„Es gibt kein blau-rot-grünes Projekt mehr“, sagte Alex Bodry vor den Wahlen. Heute betont der LSAP-Fraktionschef den pragmatischen Regierungswillen der drei Parteien. Ein Gespräch über sozialistische Ideale, schwer einlösbare Versprechen und eine längst überfällige Steuererhöhung.
Interview: Christoph Bumb
Herr Bodry, gibt es eigentlich noch ein blau-rot-grünes Projekt?
Es gibt ein Regierungsprogramm. Meine Aussage vor den Wahlen war: Im Wahlkampf sind die Programme der drei Parteien sehr unterschiedlich und sprechen ihre jeweilige Klientel an. Ich sagte aber auch, dass bei einem gemeinsamen Willen zu Kompromissen eine Fortführung dieser Koalition möglich ist. Genau das ist auch eingetreten. Der Wille zur Zusammenarbeit ist offensichtlich vorhanden.
Bei einem gemeinsamen Projekt schwingt ja aber die Idee mit, dass es etwas Verbindendes gibt, das über das pragmatische Schmieden von Kompromissen hinausgeht. So wie 2013 mit dem Anspruch der Modernisierung der Gesellschaftspolitik. Gibt es das noch?
Ich glaube, ich war jetzt bei fünf Koalitionsverhandlungen dabei. Was mir auch dieses Mal auffiel: Es gibt einen gemeinsamen Willen, die 2013 begonnene Modernisierungspolitik fortzuführen. Diese Koalition will die Zukunft gestalten, nicht abwarten und nicht nur reagieren. Das Verhalten von manchen Mitgliedern der Delegationen hat mich aber schon an klassische Verhandlungen zwischen LSAP und CSV erinnert, mehr als beim letzten Mal. Das ist aber auch normal. 2013 saßen außer uns Sozialisten fast nur Regierungsneulinge am Verhandlungstisch. Dieses Mal hatte jede Partei Leute mit Regierungserfahrung dabei. Wir kennen und vertrauen uns alle auch noch besser als vor fünf Jahren. Es waren also durchaus normalere Koalitionsverhandlungen.
Sie sprechen von Modernisierungspolitik. Was heißt das jetzt konkret?
Es gilt zum Beispiel, die Digitalisierung sowohl anzutreiben als auch angemessen vorzubereiten. Das wirkt sich auf viele Bereiche aus, von der Bildung über die Steuern bis hin zum Arbeitsrecht. Es geht aber auch um Kreislaufwirtschaft, neue Arbeitszeitmodelle, die Umstellung unserer Landwirtschaft, mehr Anstrengungen beim Klimaschutz. All das geht deutlich aus dem neuen Regierungsprogramm hervor und basiert auch nicht nur auf den Ideen einer einzigen Partei.
Der Wechsel ist in einer Demokratie enorm wichtig. Auch die Dreierkoalition soll keine Dauerinstitution sein.“
Im Wahlkampf hatten Sie noch von wesentlichen Streitpunkten, besonders zwischen LSAP und DP, gesprochen. Worin haben sich diese bei den Verhandlungen geäußert?
Das hat sich geäußert in zum Teil sehr langen Diskussionen. Oder auch durch Vorbehalte von der einen oder anderen Seite, die erst einmal aus dem Weg geräumt werden mussten. Unsere Forderung einer sofortigen Erhöhung des Netto-Mindestlohns um 100 Euro gehört dazu. Auch wenn das für uns eine absolute rote Linie war, wurde diese Forderung auf Anhieb nicht von allen unseren Partnern geteilt. Ähnliches gilt für den zusätzlichen Urlaubstag bzw. den neuen Feiertag. Da gibt es heute einen gewissen Widerstand der Arbeitgeber, die ja als Interessenverband eher den Liberalen nahe stehen. Andererseits hat sich die DP mit der weiteren Senkung der Betriebsbesteuerung durchgesetzt. Das komplette Programm zählt und wird von allen drei Partnern getragen.
Im Rückblick: Ist nicht das wirkliche blau-rot-grüne Projekt, dass man stabil und dauerhaft ohne die CSV regieren kann?
Ich habe immer gesagt und sage es auch heute: Der Wechsel ist in einer Demokratie enorm wichtig. Auch die Dreierkoalition soll keine Dauerinstitution sein. Von einem dauerhaften Phänomen kann aber auch noch keine Rede sein. Es gab nach den Wahlen eine Mehrheit und damit die Chance, eine angefangene Arbeit fortzuführen. Das war weitaus wichtiger als der Wille, die CSV auf Teufel komm raus aus der Regierung fernzuhalten. Ich schließe nicht aus, dass dieser Wille bei einzelnen Personen in den drei Parteien besteht. Aber letztlich regelte alles Weitere doch das Wahlergebnis. Es gab ja außer einer Koalition aus CSV und DP keine andere realistische Machtoption. Da war schnell klar, dass die drei Parteien ihre gute Zusammenarbeit der vergangenen Jahre fortsetzen würden.

Sie regieren zwar ohne die CSV, aber in gewisser Weise regieren Sie wieder wie die CSV. Was antworten Sie jenen Leuten, die behaupten, Blau-Rot-Grün würde jetzt wieder die gute, alte Gießkannenpolitik betreiben?
Dass man versucht, so vielen Menschen wie möglich Vorteile zu verschaffen, erscheint mir persönlich zunächst keine schlechte Politik zu sein. Wenn das Geld dafür da ist. Die Frage stellt sich natürlich neu, wenn die Mittel des Staates knapper sind. Dann muss man gezielter vorgehen. Momentan ist es nicht unlogisch, dass wir versuchen, breitere Schichten der Bevölkerung von der guten wirtschaftlichen Lage profitieren zu lassen.
Steht diese Politik denn nicht im direkten Widerspruch zu einem klassischen sozialistischen Ansatz, der soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung erreichen will?
Ich denke nicht. Ein Motto, das ich mir gerne zueigen mache, ist das des britischen Labour-Chefs Jeremy Corbyn: Wir machen Politik für die Vielen und nicht nur für Wenige. Es wäre gefährlich, wenn das Gefühl aufkommt, dass von den Maßnahmen des Staates immer nur dieselben einen Gewinn erzielen. Man darf die breite Mittelschicht nicht vergessen, besonders in Luxemburg.
Für die Akzeptanz einer Reform ist es sicher wichtig, dass es keine massiven Verlierer gibt. Man wird aber wohl nicht daran vorbeikommen, diese Aussage etwas zu nuancieren.“
Es gilt ja aber auch die Aussage, etwa von der DP-Vorsitzenden Corinne Cahen zur Steuerpolitik, wonach niemand zu den Verlierern der blau-rot-grünen Politik gehören soll. „Keine Verlierer“ heißt doch, dass auch jene Leute profitieren, die eigentlich schon genug haben. Damit wird jegliche Umverteilung doch unmöglich, oder?
Ob das so durchgezogen werden kann, ist eine ganz andere Frage. Ich bin etwas skeptisch, ob man diesen Anspruch einhalten kann. Solche Aussagen wurden ja auch immer im Zusammenhang mit der Umstellung unseres Systems der Einkommensteuer, der sogenannten Individualisierung, gemacht. Ich finde mich in der Zielsetzung einer Individualbesteuerung zwar wieder. Doch man muss sich bewusst sein, dass das nur ganz schwer zu machen sein wird. Da kommt einiges auf uns zu, auch ein noch nicht genau abschätzbarer Kostenpunkt. Diese grundlegende Reform muss gut vorbereitet sein und sie muss sitzen. Für die Akzeptanz einer Reform ist es sicher wichtig, dass es keine massiven Verlierer gibt. Man wird aber wohl nicht daran vorbeikommen, diese Aussage etwas zu nuancieren.
Ist diese Reform denn überhaupt machbar in fünf Jahren?
Es wird sehr schwer. Wir müssen jetzt sehr zügig die Arbeitsgruppen einsetzen und sämtliche technische Vorbereitungen treffen. Dazu gehört auch, dass man sich in allen Details mit den Erfahrungen jener Länder auseinandersetzt, die diesen Schritt gemacht haben. Ich denke an die skandinavischen Länder, Belgien zum Teil oder auch Österreich, die alle aus ähnlichen Systemen wie unserem kommen.
Dennoch: Steuerpolitik gilt gemeinhin als wirksames Mittel, um soziale Gerechtigkeit herzustellen …
… Das klingt gut. Dieser Ansatz wird aber zum Beispiel von mindestens einer Partei nicht geteilt, mit der wir aktuell in einer Koalition sind …
Aber auch die Errungenschaften einer LSAP, die seit bald 35 Jahren mit einer Ausnahme immer an der Regierung war, halten sich an dieser Stelle doch in Grenzen. Warum ist das so?
Das Problem ist, dass wir Bürgern, die aufgrund ihres geringen Einkommens keine Steuern bezahlen, über diesen Weg nicht helfen können. Durch das System des Steuerkredits haben wir aber ein Mehr an Gerechtigkeit im System erreicht. Nicht jeder weiß das, aber der „Crédit d’impôt“ wird in Luxemburg ausbezahlt, funktioniert also fast wie eine Subvention. Das ist eine echte Umverteilung, die jetzt auch noch über den Weg der Erhöhung des Netto-Mindestlohns weiter ausgebaut wird.
Nicht für jeden wird die Grundsteuer nach der Reform höher ausfallen. Aber hier gilt sicherlich nicht der Spruch, dass keiner zu den Verlierern gehören wird.“
Die Frage bezog sich auch nicht allein auf die Einkommensteuer. Warum sind die klassischen linken Forderungen nach einer Vermögensteuer, Erbschaftssteuer oder höheren Besteuerung von Kapitalerträgen für die LSAP kein Thema?
Das ist richtig. Diese Punkte stehen nach längerer Abwägung auch nicht mehr unserem Wahlprogramm. Wir wissen, dass unser Wirtschaftssystem auf einer Attraktivität aufgebaut ist, die unter anderem mit diesen Fragen zusammenhängt. Wenn man an einem Rädchen dreht, weiß man nicht, was das für die wirtschaftliche Dynamik des Standortes bedeutet. Deshalb waren wir da immer sehr vorsichtig. Ich bleibe persönlich aber der Meinung, dass der Grad der Besteuerung des Besitzes und des Einkommens aus Arbeit sich aneinander annähern müssen. Darum haben wir uns in den Verhandlungen auch erfolgreich dafür eingesetzt, dass die temporäre Besteuerung des Mehrwerts aus Immobilienverkäufen zu einem Viertelsatz in dieser Legislaturperiode nicht verlängert wird.
Welche Priorität nimmt die schon 2013 angekündigte Reform der Grundsteuer ein?
Wir streben bei der Grundsteuer wieder einen stärkeren Lenkungseffekt an. Steuern sind ja nicht nur dazu da, um Einnahmen des Staates zu generieren, sondern auch, um bestimmte Verhaltensweisen der Bürger zu fördern oder zu unterbinden. Andererseits muss diese Reform im Gesamtkontext einer nächsten Steuerreform betrachtet werden. Wir als LSAP wollen hier eine höhere Besteuerung des Grundbesitzes im Einklang mit einer weiteren Entlastung von Einkommen aus der Arbeit.
Kann man also schon festhalten, dass die Grundsteuer ansteigen wird?
So einfach ist diese Aussage nicht. Es stimmt, die Steuer ist in Luxemburg so niedrig wie wohl in keinem anderen Land, das eine ähnliche Besteuerung kennt. Die Bemessungsgrundlage der Grundsteuer wurde bei uns quasi seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr angepasst. Das ist nicht normal. Deshalb denke ich schon, dass das gesamte Steueraufkommen ansteigen muss. Mit den aktuellen minimalen Beträgen lässt sich jedenfalls kein Lenkungseffekt erzielen. Nicht für jeden wird die Grundsteuer nach der Reform höher ausfallen. Aber hier gilt sicherlich nicht der Spruch, dass keiner zu den Verlierern gehören wird.
Heute haben wir ein sehr ambitioniertes Regierungsprogramm, das unter Umständen, also bei größeren konjunkturellen Veränderungen, nicht in allen Punkten durchgesetzt werden kann.“
Die Reform wurde wie gesagt schon 2013 angekündigt. Warum kam es nicht dazu? Und was ist eigentlich aus der eigens dafür eingerichteten Arbeitsgruppe geworden?
Die Arbeitsgruppe ist stecken geblieben. Hier hat sich schnell gezeigt, dass einerseits das Anliegen einer parteiübergreifenden Reform, also unter Beteiligung der CSV so nicht möglich war. Andererseits hat die Koalition den Arbeitsaufwand zur Vorbereitung der Reform wohl unterschätzt. Am Ende wurde der übergreifenden Steuerreform die Priorität eingeräumt. So ereilte die Reform der Grundsteuer letztlich das gleiche Schicksal wie auch schon in früheren Legislaturperioden.

Individualbesteuerung, Grundsteuer-Reform, Gratis-Transport, Ausbau der Infrastrukturen, Cannabis-Legalisierung, Verfassungsreform: Dieser Koalition mangelt es nicht an Ambition. Von den Mehrausgaben des Staates, aber auch schon rein zeitlich und von den politischen Ressourcen her: Hat man sich dieses Mal vielleicht zu viel vorgenommen?
Das Programm dieser Koalition ist sehr optimistisch. Hinzu kommt, dass wie in der Vergangenheit bei den Verhandlungen keine detaillierten Berechnungen der Kosten des Programms angestellt wurden. Es handelt sich aber um ein Programm für fünf Jahre. Dabei muss man sich natürlich stets an die Rahmenbedingungen anpassen. In den vergangenen Jahren haben wir ein Sparprogramm umgesetzt, obwohl heute im Rückblick klar wird, dass die Situation ab 2013 nicht so dramatisch war, wie damals angenommen wurde. Heute haben wir ein sehr ambitioniertes Regierungsprogramm, das unter Umständen, also bei größeren konjunkturellen Veränderungen, nicht in allen Punkten durchgesetzt werden kann. Eine Regierung muss immer so flexibel bleiben, dass sie auf die Herausforderungen der jeweiligen Zeit reagieren kann.
Sie haben Luxemburgs Wirtschaftsmodell mit seinen Vor- und Nachteilen bereits angesprochen. Inwiefern fühlen Sie sich als Sozialist eigentlich dafür verantwortlich, dass dieses Land seinen Wohlstand bis heute und zum Teil auf Kosten anderer der optimierten steuerlichen Behandlung von Großkonzernen zu verdanken hat?
Das ist schon eine Herausforderung. Sie werden aber sehen, dass Sozialisten und Sozialdemokraten etwa bei den Europawahlen aus der Steuergerechtigkeit einen ihrer wichtigsten Programmpunkte machen werden. Bei den liberalen und konservativen Parteien gibt es da viel mehr Vorbehalte. Ich bin froh, dass wir uns in Luxemburg in den vergangenen Jahren doch sehr bewegt haben. Wir sind sicher noch unter Beobachtung. Wir haben bei der internationalen Steuergerechtigkeit aber deutliche Fortschritte erzielt. Der Vorwurf des Schmarotzertums, der uns regelmäßig und systematisch aus dem Ausland gemacht wurde, ist nicht mehr so allgegenwärtig. Wir müssen aber weiter daran arbeiten. Auch wir als LSAP sind der Meinung, dass multinationale Konzerne mit Milliardengewinnen gerecht besteuert werden müssen.
Auch unsere Basis weiß um die Bedeutung des Finanzplatzes und die daraus resultierenden Möglichkeiten, die Dynamik unserer Volkswirtschaft und damit unseren Sozialstaat aufrecht zu erhalten.“
In Luxemburg gehört die LSAP aber auch zu jenen Parteien, die das System der Steuervermeidung in Luxemburg jahrzehntelang mitgetragen haben. Ist das kein Anlass zur Selbstkritik?
Natürlich sind wir uns bewusst, dass wir durch manche Schlupflöcher bestimmte Aktivitäten in Luxemburg gefördert haben. Man darf sich auch keine Illusionen darüber machen, dass wenn einige Unterschiede in den Steuersystemen Europas verschwinden werden, diese Aktivitäten zumindest zurückgehen werden. Die Risiken für unseren relativen Wohlstand und demnach auch die sozialen Errungenschaften liegen auf der Hand. Das erklärt sicherlich unseren im Vergleich mit anderen sozialistischen Parteien eher pragmatischen Ansatz in diesen Fragen. In meiner langen Erfahrung wurde ich auch oft von LSAP-Mitgliedern darauf angesprochen, dass wir aufpassen müssen, welche Positionen wir in Steuerfragen einnehmen. Auch unsere Basis weiß um die Bedeutung des Finanzplatzes und die daraus resultierenden Möglichkeiten, die Dynamik unserer Volkswirtschaft und damit unseren Sozialstaat aufrecht zu erhalten. Aber wie gesagt: In den vergangenen Jahren war viel Bewegung in diesen Fragen. Und ich schließe nicht aus, dass sich das in Zukunft aus sozialistischer Sicht weiter entwickeln wird.
Werden Sie diese Entwicklung weiter prägen? Auch über die kommenden Wahlen hinaus?
Ich werde dazu ein Jahr vor den nächsten Wahlen eine Entscheidung treffen. Wenn Sie mich heute fragen, tendiere ich zu 90 Prozent dazu, bei den nächsten Wahlen nicht mehr anzutreten. Die restlichen 10 Prozent halte ich mir aber noch offen.
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