Fast jeder Fünfte gilt in Luxemburg als von Armut bedroht. Was für die einen ein klarer Grund zum politischen Gegensteuern ist, begreifen die anderen als schiere Statistik. In der Tat ist das Konzept des Armutsrisikos ein zweischneidiges Schwert. Ein Erklärungsversuch.
Sonia Néves lebt mit ihren drei Kindern in Petingen. Als alleinerziehende Mutter muss sie mit einem Einkommen von 3.500 Euro über die Runden kommen. Neben ihrem Vollzeitjob als Verkäuferin in einem Kleiderladen, verkauft sie Schmuck an Privatkunden. Wenn sie Glück hat, kann sie so noch zusätzlich 500 Euro erwirtschaften.
Die Reportage auf Arte „Luxemburg: Armut im Reichtum“ schlug im vergangenen Dezember auch bei luxemburgischen Medien hohe Wellen. Auch in politischen Debatten wird die grundsätzliche Frage, ab wann man in Luxemburg als arm gilt, immer wieder aufgeworfen. Die Antworten fallen dabei stets kontrovers aus. Im Fokus steht dabei fast immer das Armutsrisiko, also das statistische Konzept der relativen Armut.
Armutsrisiko in Luxemburg steigt seit 2008 an
Ist man erst arm, wenn man auf der Straße lebt oder wenn man auf Sozialhilfen angewiesen ist? Für reiche Gesellschaften gibt es keine universell gültige Armutsgrenze. Man spricht deshalb von relativer Armut. Der weitverbreitetste Indikator ist hierfür das Armutsrisiko.
Stellen Sie sich vor, die Gesellschaft würde aus zehn Personen mit unterschiedlichen Einkommen bestehen. Fragen Sie dann die fünftärmste Person, über wie viel Geld er oder sie pro Monat verfügt. Nehmen Sie davon 60 Prozent, dann erhalten Sie das Armutsrisiko der jeweiligen Gesellschaft. In Luxemburg betrug dies rund 2.000 Euro für das Jahr 2018. Menschen, die mit weniger als 2.000 Euro pro Monat leben, sind also von Armut bedroht.
In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Menschen, die nach dieser Rechnung unter das Armutsrisiko fallen, hierzulande stärker gestiegen als in den anderen EU-Mitgliedstaaten. Laut Eurostat ist der Anteil der Bevölkerung, der einem Armutsrisiko ausgesetzt ist von 13,4 Prozent auf 18,3 Prozent im Jahr 2018 angewachsen.
Nicht vergleichbar, aber dennoch aussagekräftig
Sind heute also mehr Menschen arm als vor zehn Jahren? Trotz der klaren statistischen Lage ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten. Wie das französische Statistikamt zu bedenken gibt, ist die Festlegung auf 60 Prozent des Medianeinkommens willkürlich. Armut wird dadurch nicht vergleichbar. Wer in Luxemburg vom Armutsrisiko bedroht ist, hat zum Beispiel weiterhin eine mehr als viermal stärkere Kaufkraft als Betroffene in Rumänien.
Das Armutsrisiko ist lediglich eins von vielen statistischen Instrumenten zur Messung von Armut. Die EU berücksichtigt zum Beispiel zusätzlich die Anzahl von Langzeitarbeitslosen sowie die materielle Deprivation der Bevölkerung. Zu Letzterem gehört die regelmäßige Bezahlung der Miete, der Besitz einer Waschmaschine, die Möglichkeit zu Verreisen und einiges mehr. In Luxemburg erfüllen mindestens 22 Prozent zumindest eines dieser drei Kriterien.
Sous condition d’être activé de manière intensive, le REVIS permet aux bénéficiaires d’atteindre le niveau de vie visé par le budget de référence.“STATEC
Seit 2016 verfolgt das nationale Statistikamt einen neuen Ansatz zur Messung der Armutsgefährdung. Das Statec fragte sich, wie viel Geld man als Einwohner Luxemburgs benötigt, um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Nicht nur existenzielle Grundbedürfnisse, wie Miete oder Lebensmittel werden somit abdeckt, sondern auch die Teilnahme am sozialen Leben, wie zum Beispiel durch Restaurant-, Theater- oder Kinobesuche.
Menschenwürdiges Leben in Luxemburg
Seit der Einführung dieser Berechnung ist der Referenzrahmen je nach Haushalt zwischen sieben und zwölf Prozent gestiegen. Zurzeit benötigt man etwa 2.100 Euro, um über die Runden zu kommen. Als vierköpfige Familie wären es 4.200 Euro und als Alleinerziehender mit einem Kind etwas mehr als 2.800 Euro.
Les prix du logement ont largement augmenté, les ménages modestes étant les plus susceptibles d’en pâtir.“Chambre de Commerce
Zumindest statistisch sollte die Abschaffung des RMG und die Einführung des REVIS es arbeitenden Eltern zukünftig erlauben, über dem Referenzrahmen zu liegen. Offizielle Zahlen gibt es dazu aber noch nicht. Zudem wurde für Arbeitslose oder Menschen mit Behinderung bis jetzt noch kein Referenzbudget erstellt, gerade diese Bevölkerungsgruppen sind allerdings am stärksten von Armut betroffen. Außerdem ist nicht bekannt, wie viele Menschen letztlich mit weniger als dem Referenzbudget leben müssen.
Irreführende Zahlen und Lösungsansätze
„Nichts ist irreführender als Zahlen“, sagte einst der Politologe Gerhard Kocher. Dies gilt umso mehr, wenn es eine Vielzahl widersprüchlicher Statistiken und Interpretationen gibt. Je nach politischer Ausrichtung ist so fast für jeden etwas dabei.
Die luxemburgische Handelskammer hat dem Thema Armut im letzten Jahr zum Beispiel eine ganze Ausgabe ihrer Zeitschrift „Actualité et Tendances“ gewidmet. Die 190 Seiten präsentieren im Detail Zahlen und Berechnungsmodelle für Luxemburg. Größtenteils übernimmt die „Chambre de Commerce“ dabei die Argumente des Statec und zieht daraus ihre eigenen Schlüsse.
Mieux vaut tabler sur des indicateurs basés sur un consensus démocratique, issus d’une délibération prenant en compte toutes les données.“Serge Allegrezza, STATEC
Hauptschuldiger an der Armut seien demnach nicht die zum Teil zu niedrigen Gehälter, sondern die zu hohen Mietpreise in Luxemburg: Bei jedem dritten vom Armutsrisiko bedrohten Haushalt fließe mehr als 40 Prozent des Gehaltes in die Miete, rechnet die Handelskammer vor. Die Bekämpfung der Armut müsse also hier ansetzen. Eine weitere Erhöhung des Mindestlohns sei auf jeden Fall ein falscher Ansatz, so die Luxemburger Unternehmer-Lobby.
Alles eine Frage der richtigen Definition
Wenn es nach der Handelskammer geht, sollte man künftig auch einen „verbesserten Armutsindikator“ benutzen. Arm sei man demnach nur, wenn man 1. unter das aktuelle Armutsrisiko fällt, 2. weniger ausgibt als 60 Prozent der Medianausgaben und 3. weniger als 35.000 Euro Eigenkapital hat. Folgt man diesem Indikator fällt der Armutsanteil in der Gesamtbevölkerung auf 5,7 Prozent. Neue Definitionen scheinen die effektivste Armutsbekämpfung zu sein.
Die Caritas stellt ihrerseits fest, dass die diesjährige Mindestlohnerhöhung nicht ausgereicht hat. Luxemburg habe europaweit den zweithöchsten Prozentsatz an Menschen die trotz Arbeit von Armut bedroht sind (13,7%). Zudem liege der Mindestlohn unter dem Referenzbudget des STATEC, so die Caritas. Dabei unterschlägt sie, dass durch Einbeziehen der Sozialtransfers dieses nur um etwa 20 Euro nicht erreicht wird. Die Positionen könnten kaum widersprüchlicher sein.
Konsensfähiger Armutsbegriff muss her
Die unterschiedlichen Definitionen und Vorlieben verdeutlichen das Problem der politischen Debatte. Bevor man sich der Lösung des Problems widmen kann, muss es einen politisch-sozialen Konsens über den Armutsbegriff geben. In der Einleitung des 15. Bericht „Travail et cohésion sociale“ des Statec stellt Serge Allegrezza fest: „Mieux vaut tabler sur des indicateurs basés sur un consensus démocratique, issus d’une délibération prenant en compte toutes les données.“
Der Meinung des Direktors des Statistikamtes nach sei die vom Gesetzgeber festgelegte Definition des REVIS ein solches Mittel. Demnach kann man als Vollzeitarbeiter zusätzlich zum Lohn den REVIS erhalten. Die monatlichen Nettoeinnahmen können so bis zu 2.087 Euro betragen. Wie viel Mindestlohnbezieher davon Gebrauch machen ist allerdings nicht bekannt.
Übrigens: Sonia Néves aus der Arte-Reportage liegt mit ihrem Einkommen deutlich unter dem Referenzbudget für alleinerziehende Mütter mit zwei Kindern. Ein Budget für alleinerziehende Mütter mit drei Kindern wurde erst gar nicht erstellt. Persönliche Geschichten sind dann doch manchmal mehr wert als Statistiken.
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