Bei Entscheidungen, die in Notaufnahmen getroffen werden, geht es oft um Leben und Tod. Das Problem: Die Strukturen sind seit Jahren überlastet. Die Politik versucht das System zu verbessern. Durch die Lösungsvorschläge könnten aber neue Schwierigkeiten entstehen.
Vorsichtig entfernt der Arzt den Verband, die Pflaster löst er Schicht für Schicht von der Haut. Beim Letzten verzieht Elio kurz das Gesicht. Dann kommt die tiefe Fleischwunde zum Vorschein. „Ich habe mir während der Arbeit ein chemisches Mittel über den Fuß geschüttet, aber erst einmal nichts darauf gegeben“, so der Patient. Doch die Schmerzen wurden schlimmer. Also ging er in eine Apotheke, um sich eine Salbe zu kaufen. Von dort aus wurde er aber auf direktem Weg in die Notaufnahme geschickt.
Seit zwölf Wochen kommt Elio nun ins Centre Hospitalier de Luxembourg (CHL) – und zwar täglich. „Wenn ich einen Tag auslasse, klebt das Pflaster zu sehr an der Wunde fest und dann schmerzt es beim nächsten Wechsel nur noch stärker“, sagt der Patient.
Wir hatten auch schon Patienten hier, die dann aufgestanden sind und gesagt haben, dass sie erst noch einkaufen gehen und später wiederkommen.“
Zwölf Euro zahlt er, die Behandlung dauert etwa 15 Minuten. Elio kommt lieber ins Krankenhaus, als sich seine Wunde von einem mobilen Pflegedienst zu Hause reinigen zu lassen. Mittlerweile kennt man sich, die Ärzte wissen, wie sie mit ihm und seiner Wunde umzugehen haben – und er vertraut dem Personal.
Der Patient hatte bis jetzt Glück in der Notaufnahme des CHL. Auch als er das erste Mal in der Nacht hier ankam. Eineinhalb Stunden musste er warten, bis er behandelt wurde. Damit gehört er zu den Glücklichen, bei denen es schnell ging. Drei Stunden dauert es im Schnitt, bis man als Patient in Luxemburgs Notaufnahmen an die Reihe kommt – je nach Grad der Krankheit oder Verletzung.
Das Problem ist eigentlich nicht neu: Luxemburgs Notaufnahmen sind überfüllt, die Wartezeiten lang, die Patienten genervt, die Ärzte gestresst. Seit Längerem wird darüber diskutiert. Und noch viel länger ist die Lage bekannt. 2003 – also vor 15 Jahren – widmete die Abgeordnetenkammer dem Thema bereits eine Debatte. Bereits damals sei über „Missbrauch“ der Notaufnahmen (zu viele Patienten mit leichten Krankheitsbildern) und „echte Fälle“ diskutiert worden, wie das „Lëtzebuerger Land“ schreibt. Doch erst 2016 wurde schließlich konkret gehandelt.
Nicht alles ist ein Fall fürs Krankenhaus
Nicht jeder Patient, der in die Notaufnahme kommt, gehört auch dorthin. Es ist eines der größten Probleme, mit denen die Krankenhäuser kämpfen. Fieber, Schnupfen, Übelkeit – obwohl die Notaufnahme nicht dafür gedacht ist, ist sie für viele Patienten bei Beschwerden mit geringem Schweregrad die erste Anlaufstelle. Laut Gesundheitsministerium ist jeder fünfte Patient eigentlich kein Notfallpatient. Er könnte sich auch von einem Hausarzt – und von ihm womöglich sogar schneller – behandeln lassen.
Wir respektieren jeden Patienten. Auf der anderen Seite wollen wir dann auch respektiert werden.“
Das wissen aber nicht alle. Viele Grenzgänger und Ausländer, die in Luxemburg leben, kennen das nationale Gesundheitswesen nicht ausreichend, haben hierzulande keinen Hausarzt und bevorzugen es deshalb, in die Notaufnahme zu gehen, wenn sie krank sind. „Wer in Luxemburg keinen Hausarzt hat, kommt automatisch zu uns. Die Zahl dieser Menschen steigt stetig“, so Dr. Simon, Leiter der Notaufnahme im CHL.
„Wir wissen, dass manche Patienten nach einer ersten Voreinschätzung während Stoßzeiten bei uns auch mal länger warten müssen. Wir informieren aber jeden, wie lange es in etwa dauert“, erklärt er weiter. Nach einer ersten kurzen Einschätzung werden die Patienten in fünf Kategorien unterteilt. Bei der Kategorie eins muss es schnell gehen, Kategorie fünf hat etwas mehr Zeit und der Patient muss warten. „Wir hatten aber auch schon Situationen, in denen die Patienten dann aufgestanden sind und gesagt haben, dass sie erst noch einkaufen gehen und später wiederkommen“, so Dr. Simon.
Das zeigt: Nicht alles, was sich vielleicht nach einem Notfall anfühlt, ist auch wirklich einer. Nach Hause wird aber niemand geschickt. „Wir sind dafür da, um den Menschen zu helfen. Hier wird niemand wieder weggeschickt“, sagt der Arzt.
Von verbalen und körperlichen Attacken
Die Zahl der Patienten in den Notaufnahmen wächst demnach. Und vor allem in den Wintermonaten kann die Situation extrem werden. „Im vergangenen Jahr sind wir wirklich an unsere Grenzen gestoßen“, sagt Dr. Simon. Das habe vor allem an besonders vielen Grippefällen gelegen.
Die Folge von überlaufenen Notaufnahmen: Stress bei den Ärzten, Frust bei den Patienten. Was aber auffällig ist: Die Menschen würden zunehmend aggressiv und respektlos gegenüber dem Personal, so Dr. Simon. Jeder will sofort Erklärungen, wenige können sich noch gedulden. „In den letzten paar Jahren ist die Hemmschwelle bei den Menschen gesunken“, so der Notarzt. „Wir respektieren jeden Patienten. Auf der anderen Seite wollen wir dann auch respektiert werden“, sagt er.
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient wird immer mehr zu einer wie zwischen Anbieter und Kunde.“
Was er genau erlebt hat, will er nicht sagen. Nur so viel: Es kam sowohl schon zu verbalen als auch körperlichen Angriffen in der Notaufnahme. Auch Nadine Kohner vom CHL bestätigt das. „Ich glaube, dass das auch viel mit dem Gebrauch von sozialen Medien zusammenhängt“, sagt sie. Seitdem man überall und alles kommentieren kann, würden die Menschen auch im Alltag kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Auch als Patient. Ganz nach dem Motto: Ich zahle meinen Beitrag, also bestimme ich. „Die Beziehung zwischen Arzt und Patient wird immer mehr zu einer wie zwischen Dienstleister und Kunde“, resümiert Dr. Simon die Lage. Und der Kunde ist bekanntlich König.
Politik will helfen
Um Abhilfe zu schaffen, haben sich im Jahr 2017 das Gesundheits- und Sozialversicherungsministerium dem Thema der Notaufnahmen konkret angenommen. Das war aber bereits im Regierungsprogramm von 2013 angedacht. Anhand eines Audits wurde eine Bestandsaufnahme gemacht, danach rund 130 Maßnahmen ausgearbeitet, wie die Notaufnahmen besser aufgestellt werden könnten.

Unter anderem soll die Wartezeit bis 2019 auf maximal 2,5 Stunden verkürzt, der Patient innerhalb der ersten zehn Minuten einer ersten Einschätzung unterzogen und entsprechend orientiert werden. Die Krankenhäuser CHL und den Hôpitaux Robert Schuman (HRS) im Zentrum werden ab 2019 außerdem die Notdienste nicht mehr abwechselnd, sondern parallel anbieten, ältere Patienten werden in einem separaten Bereich betreut.
Das System innerhalb der Krankenhäuser soll demnach verbessert werden – aber auch die Patienten sollen aufgeklärt werden. Eine Kampagne soll erklären, wie Notaufnahmen und die drei Maisons Médicales funktionieren, wer bei welchem Anliegen am besten helfen kann.
Das alles klappt aber nur mit dem nötigen Geld. Für 2017-2018 hat das Sozialversicherungsministerium zwei Millionen Euro zur Personalverstärkung in den Notaufnahmen vorgesehen. Knapp 17 neue Vollzeitstellen für Pfleger wurden bereits geschaffen, weitere sollen jetzt folgen. Auch der Beruf des Notarztes soll aufgewertet werden.
Das wird auch notwendig sein. Dr. Simon erklärt, dass Notärzte im CHL Tagesschichten von zehn Stunden und Nachtschichten von 12 Stunden arbeiten. „So steht es zumindest auf dem Papier“, ergänzt er. Die Realität sieht aber anders aus. „Wenn man seine Schicht anfängt, weiß man eigentlich nicht, wann sie aufhört“, so der Arzt. Feste Arbeitszeiten gibt es in den Notaufnahmen nicht. Und wenn die Wartezeiten ab 2019 weiter verkürzt werden sollen, braucht es mehr Personal. Alleine das CHL bräuchte sechs zusätzliche Ärzte, schätzt Dr. Simon.
Auch Dr. Emile Bock, Präsident der Vereinigung der Notfallärzte, sagt, dass eigentlich die dreifache Anzahl an Personal nötig wäre, um die Stationen zu entlasten. „Der Beruf verliert zunehmend an Attraktivität in Luxemburg“, sagt der Arzt. Man müsse eine Nomenklatur für Notärzte schaffen und ein solides Budget zur Verfügung stellen – dann könnte sich die Situation beruhigen. „Man muss uns die Möglichkeit geben, die Patienten richtig behandeln zu können.“
Von Wahlkampffloskeln und konkreten Ideen
Die Lage in den Notaufnahmen ist ein Thema, das die Menschen bewegt. Jeder ist früher oder später davon betroffen. Es sind deshalb längst nicht mehr nur Gesundheits- und Pflegeversicherungsministerium, die Verbesserungsvorschläge liefern. Auch die Parteien haben die Engpässe längst als Wahlkampfthema für sich entdeckt. Alle sind sich einig, dass sich etwas an der Situation ändern muss, das Personal entlastet und die Wartezeiten gekürzt werden müssen.
Neben Wahlfloskeln wie „schnell Abhilfe schaffen“, die „Notaufnahmen stärken“ oder „angemessene Strukturen und Abläufe“ in den Krankenhäusern fördern, liefern die Parteien vereinzelt auch konkrete Vorschläge.

Während die CSV dafür plädiert, alle Notaufnahmen „rund um die Uhr“ zu öffnen und den ambulanten besser mit dem stationären Bereich zu verknüpfen, plant die LSAP eine „engere Koordination zwischen ‚Maisons Médicales‘ und Krankenhäusern“, um die Notaufnahmen zu entlasten.
Die DP „Betten für eine Tagesbeobachtung schaffen“. Will heißen: Der Patient soll zur Beobachtung in der Notaufnahme bleiben können, ohne sofort stationiert werden zu müssen. Zu diesem Zweck will die DP „multidisziplinäre Teams“ einsetzen.
Eine ähnliche Idee haben die Grünen in ihrem Programm verankert. Sie wollen das System besser aufstellen, indem sie Fachärzte einstellen, die die „Patient*innen in den sogenannten ‚lits portes‘ bis zu 24 Stunden lang betreuen“ können.
Ideen sind da, wie sie aber konkret umgesetzt werden sollen und wie viel Geld für die Umsetzung fließen muss, steht nirgendwo geschrieben. Fest steht aber: Soll es bessere Strukturen und mehr Personal geben, braucht es (wieder) Geld.
Maßnahmen müssen sich noch beweisen
Ob sich die geplanten oder gewünschten Maßnahmen durchsetzen werden, bleibt demnach abzuwarten. Dr. Simon sieht vor allem die parallel geöffneten Notaufnahmen im CHL und HRS im Zentrum als schnelle aber nicht unbedingt gelungene Lösung an. Ob sie das ist, müsse sich erst zeigen. „Es ist noch vieles unklar. Unsere Hypothese ist, dass sich die Patienten mit der neuen Dienstverteilung im CHL und HRS gleichmäßig auf beide Notaufnahmen verteilen und so die Wartezeiten verkürzt und berechenbarer werden“, so der Arzt. Ob dem so ist, muss sich erst beweisen. Es könnte auch sein, dass mehr Patienten kommen, weil sie denken, dass die Wartezeiten zurückgegangen sind. „Die denken sich dann vielleicht ‚Jetzt kann ich wieder hin'“, so Dr. Simon.
Dass sich etwas tut, findet Dr. Simon gut. Er bleibt aber skeptisch. „Wenn es eine einfache Lösung gebe, dann hätte schon jemand sie gefunden“, so der Arzt. „Denn das Problem gibt es ja nicht nur in Luxemburg, sondern überall. Und überall sucht man seit Jahren nach Lösungen.“
Dr. Bock meint, dass nicht die Patienten mit leichten Pathologien das Problem der Notaufnahmen sind. „Sie können schnell behandelt werden“, so der Arzt. Vor allem „der kranke Patient“ fordere die Notärzte – vor allem deshalb, weil die Teams momentan (noch) unterbesetzt sind.
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Zahlen und Fakten zur aktuellen Lage in Luxemburgs Notaufnahmen.