Die EU setzt in der Migrationsbekämpfung immer mehr auf Drittstaaten, insbesondere Libyen. Die Deals scheinen erfolgreich: Die Zahl der Migranten, die nach Europa kommen, geht zurück. Die Situation der Migranten aber wird immer prekärer.
Es scheint wie ein Déjà-vu: Wieder harrt ein Rettungsschiff vor der europäischen Küste aus, nachdem es Migranten aus dem Mittelmeer gerettet hat. Wieder schließt ein EU-Staat seine Häfen, um zu vermeiden, dass die Geretteten unter seine Verantwortung fallen. Wieder diskutieren europäische Staatschefs und Minister darüber, wer für die Menschen an Bord verantwortlich ist.
Dieses Mal geht es – wieder – um ein Rettungsschiff der Hilfsorganisation „Sea Watch“. Ihr Boot, die „Sea Watch 3“, steckt vor der sizilianischen Küste fest. Italiens Innenminister Matteo Salvini weigert sich, die Geretteten auf italienischen Boden zu lassen. Denn nach dem Dublin-Prinzip wäre Italien sonst für die Geflüchteten verantwortlich – es sei denn andere EU-Mitglieder erklären sich bereit, einige von ihnen aufzunehmen.
Inzwischen hat „Sea Watch“ den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeschaltet. Es sei nicht länger hinnehmbar, dass EU-Staaten das internationale Seerecht brechen und die Seenotrettung von EU-Verhandlungen abhängen, so ein Sprecher der Organisation.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Straßburger Gericht in Migrationsfragen angerufen wird. Die Zustände in europäischen Flüchtlingslagern, die Menschenrechtsverletzungen durch die libysche Küstenwache, die direkte Abschiebung von Flüchtlingen aus Spanien … Geht es um die Eingrenzung der Migration, spielt auch die Frage der Einhaltung von Menschenrechten eine Rolle.
Brüssel stützt sich auf Statistiken
In Europa drehen sich die Diskussionen hauptsächlich um eine Frage: Wie viele Menschen erreichen die EU und wie kann man diese Zahl reduzieren? Immer wieder betonte der EU-Kommissar für Migration in den letzten Wochen, wie erfolgreich die europäische Migrationspolitik sei. „2018 hat gezeigt, dass die gemeinsame europäische Politik Ergebnisse liefert“, verkündete der griechische Kommissar Dimitris Avramopoulos stolz in einer Rede Anfang des Jahres. Dank der EU-Migrationspolitik sei die sogenannte Flüchtlingskrise bewältigt: Die Zahl irregulärer Grenzüberschreitungen sei so niedrig wie zuletzt 2013. Die EU habe geliefert.
.@Avramopoulos “Joint & comprehensive #European approach is delivering:
✅ Number of irregular border crossings down to 150,000 = lowest figure since 2013.
✅ EU helped rescue over 690,000 people at sea since 2015, reducing loss of life at sea by 36% compared to four years ago.” pic.twitter.com/KdclJfP5Ns— Mina Andreeva (@Mina_Andreeva) January 9, 2019
Worüber Brüssel jedoch ungerne spricht, sind die Konsequenzen dieser Politik. Die rückläufigen Zahlen sind nur dank bilateraler Abkommen möglich, die entweder einzelne Mitgliedsstaaten, oder die EU als Block, mit Drittstaaten geschlossen haben. So wird die Migrationskontrolle an Drittländer delegiert. Sie halten die Migranten aus Europa fern. Als Entschädigung gibt es finanzielle Ressourcen und andere Anreize. Die EU drückt ihrerseits bei Menschenrechtsverletzungen ein Auge zu, wie die Expertin für Migrationsrecht Violeta Moreno-Lax im Interview mit REPORTER kritisierte.
Sieht man sich nicht nur Zahlen, sondern die letzten Berichte von Menschenrechtsorganisationen sowie die der UN-Flüchtlingsorganisation an, so sieht die Lage ganz anders aus. Menschenrechtsverletzungen gegen Migranten haben zugenommen. Die Situation entlang der Mittelmeerroute wird immer prekärer und nicht sicherer. Erst kürzlich sind wieder Menschen im Mittelmeer ertrunken, während Rettungsmissionen immer schwieriger werden. Die Zahl der Migranten, die im Mittelmeer sterben, hat proportional sogar zugenommen. Und auch die Lage jener, die es nicht bis auf Schlauchboote schaffen, hat sich verschlechtert.
„Kein Ausweg aus der Hölle“
Das beste Beispiel für die Schattenseite der europäischen Migrationspolitik ist wohl Libyen. Obwohl der Staat sich im Bürgerkrieg befindet, arbeitet die EU seit 2017 mit Tripolis zusammen, um die Migrationsströme über das Mittelmeer zu stoppen. 2018 hat die libysche Küstenwache laut dem UNHCR rund 15.000 Migranten abgefangen. Während die Zahl der Migranten, die Europa erreichen, abnimmt, stecken immer mehr Menschen in libyschen Lagern fest.
Im nordafrikanischen Staat bekämpfen sich unterdessen unterschiedliche Milizen. Die international anerkannte Regierung der nationalen Einheit kontrolliert lediglich den Westen des Landes. Ansonsten haben Milizen der Nationalen Befreiungsarmee die Kontrolle. „Libyen gibt es nicht“, betont der EU-Abgeordnete Frank Engel (CSV). „Als Nation existiert das Land nur auf dem Papier.“ Laut dem UNHCR brauchen rund 1,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Es gibt über 200.000 Binnenvertriebene.
Zudem hat das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen rund 43.000 Flüchtlinge registriert. Diese befinden sich allerdings nur in den Lagern im Westen des Landes, zu denen internationale Organisationen Zugang haben. Doch es gibt zahlreiche inoffizielle Camps. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass sich bis zu 680.000 Migranten und Asylsuchende in Libyen aufhalten.
Libya migrants scribble on prison wall: ‚People were sold here‘. Some ask « where is UNHCR? », well, we shall repeat that UNHCR cannot be & talk to whoever it wants & when & wherever it wants in Libyan jails. Access remains difficult. https://t.co/GDG0cwgadS
— vincent cochetel (@cochetel) December 27, 2018
„Kein Ausweg aus der Hölle“, beschreibt die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ (HRW) in ihrem jüngsten Bericht die Lage der in Libyen gestrandeten Migranten. Auf rund 70 Seiten erstellt HRW den Zusammenhang zwischen der europäischen Migrationspolitik und den Menschenrechtsverletzungen in Libyen. Folter, sexuelle Belästigung, unmenschliche Zwangsarbeit und Sklaverei erwarten die Männer, Frauen und auch Kinder in den libyschen Lagern. Und um sie herum wird um die Macht in dem gescheiterten Staat gekämpft. Oft sei es gar nicht einmal möglich zu wissen, unter wessen Kontrolle ein Lager steht. In einem Augenblick ist es die Regierung der nationalen Einheit, im nächsten sind es Milizen.
Menschenschmuggel als Überlebensstrategie
Das Wissen um die Menschenrechtsverletzungen in den Lagern ist nicht neu. Nicht nur einzelne Medien, die darüber berichten; auch die EU-Mitglieder wissen, was in den Camps passiert. Bereits 2017 sprach Dimitris Avramopoulos über die „entsetzlichen Zustände“, in denen Menschen in Libyen festgehalten werden.
Dennoch verstärken die EU und insbesondere einzelne Mitgliedsstaaten ihre Zusammenarbeit mit dem Land. Dennoch fließen die meisten Gelder nicht in Rückführungen oder Umsiedlungen, sondern in eine verstärkte Grenzkontrolle und die Ausbildung der libyschen Küstenwache. Darum geht es etwa bei der „Operation Sophia“, deren Daseinsberechtigung nach dem Rückzug Deutschlands zur Zeit offen diskutiert wird.
Die Daseinsberechtigung – das ist offiziell die Zerschlagung des Geschäftsmodells von Menschenhändlern und Schmugglern, durch die die illegale Migration gestoppt werden soll. Doch wie etwa Peter Tinti und Tuesday Reitano in „Migrant. Refugee. Smuggler. Saviour“ schreiben, ist das Bild des schlechten Schleusers, der Migranten ausbeutet und sie in Gefahr begibt, nur die eine Seite der Medaille.
Neben den großen kriminellen Netzwerken, ist das „Geschäftsmodell Menschenschmuggel“ für viele zu einer Überlebensstrategie geworden. In Libyen etwa ist die Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg am Boden. Das Schleusen von Migranten wurde für viele Libyer zur einzigen Möglichkeit, sich ein Einkommen zu sichern. Legale Migrationswege gibt es zudem kaum noch. Ohne die Hilfe von Schmugglern das Bürgerkriegsland Syrien zu verlassen, halten Experten für unmöglich. In Libyen dürfte die Lage nicht anders sein – insbesondere in den von Milizen kontrollierten Gebieten. Die meisten Flüchtlinge, die in libyschen Lagern festsitzen, kommen übrigens aus Syrien, dem Irak und Eritrea.
EU-Maßnahmen destabilisieren Libyen
Der Versuch der EU, das Geschäftsmodell zu zerschlagen, scheint allein vor diesem Hintergrund problematisch. Er hat aber noch einen Nebeneffekt: Indem die Gelder in die Migrationskontrolle, und nicht in die Demokratisierung des Landes fließen, wird die ohnehin schon prekäre Lage in dem Bürgerkriegsland zusehends destabilisiert.
Wie das „Institute for Security Studies“ (ISS) in einer rezenten Studie schreibt, ist die europäische Migrationsbekämpfung vor allem zum „Geschäftsmodell“ der dortigen Milizen geworden. Letztere führten einst die kriminellen Schleusernetzwerke an. Jetzt verdienen sie ihr Geld mit dem Gegenteil. Ob als Mitglied der libyschen Küstenwache, als Teil der Sicherheitsbranche, der Strafverfolgungsorgane oder als Aufseher der Flüchtlingslager – die ehemaligen Kämpfer sind jetzt dafür verantwortlich, die Flüchtlinge auf- und festzuhalten.
Auch dieses Problem ist den EU-Institutionen bekannt. So steht etwa in einem Bericht zur EU-Mission zur Unterstützung der Grenzkontrolle (EUBAM), dass eine „unbekannte Zahl“ früherer revolutionärer Kämpfer in die libysche Küstenwache integriert worden sei. Keiner von ihnen habe eine Ausbildung dafür absolviert.
Die Wissenschaftler des ISS warnen: Indem Milizen und Warlords in die Migrationsbekämpfung einbezogen werden, werden sie politisch legitimiert und ihre Verbrechen vergessen gemacht. Der Einstieg in das Migrationsgeschäft kommt einer politischen Rehabilitation gleich.
Laut HRW arbeiten Schmuggler und Regierungsbeamte zudem Hand in Hand. Der Europaabgeordnete Frank Engel beschreibt die Situation in Libyen geradezu als „Kreislaufwirtschaft“, in der Flüchtlinge zur Währung geworden sind: „Man schickt die Menschen auf ein Floß, um sie dann wieder abzufangen.“ Der „pseudo-offiziellen Regierung“ gehe es demnach vor allem darum, die EU als Geldgeber auszunutzen.
Migranten als Faustpfand
Eine Demokratisierung des Landes ist angesichts dieser Entwicklungen bloß Wunschdenken. Und liegen die Wissenschaftler mit ihrer Annahme richtig, dass der Menschenschmuggel durch den Bürgerkrieg geradezu angekurbelt wird, dann ist der europäische Ansatz kontraproduktiv. Der UN-Sonderbeauftragte für das Mittelmeer, Vincent Cochetel, macht immer wieder auf dieses Paradox aufmerksam.
Criminalizing the work of NGOs saving lives is just wrong. I do not see the same amount of energy spent in Europe to stop the oil smuggling business which benefits to human traffickers & militias in Libya, why?
https://t.co/JcO3yQXBc6 pic.twitter.com/viBvo7d3H9— vincent cochetel (@cochetel) November 21, 2018
Dennoch weicht die EU nicht von ihrem Ansatz ab. Dass Libyen laut der UN kein sicherer Staat ist und eine Rückführung von Migranten das Prinzip der Nichtzurückweisung verletzt, ist dabei kein Hindernis. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass die EU die „unhaltbaren Zustände“ zwar anerkennt, gleichzeitig aber die libysche Küstenwache dabei unterstützt, Migranten abzufangen und in eben diese Zustände zurückzubringen.
Derweil ist Libyen nur ein Beispiel für die zahlreichen Deals, die Europa mit nordafrikanischen Staaten schließt. Erst im Dezember hat die EU ihre Unterstützung für Marokko bei der Bekämpfung illegaler Migration verstärkt. Experten warnen seit langem, dass solche Deals auch die politischen Machtverhältnisse beeinflussen. Migranten werden zum Faustpfand und verschaffen Drittstaaten eine stärkere Verhandlungsposition: Und verhandelt wird dabei auch über die Toleranzgrenze bei Menschenrechtsverletzungen und autoritärer Staatsführung.
Problematisches Asylrecht
Die EU-Institutionen kennen diese Probleme, handeln jedoch auf Druck der Mitgliedstaaten. So lautet eine der Erklärungen für dieses Paradox. Der britische EU-Abgeordnete Claude Moraes (S&D) weist etwa darauf hin, dass es zwischen „EU“ und „Mitgliedstaaten“ zu unterscheiden gilt. Die aktuelle Politik werde insbesondere von rechtspopulistischen Regierungen getragen. Auch der Migrationsexperte bei „Oxfam“, Raphael Shilhav, betont, die EU-habe wenig Handlungsfreiraum solange einzelne Mitgliedstaaten derartig Druck machen. Doch die EU-Migrationspolitik setzt nicht erst seit Salvini auf die Auslagerung der Migrationskontrolle.
Das Problem ist auch ein rechtliches. Haben die Migranten einmal europäischen Boden unter den Füßen oder werden von Schiffen unter europäischer Flagge gerettet, fallen sie unter geltendes EU-Recht und demnach auch unter das Dublin-Abkommen. Das Eingreifen der libyschen Küstenwache löst dieses Problem. Viele Migranten verlieren dadurch jegliche Rechtssicherheit. Libyen etwa hat die UN-Flüchtlingskonvention nie unterschrieben. Illegale Migration gilt dort als Verbrechen: Die „Schuldigen“ können auf unbestimmte Zeit festgehalten werden.
Dass die EU zu verhindern versucht, dass Migranten das Dublin-Abkommen umgehen, zeigt auch der Vorschlag des EU-Rates vom Juni, sogenannte Ausschiffungsplattformen in Drittstaaten einzurichten. Wie ein Rechtsgutachten des Europäischen Parlaments zeigt, müsste die EU dann unter Umständen keine Verantwortung mehr für die Migranten tragen: Etwa wenn sie in internationalen Gewässern gerettet und zu Plattformen in Drittstaaten gebracht würden. Dann umgehen sie nebenher auch den Vorwurf, sie würden Flüchtlinge in ein Bürgerkriegsland abschieben. Der Vorschlag liegt inzwischen aber aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft von Drittstaaten auf Eis. „Die Anreize reichen nicht aus“, kommentiert Claude Moraes.
Eine Reform des Dublin-Abkommens aber steckt in der Sackgasse, weil sich die EU-Mitglieder nicht einigen können. Raphael Shilhav betont: „Das EU-Asylsystem gibt keinen Anreiz, um Menschenrechte zu wahren.“ Derweil wird bei den Diskussionen um die Bremsung der Migration und das Fernhalten von Migranten eine Gruppe vergessen: die Migranten selbst. Sie tragen lediglich Konsequenzen der politischen Entscheidungen und harren auf Rettungsbooten aus, während EU-Staaten über ihr Schicksal verhandeln.