Unter der Leitung der EU-Kommission kaufte auch Luxemburg das Medikament Remdesivir. Dabei rät die Weltgesundheitsorganisation mittlerweile von der Verwendung ab. Die Wirksamkeit gegen Covid-19 ist fraglich, die Verträge mit dem US-Pharmaunternehmen Gilead bleiben geheim.
„Teuer, aber nutzlos“, titelte die „Süddeutsche Zeitung“ Ende November zum Medikament Remdesivir. Es geht dabei um einen Milliardenvertrag, der auf den ersten Blick aus dem Ruder lief. Am 8. Oktober verkündete die Europäische Kommission, dass mit dem US-Pharmakonzern Gilead ein Rahmenvertrag über die Lieferung von mindestens 500.000 Dosen Remdesivir abgeschlossen wurde. Doch, wie „EU Observer“ berichtete, erhielt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) am 9. Oktober ein Update zu einer groß angelegten Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das Ergebnis: Das antivirale Medikament erfüllte die Erwartungen als potentielles Wundermittel gegen Covid-19 nicht.
Am 20. November folgte dann die offizielle Warnung der internationalen Organisation: „Die WHO rät von der Nutzung von Remdesivir bei Covid-19-Patienten ab.“ Es gebe keine Belege dafür, dass das Medikament den Verlauf der Krankheit oder die Überlebenschancen verbessere.
Dennoch kauften die EU-Mitgliedstaaten große Mengen des Mittels – mindestens für 220 Millionen Euro. Nur Frankreich und Luxemburg hätten sich nicht beteiligt, meldete „Le Monde“ am 27. November. Doch diese Information erweist sich heute als falsch.
Hunderttausende Euro auf dem Spiel
Luxemburg hat sowohl den Rahmenvertrag mit Gilead unterschrieben und anschließend auch eine „geringe Menge“ Remdesivir bestellt. Dies bestätigt das Gesundheitsministerium auf Nachfrage von Reporter.lu. Die genaue Menge sei vertraulich – gemäß einer Klausel im Vertrag mit Gilead, so eine Sprecherin von Ministerin Paulette Lenert weiter.
15 Mitgliedstaaten haben Journalisten trotzdem mitgeteilt, wie viel sie gekauft haben. Das Gesundheitsministerium hat eigenen Angaben zufolge „wesentlich“ weniger Dosen gekauft als Luxemburg im EU-Rahmenvertrag zugewiesen waren. Nutzt man den gleichen Verteilungsschüssel wie bei der Bestellung von Impfstoffen, dann hätte Luxemburg einen Anspruch auf knapp 700 Dosen gehabt.
Das klingt zunächst nach wenig, doch jede Dosis kostet 1.900 Euro. Die Regierung hat demnach mehrere Hunderttausend oder gar Millionen Euro für ein Medikament gezahlt, dessen Wirkung laut der WHO mehr als fraglich ist.
Luxemburg an negativer Studie beteiligt
Doch die Geschichte hat eine ironische Wendung. Die Wirksamkeit von Remdesivir ist unter anderem Gegenstand der „Discovery“-Studie, an der das Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL) und die „Hôpitaux Robert Schuman“ (HRS) teilnehmen. Deren Zwischenergebnisse flossen in die groß angelegte Untersuchung namens „Solidarity“ ein. Und es war diese Studie, aufgrund welcher die WHO-Expertengruppe sich gegen die Verwendung von Remdesivir aussprach.
Die untersuchten antiviralen Medikamente – darunter Remdesivir – hätten wenig oder keine Wirkung bei Covid-19-Patienten gezeigt. Weder bei der Sterblichkeit noch bei der Notwendigkeit künstlicher Beatmung oder der Dauer des Krankenhausaufenthaltes hätten sich signifikante Effekte nachweisen lassen, so die Schlussfolgerungen in einem wissenschaftlichen Artikel. Die Auswertung basiert auf den Daten von 2.750 Patienten, denen Remdesivir verabreicht wurde.

„Le Monde“ nahm an, dass die Beteiligung an „Discovery“ Frankreich davor bewahrt habe, Remdesivir zu kaufen. In Luxemburg passierte das nicht: Die Prozedur zum Kauf des Medikaments sei angelaufen, bevor die Ergebnisse der Studie vorlagen, betont das Gesundheitsministerium. Auch die Empfehlung der WHO sei dafür zu spät gekommen. Die Luxemburger Behörden haben sich auf die Zulassung des Medikaments durch die EMA im Juli verlassen.
Eine Anfrage an die Luxemburger Leiterin der „Discovery“-Studie, Dr. Thérèse Staub, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Pharmakonzern greift Ergebnisse an
Anders als die nationalen Regierungen und die Europäische Kommission wurde der Pharmakonzern Gilead von der WHO frühzeitig über das Abschneiden in der „Solidarity“-Studie informiert. Nun ist das Unternehmen öffentlich um Schadensbegrenzung bemüht: Die WHO-Studie erlaube keine tragfähigen Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit von Remdesivir, heißt es in einer E-Mail von Gilead an Ärzte, die Reporter.lu vorliegt.
Es habe keine Kontrollgruppe gegeben, der ein Placebo verabreicht wurde, so ein Vorwurf des US-Konzerns. Das sei aber bei einer anderen Studie (ACTT-1) der Fall gewesen. Deren Ergebnisse sind deutlich positiver für Gilead: Remdesivir erlaube es, den Krankenhausaufenthalt bei Covid-19 deutlich zu verkürzen. Damit begründete das Unternehmen auch den hohen Preis des Medikaments: Es sei immer noch billiger als den Patienten länger auf einer Intensivstation zu behalten, formulierte es „Le Monde“.
Als eingeschränkte Rechtfertigung für die Bestellung verweist das Gesundheitsministerium auf eine Stellungnahme der EMA. Die EU-Agentur will die Ergebnisse der „Solidarity“-Studie genau auswerten und gegebenenfalls eine neue Bewertung vornehmen. Die EMA betont ihrerseits, dass das Abraten der WHO vor allem mit dem Preis des Medikaments zusammenhänge.
Die gute Nachricht: Remdesivir hat keine signifikanten Nebenwirkungen. Anders also wie im Fall eines weiteren Medikaments, Chloroquin, das eine Zeit lang als „Wundermittel“ im Kampf gegen Covid-19 gepriesen wurde und auch in Luxemburg zu Beginn der Pandemie verstärkt zum Einsatz kam. Mittlerweile wird das Malariamedikament, das ebenso Teil der „Discovery“-Studie war, jedoch nicht mehr verabreicht.
Arzneimittelagentur fehlt weiterhin
Im Prinzip läuft die „Discovery“-Studie zu Remdesivir in Luxemburg allerdings weiter. Es müsse weiter bei einer großen Zahl an Patienten getestet werden, erklärte Thérèse Staub laut „Wort.lu/fr“. Es sei nach der Warnung der WHO allerdings schwierig, neue Freiwillige zu finden, so die Leiterin der Studie im CHL.
Tatsächlich ist die Einschätzung der WHO umstritten. In Deutschland will das Gesundheitsministerium Remdesivir weiter einsetzen, meldete die Nachrichtenseite „Euractiv“. Für bestimmte Patienten in einer bestimmten Phase der Erkrankung habe das Medikament eine lindernde Wirkung, sind die deutschen Behörden überzeugt.
Ähnlich sehen das die belgischen Experten. Dass Belgien für 4,3 Millionen Euro Remdesivir gekauft habe, sei „kein Skandal“, zitiert RTBF einen führenden Mediziner. Es gebe durchaus ein Potential, dass Patienten durch Remdesivir schneller aus dem Krankenhaus entlassen werden könnten – und damit ein dringend benötigtes Krankenhausbett freimachen.
Anders als Belgien oder Deutschland hat Luxemburg aber ein weiteres Problem. Als einziges Land in der EU hat Luxemburg keine eigene Agentur für die Überwachung und Kontrolle von Medikamenten. Es fehlt damit die Infrastruktur, um die Wirksamkeit von Remdesivir einzuschätzen und damit auch die Entscheidung zu einer kostspieligen Bestellung eigenständig zu bewerten. Allerdings kündigte Gesundheitsministerin Paulette Lenert am vergangenen Freitag an, dass Luxemburg „bald“ seine eigene Medikamentenkontrolle bekomme.