Luxemburgs Sozialisten verkaufen sich stets als Garanten der sozialen Gerechtigkeit im Land – nicht ganz zu unrecht. Gleichzeitig ist die LSAP als langjährige Regierungspartei aber auch für die Kehrseite des Luxemburger Wirtschaftsmodells verantwortlich. Eine Analyse.

„Wir sind die Partei, ohne die unser Land viel ärmer wäre“, rief Dan Kersch am Wochenende seinen Genossen zu. Wie kein anderer beschwor der Vizepremier und Arbeitsminister auf dem Parteitag in Bascharage den Mythos der LSAP als Architektin des Sozialstaats und leidenschaftliche Verteidigerin von sozialen Errungenschaften.

So weit, so richtig: Es war tatsächlich die LSAP, die in den vergangenen Jahrzehnten in unterschiedlichen Regierungskoalitionen sozialpolitische Akzente setzte. Auch in dieser Legislaturperiode konnte die altehrwürdige Arbeiterpartei dem Koalitionsprogramm ihren roten Stempel aufdrücken – Stichwort: Erhöhung des Mindestlohns, zusätzlicher Urlaubstag, neuer Feiertag. Die Umsetzung weiterer klassischer sozialistischer Forderungen lässt seitdem jedoch auf sich warten.

Vergessliche Regierungspartei

Die LSAP als Garant eines Landes, dessen Sozialstaat weltweit seinesgleichen sucht: So wollen die Sozialisten sich gerne darstellen. Doch es ist nur die halbe Wahrheit. Denn die LSAP war und bleibt als langjährige Regierungspartei nicht nur für soziale Wohltaten verantwortlich. Sie sind auch für den Ursprung des Luxemburger Reichtums verantwortlich, der den bemerkenswerten Ausbau des hiesigen Wohlfahrtsstaats überhaupt ermöglichte.

Das Loblied auf das Luxemburger Sozialmodell hat leider einen Haken: Bei weitem nicht alle Menschen profitieren davon.“

So ließ Dan Kersch in seiner Rede auch nur in einem Nebensatz anklingen, dass die Bilanz der Sozialisten nicht in allen Bereichen den eigenen Ansprüchen genügt. Dass multinationale Konzerne fast keine Steuern bezahlen, sei nämlich für einen guten Sozialisten unerträglich. Luxemburg sei an dieser Entwicklung nicht gerade unschuldig, deutete der Vizepremier an. Man müsse denn auch Verantwortung für Dinge übernehmen, die in der Regierungszeit der Sozialisten „vielleicht nicht so gut gelaufen sind“.

Apropos Regierungszeit: Die LSAP war in den vergangenen 40 Jahren nur zwei Mal (1979-1984 und 1999-2004) nicht an der Regierung beteiligt. Von 1984 bis 1999 regierte sie drei Legislaturperioden mit der CSV. Und jetzt ist sie seit 2004 ohne Unterbrechung in ihrer vierten Wahlperiode an der Macht. In all diesen Jahren stellte die LSAP ohne Ausnahme immer den Vize-Premier und den Wirtschaftsminister.

Pragmatische Wirtschaftspolitik

Bis heute schaffen es die Verantwortlichen der Partei aber immer wieder den Eindruck zu erwecken, als ob sie mit dem Aufbau des Luxemburger Wirtschaftsmodells nur am Rande zu tun hätten. Als ob der Finanzplatz, mit all seinen mitunter kritikwürdigen Auswüchsen, plötzlich vom Himmel gefallen wäre. Als ob es eine informelle Arbeitsteilung in der Regierung gegeben hätte: Steuerschlupflöcher, das war die CSV. Die gerechte Verteilung des Geldes, das so ins Land floss, das war die LSAP.

Die Realität sieht freilich anders aus. Nicht zuletzt die LSAP-Wirtschaftsminister Robert Goebbels, Jeannot Krecké und Etienne Schneider galten als überzeugte und äußerst pragmatische Verfechter des Luxemburger Wirtschaftsmodells – mit all seinen Facetten. Er sei nun mal dafür zuständig, dass „das Geld, das man verteilen will, vorher erwirtschaftet wird“, brachte es Etienne Schneider einmal auf den Punkt.

Ohne eine gut funktionierende Wirtschaft kann kein Land durch Umverteilung des wirtschaftlichen Reichtums für mehr Gerechtigkeit und Solidarität (…) sorgen.“Grundsatzprogramm der LSAP

Doch mit welchen Methoden hat Luxemburg seinen Reichtum eigentlich erwirtschaftet? Bei weitem nicht nur, aber eben auch durch die außer Kontrolle geratene „Industrie“ der Steuervermeidung – erst für Privatleute und bis heute auch für international operierende Unternehmen. Genau jene Konzerne also, die Sozialisten und Sozialdemokraten auf europäischer Ebene zu einer ehrlicheren und effektiveren Steuermoral zwingen wollen.

Auch Luxemburgs Sozialisten fordern regelmäßig mehr globale Steuergerechtigkeit. Doch zuhause haben sie jahrzehntelang eine Politik mitgestaltet, die dazu führte, dass das Großherzogtum zum Hort von internationalen Multis wurde, die hier ihre Steuern „sparen“.

Im Vergleich zum Ausland hat Luxemburgs Linke denn auch ein geradezu freundschaftliches Verhältnis zur Finanzbranche. Zudem haben die rezenten LSAP-Wirtschaftsminister in Sachen Diversifizierung der Wirtschaft, also der Verringerung der Abhängigkeit von der Finanzbranche, eine recht maue Bilanz vorzuweisen.

Sozialdemokratische Ideologie

Einer der wenigen Luxemburger Sozialisten, die dieses Paradox offen ansprechen, ist Alex Bodry. „Natürlich sind wir uns bewusst, dass wir durch manche Schlupflöcher bestimmte Aktivitäten in Luxemburg gefördert haben“, sagte der frühere LSAP-Fraktionschef einst im Interview mit REPORTER. Das sei ein wichtiger Grund für den großen, aber „relativen Wohlstand“ sowie die vielen sozialen Errungenschaften früherer Regierungen unter Beteiligung der Sozialisten.

Dies erkläre auch „unseren im Vergleich mit anderen sozialistischen Parteien eher pragmatischen Ansatz in diesen Fragen“, so Alex Bodry weiter. Dieser Pragmatismus werde auch von vielen Anhängern der Partei geteilt. „Auch unsere Basis weiß um die Bedeutung des Finanzplatzes und die daraus resultierenden Möglichkeiten, die Dynamik unserer Volkswirtschaft und damit unseren Sozialstaat aufrecht zu erhalten.“

Leider kann es nicht allen so gut gehen, wie in einem Steuerparadies, das lange von Sozialisten regiert wurde.“

„Ziel sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik ist stetig wachsender Wohlstand und eine gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft“, heißt es im berühmten Godesberger Programm der SPD aus dem Jahre 1959. Der Text gilt als Gründungsmanifest des modernen Wandels von der sozialistischen Arbeiterpartei zur sozialdemokratischen Volkspartei; also einer Entwicklung, wie sie die allermeisten Mitte-Links-Parteien Europas gekannt haben.

Auch die LSAP hat diesen programmatischen Wandel vollzogen, wenn sie auch dem Namen nach weiter an der Tradition der „sozialistischen Arbeiterpartei“ festhält. In ihrem Grundsatzprogramm von 2002 findet man keine dogmatische Kapitalismuskritik mehr, sondern ein deutliches Bekenntnis zur „sozialen und ökologischen Marktwirtschaft“. Auf deren Grundlage wolle man „ökonomische Leistungsfähigkeit und soziale Sicherheit“ für alle Menschen erreichen.

Die Achillesferse der LSAP

Auf den ersten Blick ist diese Ideologie mit dem besagten Paradox luxemburgischer Sozialdemokratie vereinbar. Wirtschaftsfreundlicher Sozialist muss kein Widerspruch in sich sein. Denn die Marktwirtschaft ist für die LSAP kein Selbstzweck, sondern nur ein realpolitisches Mittel, um den Menschen ein höchstmögliches Maß an sozialer Sicherheit zu bieten. Der Finanzplatz ist demnach nur ein spezifisch luxemburgisches Mittel zum Zweck sozialdemokratischer Verteilungspolitik.

Und in der Tat: Bei allen bestehenden sozialen Problemen wie der Wohnungsnot und dem steigenden Armutsrisiko, hat das Luxemburger Modell durchaus zu einem großen Wohlstand und hohen Sozialstandards für eine Mehrheit der Bevölkerung geführt. Dieser Teil des sozialistischen Selbstlobs, wie es auf Parteikongressen und im Wahlkampf regelmäßig angeführt wird, ist selbst von politischen Konkurrenten weitgehend unbestritten.

Alle Menschen sind gleich, aber wir Luxemburger sind noch etwas gleicher als die anderen.“

Doch dieses Loblied auf das Luxemburger Sozialmodell hat leider einen Haken: Bei weitem nicht alle Menschen profitieren davon. Der Erfolg der Luxemburger „Nischenpolitik“ konnte auf Dauer nur auf Kosten anderer Staaten entstehen. Wenn Reiche und Konzerne über Luxemburg (und andere Staaten) ihre Steuerlast bis auf ein Minimum reduzieren, dann stellt sich nicht nur die Frage der Gerechtigkeit für all jene Wähler der LSAP, die proportional mehr Steuern bezahlen. Zudem fehlen diese Steuereinnahmen zwangsläufig in anderen Ländern.

Dabei heißt es im Grundsatzprogramm der LSAP: „Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde.“ Dort steht nicht „Luxemburger“, sondern „Menschen“. Dieser humanistisch-kosmopolitische Ansatz ist neben der sozialen Gerechtigkeit ein weiterer Wesenszug der sozialistischen Ideologie. Gleichzeitig ist es ihre Achillesferse. Oder frei nach George Orwell: Alle Menschen sind gleich, aber wir Luxemburger sind noch etwas gleicher als die anderen.

Zur Wahrheit der sozialistischen Erfolgsgeschichte gehört also auch: Leider kann es nicht allen so gut gehen, wie in einem Steuerparadies, das lange von Sozialisten regiert wurde.


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