Dutzende Atomwaffen aus der Zeit des Kalten Krieges sind immer noch in Europa stationiert. Ihre Abschaffung ist nicht in Sicht – im Gegenteil: Sie sollen bald modernisiert werden. Luxemburg will sich wider den geopolitischen Trend für eine globale Abrüstung einsetzen.

In Silos tief unter der Erde lagern in Europa bis heute US-Atombomben aus der Zeit des Kalten Krieges, viele davon in unmittelbarer Nähe Luxemburgs. Die taktischen Waffensysteme waren Teil der Abschreckungsstrategie der westlichen Alliierten gegen den Ostblock. In den 1970er Jahren befanden sich über 7.000 Atomwaffen in Europa. Heute sind es noch rund 100, verteilt auf NATO-Stützpunkte in Belgien, Deutschland, Holland und Italien. Weitere bis zu 70 Nuklearwaffen der USA lagern in der Türkei. Hinzu kommen laut Schätzungen rund 200 britische und knapp 300 französische Atomsprengköpfe, die sich in den jeweiligen Atomnationen befinden.

Eigentlich soll die genaue Lage der US-Raketen ein Geheimnis sein. Entsprechende Informationen werden von den NATO-Staaten weder bestätigt noch dementiert. Dennoch ist seit langem bekannt, an welchen Standorten sich die letzten Bomben befinden.

Zu den Lagern gehört das rheinland-pfälzische Büchel, rund 80 Kilometer Luftlinie von Luxemburg entfernt. Oder das belgische Kleine Brogel, wo man vom Großherzogtum aus in rund zwei Autostunden hinreisen kann. Die Sprengkraft der taktischen B61-Bomben, die auf diesen Militärstützpunkten lagern, beträgt etwa das Dreifache jener Bomben, die 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden.

Überbleibsel aus dem Kalten Krieg

Bis heute haben diese Atomwaffen ihre symbolische Bedeutung nicht verloren. Sie sind bei aller Überwindung des Kalten Krieges ein Beweis für die anhaltend starke Verbindung zwischen Europa und den USA. Die Waffen sind Teil des Prinzips der „nuklearen Teilhabe“: Im Rahmen der Abschreckungspolitik der NATO haben sich die USA dazu verpflichtet, jene europäischen Alliierten, die keine Atomwaffen besitzen, zu schützen.

Das Prinzip: Die Raketen können nur auf Befehl der USA eingesetzt werden. Doch die Bündnispartner treffen die technischen Voraussetzungen, die dazu nötig sind. Sie stellen etwa die Kampfflugzeuge, mit denen die Bomben abgeworfen werden.

Wir müssen weltweit neu über Rüstungskontrolle diskutieren.“François Bausch, Verteidigungsminister

In den 1970er Jahren hatte das Prinzip durchaus Erfolg. Mit dem ersten Rüstungskontrollvertrag von 1987 (INF-Vertrag), und dessen Nachfolgeverträgen, wurde die Aufrüstungsspirale zwischen Ost-und West durchbrochen. Auch die Atomwaffen in Europa wurden nach und nach abgezogen. Bis auf die rund 180 Sprengkörper, die ihren Standort bis heute nicht verlassen haben.

Bei diesen handelt es sich um verschiedene Versionen der Atombombe des Typs B61. Die Wasserstoffbombe stellt heute den Großteil des amerikanischen Atomwaffenarsenals. Es handelt sich um ein Grundmodell, welches in verschiedenen Ausrichtungen existiert – etwa als taktische oder strategische Waffe.

In Europa lagern ausschließlich taktische B61-Bomben. Während strategische Bomben ganze Landstriche zerstören können, sind taktische Nuklearwaffen für militärische Ziele auf dem Schlachtfeld ausgerichtet.

Die Frage der Sicherheitsmängel

Über die Jahre gab es immer wieder Bedenken über Sicherheitsmängel bei den europäischen Militärbasen. Die Sicherheitsvorkehrungen seien nicht so hoch wie in den Vereinigten Staaten: Zu der Schlussfolgerung kam bereits 1974 eine Untersuchung des US-Senats. Zum gleichen Schluss kam noch 2008 eine Untersuchung durch die US Air Force.

Bedenken über eine mangelnde Kontrolle wurden auch nach dem Eindringen der grünen EU-Abgeordneten Tilly Metz auf den Flugplatz Kleine Brogel geäußert. Die Luxemburger Europa-Abgeordnete und ihre Kolleginnen waren übrigens nicht die ersten, die auf den Flugplatz eingedrungen sind. Zudem gab es auch Pläne für einen Anschlag: 2004 wurde der ehemalige Fußballer Nizar Trabelsi aus diesem Grund zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Besonders nach den Terroranschlägen in Brüssel 2016 wurde die Frage aufgeworfen: Was wäre, wenn Terroristen an die Bomben gelangten? Doch nur weil jemand auf eine Militärbasis komme, heiße das noch lange nicht, dass er auch an die Bomben käme, betont der NATO-Experte Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München im Gespräch mit REPORTER.

Nicht nur lagern sie in spezifischen Silos unter der Erde, sie sind auch mit spezifischen Sicherheitssystemen versehen und wiegen rund 350 Kilogramm. „Um sich die Bomben anzueignen, müsste schon eine ganze militärische Macht dahinterstehen“, erklärt Masala. Nuklearwaffen zu besitzen, bedeute noch lange nicht, dass man sie zum Einsatz bringen könne.

Modernisierung des Arsenals geplant

In Kleine Brogel ist eine amerikanische Task Force von rund 300 Soldaten für die Bewachung der nuklearen Sprengkörper zuständig. Rund 90 Millionen Dollar geben die USA jährlich aus, um ihre Atomwaffen in Europa zu unterhalten, Personalkosten ausgenommen. Auch ein Teil des NATO-Budgets fließt in die Instandhaltung der Waffen.

Doch aktuell planen die USA eine umfassende und kostspielige Modernisierung der B61-Bomben. Dabei sollen die verschiedenen Modelle der B61 in ein neues Design umgewandelt werden, die B61-12. Kostenpunkt für die Laufzeitverlängerung: über fünf Milliarden Euro.

Wir brauchen ein Druckmittel, um Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen.“ Carlo Masala, Universität der Bundeswehr in München

Diese soll nicht nur zielgenauer sein, sondern auch deutlich weitere Ziele anfliegen können. So warnt etwa der US-amerikanische Nuklearexperte William Arkin, die B61-12 sei nicht nur taktisch, sondern auch strategisch einsetzbar. Arkin befürchtet, bei der Modernisierung handele es sich nicht lediglich um eine Laufzeitverlängerung, wie es die US-Regierung behaupte. Er schätzt das neue Modell als neue nukleare Waffe ein.

Dem pflichtet auch der Direktor des „Nuclear Information Project“, Hans Kristensen, bei. Dass die neue B61 zielgenauer einsetzbar wäre und die gleichen Ziele wie ihre Vorgänger mit weniger Sprengstoff erreichen könne, würde die Hemmschwelle senken, schreibt der Wissenschaftler. Die Idee eines begrenzten nuklearen Krieges rücke dadurch näher. Ab 2020 wollen die USA die neuen Bomben in Europa stationieren. Die NATO-Bündnispartner hatten den Maßnahmen zur Laufzeitverlängerung übrigens zugestimmt.

Neuer Anstoß zur Grundsatzdebatte

Lange war es um die in Europa gelagerten B61-Raketen still. Doch im Rahmen der rezenten geopolitischen Entwicklungen haben sie wieder an Bedeutung gewonnen. Protestaktionen wie die von Tilly Metz haben demnach vor allem den Zweck, die Debatte um eine nukleare Abrüstung wieder auf die Tagesordnung zu bringen.

„Wir sind nicht größenwahnsinnig, wir glauben nicht, dass wir die Welt retten können“: Luxemburgs Verteidigungsminister François Bausch formuliert im Interview mit REPORTER das Ziel einer atomwaffenfreien Welt, macht sich über die Umsetzung aber nicht viele Illusionen. (Foto: Matic Zorman)

Dahinter stecken eine Reihe von grundsätzlichen Fragen: Wie reagiert Europa auf die Spannungen zwischen den Großmächten USA, Russland und China? Haben die alten Bündnisse noch Bestand? Liegt das Prinzip der atomaren Abschreckung im Interesse der europäischen Staaten?

Europa riskiert wieder zum Brennpunkt eines atomaren Rüstungswettlaufes werden: So beschreibt jedenfalls der NATO-Experte Carlo Masala die derzeitige Lage. Dabei ist die Auflösung des INF-Vertrages zwischen Russland und der USA nur das letzte Glied in einer langen Aufrüstungskette seitens Russland, den USA, und weiteren Großmächten, so der Politikwissenschaftler.

Die Zeichen stehen auf Aufrüstung

Der Vertrag, der 1987 zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow geschlossen wurde, gilt als Meilenstein der Rüstungskontrolle im Kalten Krieg. Er legte den Grundstein für die Vernichtung von atomaren Mittelstreckenraketen. Es folgten weitere Verträge, welche die Verbote ausweiteten.

Mit dem Aussetzen des Vertrages ist ein Wendepunkt erreicht. Der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, John Bolton, hält atomare Rüstungsverträge seinerseits für überholte Altlasten aus dem Kalten Krieg. So könnten die USA auch von einem neuen „New Start“-Abkommen absehen. Der Vertrag, der die Eingrenzung strategischer Nuklearwaffen regelt, läuft 2021 aus.

Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben.“ NATO-Strategie aus dem Jahr 2010

Die Zeichen stehen also auf Aufrüstung: Die USA entwickeln neue Mittelstreckenraketen, Russland droht mit Angriffen auf Entscheidungszentralen der westlichen Welt. Und die NATO-Staaten diskutierten wieder über die Stationierung landgestützter Nuklearraketen in Europa.

Zwar sprach sich der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg jüngst gegen solche Maßnahmen aus, doch gleichzeitig warnte er die Bündnispartner, die atomare Teilhabe in Europa nicht aufzugeben. Deutschland etwa diskutiert aktuell über die Anschaffung eines neuen Kampfflugzeuges, damit die Bundesregierung ihren Teil der NATO-Verpflichtungen erfüllen kann. Wählt man ein US-amerikanisches Flugzeug, welches schnell einsatzbereit ist? Oder ein europäisches Modell, das erst in einem langwierigen Prozess von den USA zertifiziert werden muss? Solche Entscheidungen bestimmen, in welche Richtung die Debatte gehen wird.

Diplomatie durch Abschreckung

Wie soll und kann Europa also auf das neue Wettrüsten reagieren? Sollen sich die NATO-Partner weiterhin hinter die USA stellen? Oder zur atomaren Abrüstung aufrufen? Für Carlo Masala gibt es nur eine Antwort:  „Man muss aufrüsten“, fordert der Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München.

Für ihn geht die Diskussion in Europa in die falsche Richtung. Eine Entkopplung zwischen europäischer und amerikanischer Sicherheit schätzt der NATO-Experte als „fatal“ ein. Jetzt über Abrüstung zu sprechen, sende das falsche Signal: „Wir brauchen ein Druckmittel, um Russland an den Verhandlungstisch zu zwingen“.

Für Masala hat das NATO-Prinzip der Abschreckung aus der Zeit des Kalten Krieges demnach bis heute Bestand. Er erklärt das Paradox so: Nur wenn man mit Rüstung dagegen halten kann, befindet man sich strategisch überhaupt in einer Position, in der man neue Abrüstungsverträge aushandeln kann. Und das bedeutet für die NATO-Staaten ohne Atomwaffen eben auch, weiterhin am alten Bündnis mit den USA festzuhalten.

Luxemburg für globale Abrüstung

Neue Rüstungsverträge werden dringend gebraucht. Denn die politischen Gefüge sind heute ganz andere als noch während der Zeit des Kalten Krieges, sagt auch François Bausch (Déi Gréng). „Es ist nicht mehr zeitgemäß, dass die Rüstungsverträge nur Russland und Amerika betreffen“, betont Luxemburgs neuer Verteidigungsminister.

„Wir haben rechtliche Abkommen aus den 1970er und 1980er Jahren. Da waren Pakistan, China oder Iran noch gar nicht dabei. Die können heute alles machen, was sie möchten. Wir müssen weltweit neu über Rüstungskontrolle diskutieren“, fordert François Bausch.

Es kann nur eine Strategie geben. Und die lautet, dass nukleare Waffen eines Tages komplett verschwinden.“François Bausch, Verteidigungsminister

Doch im Gegensatz zu Carlo Masala glaubt François Bausch nicht daran, dass eine solche Diskussion durch eine neue Aufrüstung geführt werden kann. Auf die Frage, ob er für atomare Abrüstung sei, antwortet der grüne Minister mit einem klaren „Ja“. „Es kann nur eine Strategie geben. Und die lautet, dass nukleare Waffen eines Tages komplett verschwinden.“

Luxemburgs Minister betont, dass Luxemburg mit dieser Haltung nicht allein sei. „Im NATO-Rat gibt es zur Zeit keine Mehrheit, die aufrüsten will“, so Bausch. Tatsächlich gehen die Meinungen innerhalb des NATO-Bündnisses stark auseinander. Eine Mehrheit für eine bestimmte Rüstungspolitik auszumachen, ist angesichts diverser nationaler Interessen aber stets schwierig.

Was Bauschs Optimismus allerdings dämpfen dürfte. Bei der NATO handelt es sich seit jeher, und weiterhin, auch um eine ausdrückliche Atomgemeinschaft: „Solange es Kernwaffen gibt, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben“, steht im letzten strategischen Konzept der NATO von 2010. Nach einem Gipfel in Warschau 2016 hielt die Allianz zudem mit Bezug auf Nuklearwaffen fest: „Die strategischen Streitkräfte der Allianz, besonders die der Vereinigten Staaten, sind die oberste Garantie der Sicherheit der Allianz.“

Geopolitischer Realismus

Ein Ziel, zwei Vorgehensweisen: Sowohl Bausch und Masala sprechen sich für neue Abrüstungsverträge aus – doch der Weg dahin ist ein anderer. Doch welche diplomatischen Mittel bleiben den Partnern, wenn das Prinzip der Abschreckung hinfällig wäre?

„Natürlich meint niemand, man könne diplomatischen Druck ausüben, indem man sich im Sonntagsanzug hinstellt und es ist nichts dahinter. Man muss schon militärisch aufwarten können“, übt sich François Bausch in geopolitischem Realismus. Doch unterscheidet er ganz klar zwischen militärischer und nuklearer Drohkulisse.

Insbesondere für Luxemburg halten sich die diplomatischen Einflussmöglichkeiten aber in Grenzen. „Wir sind nicht größenwahnsinnig, wir glauben nicht, dass wir die Welt retten können. Doch wir müssen an vorderster Front für eine Abrüstung kämpfen“, erklärt Bausch. Der Impuls dazu könnte etwa innerhalb der Gremien der Vereinten Nationen entstehen.

So führt Bausch etwa das Beispiel des deutschen Außenministers Heiko Maas an, der sich für eine verstärkte globale Abrüstung ausspricht. Doch wie wenig Rückhalt ein solches Projekt hat, zeigt etwa die Teilnehmerliste der entsprechenden Konferenz zur Rüstungskontrolle, die Maas diesen Monat in Berlin abhalten will. Jene Staaten, die tatsächlich im Besitz von Atomwaffen sind, oder welche entwickeln, schicken nur drittklassige Vertreter, bemerkt der Experte Carlo Masala.

Keine gemeinsame europäische Antwort

Sollte es eine Koalition von Staaten geben, die sich gegen ein neues Wettrüsten stellt, müsste Luxemburg dabei sein, fordert derweil François Bausch. Doch die Debatte geht aktuell eben in eine andere Richtung.

Auch der Abzug der weiter in Europa lagernden US-Atomwaffen ist nicht abzusehen. Die Debatte flammt in den betroffenen Staaten zwar immer wieder auf. Doch selbst politische Initiativen von Regierungsmitgliedern, wie jene des früheren deutschen Außenministers Guido Westerwelle vor knapp zehn Jahren, verlaufen im Sand. Der mittlerweile verstorbene FDP-Politiker hatte sich konsequent, aber vergeblich für eine atomfreie Bundesrepublik eingesetzt.

Zudem scheitern die Abrüstungsbemühungen daran, dass es keine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik gibt. Diese wäre aber besonders beim Thema Atomwaffen angebracht. Unabhängig vom Ausgang des wieder auflammenden Konflikts der Großmächte dieser Welt steht nämlich spätestens 2020 die Modernisierung der in Europa stationierten Nuklearraketen an. Dass bis dahin die Massenvernichtungswaffen komplett vom Kontinent verschwinden, wie es sich François Bausch wünscht, ist nicht allzu wahrscheinlich.


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