie ein echter Politiker, eher wie ein kumpelhafter Manager. „No bullshit talk“, drückte es einer seiner Mitarbeiter im Ministerium einmal aus. Auch viele Journalisten konnten sich seinem unkonventionellem Charme als selbsternanntem „Straighttalker“ nicht entziehen. Anders als die Mehrheit seiner Luxemburger Politikerkollegen sprach Etienne Schneider in Interviews oft druckreif und nahm eher selten ein Blatt der politischen Korrektheit vor den Mund.

Das beste Beispiel war die Äußerung von Etienne Schneider, wonach das von der Dreierkoalition umgesetzte Spar- und Kürzungsprogramm („Zukunftspak“) im Rückblick ein Fehler gewesen sei. Schneider begründete seine Meinung damit, dass man die nötigen Anpassungen im Budget besser durch eine pauschale Steuererhöhung hätte vornehmen sollen. Gleichzeitig sendete er damit aber das Signal an die eigene Parteibasis, dass die Zeit der budgetären Zurückhaltung nun vorbei sei. Der liberale Koalitionspartner reagierte weniger amüsiert, aber das und die folgende mediale Kontroverse nahm der Vizepremier in Kauf.
Zwei große Patzer, die bleiben werden
Doch seine politisch-rhetorischen Vorzüge bargen auch das Potenzial für weniger glanzvolle Episoden. In seiner Zeit als Minister hatte Schneider nämlich durchaus prägende „Bullshit“-Momente. Beispiel Referendumspatzer: Bei einer Diskussionsrunde im Vorfeld der Volksbefragung von 2015 offenbarte Schneider größere Wissenslücken und musste mehrmals korrigiert werden. So wusste der Vizepremier nicht, wie es sich mit den genauen Kriterien zur von der Regierung geplanten Einführung des Wahlrechts für Ausländer verhielt.
Noch offensichtlicher wurde Schneiders Grenzgang zwischen Genie und Wahnsinn im vergangenen Wahlkampf. Während der Patzer in der Referendumskampagne noch als peinlicher Fehler durchging, verbreitete er mit seiner Aussage zu den „60 Millionen“ Steuerzahlungen von „Fage“ schlicht Falschinformationen. Als der Minister damit konfrontiert wurde, schob er die Sache zunächst auf „einen Beamten“, der ihm die falsche Information wohl gegeben habe. Später folgte dann ein ehrlicheres „Mea culpa“.
Als jemand, der die alte Regierung noch hautnah miterlebt hatte, wusste ich wahrscheinlich noch mehr als andere, warum ein Politikwechsel dringend nötig war, und habe dann auch ganz gezielt darauf hingearbeitet.“Etienne Schneider
Es sind nur zwei Beispiele, die zeigen, was selbst seine Freunde mit der „Kehrseite des Etienne Schneider“ meinen. Sein locker, stets schmunzelnd vorgetragener Klartext bewegt sich immer nah an der Grenze zum unterhaltsamen, aber politisch nur bedingt ernst zu nehmenden Geschwätz. So beschrieb der Vizepremier im Wahlkampf 2018 seine umweltpolitische Überzeugung einmal folgendermaßen: „Privat bin ich ein umweltbewusster Typ. Ich kaufe bio, trenne meinen Abfall, und fahre nur ein Mal im Jahr mit meinem Rolls-Royce.“
Hält er zu dieser magischen Grenze jedoch ausreichend Abstand, kann er politisch wirken und gestalten wie kaum ein anderer der aktuellen Politikergenerationen. Sowohl im Zwiegespräch kann er Leute von etwas überzeugen, was sie vorher ablehnten. Oder auch mal einen Parteikongress mit einer ebenso leidenschaftlich wie spontan anmutenden Rede auf seine Seite ziehen. Auch diese Seite gehört zur gemischten Bilanz des Politikers Etienne Schneider.
Probleme erkennen – und selbst erschaffen
Inhaltlich ist diese Bilanz etwas schwieriger zu ziehen. Das liegt zum einen an seiner langen Tätigkeit als Wirtschaftsminister, die weniger an konkreten Reformen als an längerfristigen ökonomischen Entwicklungen gemessen wird. Schneider oblag in den acht Jahren seiner Amtszeit am Boulevard Royal die schwierige Aufgabe, Luxemburgs hohe Abhängigkeit vom Finanzplatz zu verringern.
Ob und inwiefern ihm das durch sein Mantra der Diversifizierung gelang, wird sich erst noch zeigen müssen. Schon heute kann man ihm jedoch anrechnen, dass er es versucht hat – und als einer der ganz wenigen Spitzenpolitiker das eigentliche Problem überhaupt erkannt und benannt hat. „Wir können kein Mickey-Maus-Land sein, das nur einen Finanzplatz hat und Dienstleistungen anbietet“, sagte Schneider einst im Interview mit dem „Land“. „Wir brauchen die Industrie, auch um nach außen als vollwertiges Land anerkannt zu werden (…).“
Bei seiner Mission weg vom Mickey-Mouse-Land gab es aber auch eine Reihe von belegbaren Rückschlägen. Allem voran in jenem Sektor, der wie kein anderer am Namen Etienne Schneider hängen wird: dem Space Mining. Im Fall von „Planetary Resources“ musste der Wirtschaftsminister eine Fehlinvestition des Staates in Höhe von zwölf Millionen Euro einräumen. Seine Erklärung, wonach es sich bei den Space Resources eben um ein hoch riskantes Geschäft handele, konnte sein Scheitern dabei nicht beschönigen.
Eine Bilanz, die noch geschrieben werden muss
Sein Anspruch, Luxemburgs Wirtschaft nachhaltiger zu gestalten, war zwar ambitioniert. Doch das Beispiel des Rifkin-Prozesses zeigt, dass Schneiders politische Initiativen selbst nicht immer allzu nachhaltig weiterverfolgt wurden.
Eine Ausnahme ist vielleicht die Einführung eines neuen Passivhaus-Standards, eine unterschätzte Entscheidung zum Klimaschutz, die der scheidende Minister am Montag nochmals hervor strich. Gleichzeitig nahm der Wirtschaftsminister bei seiner Standortpolitik in Kauf, dass die sich im Land ansiedelnden Firmen das Problem der Umweltbelastung und des hohen Wasser- und Energieverbrauchs im Land nur noch weiter verschärften.

Auch in den anderen Ressorts, die er in seiner Regierungszeit verantwortete, ist die Bilanz durchwachsen. Zwar boxte Schneider bei Polizei und Armee zwei große Reformen durch. Im Nachhinein zeigt sich aber, dass beide Großprojekte nicht über alle Zweifel erhaben und in bestimmten Punkten wohl auch unausgegoren waren. Oder wie es der Minister zum Abschied selbst ausdrückte: „mat vill Misär verbonnen“.
In der Gesundheitspolitik zeigt sich schließlich, dass Schneider 2018 zwar mit großen Plänen angetreten war. Seine Karrierepläne offenbaren aber jetzt, dass hier im Grunde ein Jahr an Zeit verloren wurde, in dem sich ein anderer Minister in die brenzligen Dossiers hätte einarbeiten können.
Was nun, Herr Schneider?
Was am Ende bleibt: Etienne Schneider hat sich seinen Platz in der politischen Geschichte des Landes erkämpft. Er verfehlte zwar zwei Mal sein großes Ziel, Premier zu werden. Doch ohne seine machtpolitische Flexibilität am Wahlabend 2013 wäre er womöglich auch nie Vizepremier geworden. Und selbst als formale Nummer zwei der blau-rot-grünen Koalition erarbeitete er sich hinter den Kulissen schnell den Ruf, der heimliche Chef dieser Regierung zu sein.
Diese Entwicklung ging letztlich auf Kosten seiner Partei, wie Schneider am Montag selbst einräumte. Als im Oktober 2018 feststand, dass seine LSAP drei Sitze verlieren würde und auch er selbst Stimmen einbüßte, habe er gewusst, dass damit seine Tage in der Regierung gezählt sind. Er ließ sich jedoch bitten, so Schneider weiter, die Neuauflage der Dreierkoalition noch einmal in die Wege zu leiten.
Genau als das, als Macher oder zumindest aktiver Möglichmacher des politischen Wandels, wird Schneider denn auch in Erinnerung bleiben. Nicht als vorbildlicher Diener des Gemeinwohls. Eher als gewitzter Politiker, der sich am liebsten als visionärer Manager darstellt, und damit auch selbst bestimmen will, wann er ein neues Kapitel in seinem Leben schreibt.
Die interessierte Öffentlichkeit wird dabei sicher noch eine Weile genau hinschauen, inwiefern seine neuen Jobs mit dem demokratischen Ethos eines Ex-Ministers vereinbar sind. Doch auch diese Kritik an seinem jüngsten Wandel wird Etienne Schneider wohl mit einer Mischung aus Humor, Gelassenheit und einem Hauch Selbstüberschätzung zur Kenntnis nehmen.
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