Von der „Nerd“-Bewegung zur Parlamentspartei: Luxemburgs „Piraten“ haben einen weiten Weg zurückgelegt. Der Wandel gefällt dabei nicht jedem. Einige Mitglieder sind bereits abgesprungen. Hinter den Kulissen rumort es weiter. Eindrücke von einer paradoxen Partei.

„In der Partei herrscht eine Atmosphäre von Angst und Unterdrückung“, sagt Peter Freitag. Der Mitarbeiter der Piratenpartei wählt seine Worte mit Bedacht. Auch, dass er mit seiner Meinung an die Öffentlichkeit geht, ist ein bewusster Schritt. „Mir blutet das Herz, wenn ich sehe, was aus dieser Partei geworden ist“, sagt er. „So kann es einfach nicht weiter gehen.“

Schnell wird deutlich, auf wen Freitag mit seiner Kritik abzielt. Marc Goergen und Daniel Frères seien „toxische Elemente“ in der Partei. Beide Politiker hätten die Parteiorganisation „gekapert“ und würden ihre politische Linie ohne Rücksicht auf Verluste durchziehen. Beiden Politikern gehe es nur um die eigene Macht und Karriere. Um diese zu fördern, seien sie bereit „alle Kritiker aus dem Weg zu räumen“.

Peter Freitag ist erst seit rund einem halben Jahr in der Parteizentrale der Piraten angestellt. In dieser Zeit habe er jedoch genug gesehen, um zu wissen, warum die Piraten „auf eine Wand zusteuern“, sagt er im Interview mit REPORTER. „Kritik wird nicht geduldet, engagierte Mitglieder werden persönlich beleidigt, gemobbt, eingeschüchtert“, so Freitag. Das Problem sei intern schon lange bekannt. „Und das Problem heißt in diesem Fall Marc Goergen.“

„Goergen und Frères schaden der Partei“

Marc Goergen ist seit dem vergangenen Oktober neben Sven Clement einer der zwei Abgeordneten der Piraten. Im Februar wurde der frühere Generalsekretär auf einem Parteikongress zudem als „Koordinator“ der Partei bestätigt. Nach außen sehe es so aus, als ob die Partei so stark wie nie zuvor sei. Doch der Eindruck täusche, so Freitag. Hinter den Kulissen seien mehrere Piraten der ersten Stunde aus der Partei ausgetreten. Andere hätten sich abgewendet.

„Wir haben praktisch fast keine aktiven Mitglieder mehr“, sagt Peter Freitag. Neben dem persönlichen Umgang von Goergen sei den wenigen übrig gebliebenen Anhängern der Piraten vor allem die politische Aktivität von Daniel Frères ein Dorn im Auge. Mit beiden sei keine sachliche Debatte zu führen. „Goergen und Frères sind ein Team. Sie vertreten nicht die Werte unserer Partei, die sind ihnen schlicht egal“, so Freitag. „Sie schaden unserer Partei damit.“

„Es geht nur noch darum, wie man so viele Stimmen wie möglich erhält. Mit welchen inhaltlichen Forderungen das passiert, ist schon länger zweitrangig.“Andy Maar, früherer Generalsekretär der „Piraten“

Mit dieser Auffassung ist der Mitarbeiter der Parteizentrale nicht allein. Auch Andy Maar, ehemaliger Generalsekretär der Piraten, hält sich im Gespräch mit REPORTER nicht mit Kritik zurück. Mit dem Aufstieg von Marc Goergen habe ein Wandel der Partei eingesetzt, der „zur maximalen politischen Beliebigkeit“ geführt habe, sagt Maar. Von den einstigen Idealen der Partei – Datenschutz, Informationsfreiheit, Demokratie, Transparenz – sei nicht mehr viel übrig geblieben.

Neue Linie wird „wohlwollend akzeptiert“

„Es geht nur noch darum, wie man so viele Stimmen wie möglich erhält. Mit welchen inhaltlichen Forderungen das passiert, ist schon länger zweitrangig“, so Andy Maar weiter. Bei den Piraten werde mittlerweile offen mit Populismus geliebäugelt, wie manche Forderungen aus dem Programm für die Nationalwahlen zeigen würden.

Auch Maar macht diese Entwicklung an Marc Goergen und Daniel Frères fest. Aber nicht nur: Goergen und Frères seien mittlerweile die Aushängeschilder der Partei und würden von anderen wie dem Parteigründer und früheren Vorsitzenden Sven Clement „wohlwollend akzeptiert“.

Marc Goergen ist nationaler „Koordinator“ der „Piraten“ und seit dem vergangenen Oktober Mitglied der Abgeordnetenkammer. (Foto: Chambre des Députés)

Die Kritik an Goergens Einfluss ist nicht neu. „Respektlosigkeit und Mobbing werden nicht nur toleriert, sondern offen ausgelebt und von Teilen der Basis, sowie der Parteispitze, mitgetragen und unterstützt“. Das sagte der Ex-Pirat Claude Feltgen schon im Oktober 2017 zu den Gründen, warum er aus der Partei austrat, wie das „Tageblatt“ damals berichtete. Feltgen war nicht der einzige, der frustriert das Handtuch warf. Pit Wenkin und Sven Wohl sind zwei weitere Beispiele.

Laut Andy Maar habe man es heute mit einem Paradox zu tun. Mit dem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen sei die Partei so erfolgreich wie noch nie zuvor. Das hänge nicht zuletzt mit dem Kurs von Goergen und Frères zusammen, räumt Maar ein. Der Erfolg sei aber auf Kosten der inhaltlichen Integrität der Piraten gegangen. Goergen und Frères hätten den Machtkampf bis auf Weiteres für sich entschieden, „aber von der Partei, wie wir sie einmal aufgebaut haben, ist nicht mehr viel übrig geblieben“.

Von der Transparenz zum „inner circle“

Wie es mehrere Mitglieder bestätigen, liege die parteiinterne Kommunikation auch weitgehend brach. Früher waren die Piraten noch stolz auf ihre innerparteiliche Transparenz. Parteiinterne Debatten wurden auf einer für alle Mitglieder zugänglichen Plattform ausgetragen oder zumindest dokumentiert. Berichte aus diversen Gremien wurden per Mailingliste verschickt. Heute sei der parteiinterne Apparat jedoch nur noch eine Angelegenheit eines kleinen „inner circle“, kritisiert Andy Maar.

Von der Partei, wie wir sie einmal aufgebaut haben, ist nicht mehr viel übrig geblieben.“Andy Maar, früherer Generalsekretär der „Piraten“

Das langjährige Parteimitglied macht seine Kritik auch an der politischen Linie seit den Nationalwahlen fest. Dass innerhalb der Partei keine inhaltliche Debatte mehr stattfinde, zeige sich etwa an der Entscheidung, mit der ADR eine parlamentarische Kooperation einzugehen. Über die internen Flügelkämpfe in dieser Frage berichtete damals auch die „woxx“.

Der Schritt zum „groupe technique“ sei im kleinsten Kreis vorbereitet worden, erklärt Maar. Er selbst habe, wie viele andere Parteimitglieder, davon aus der Presse, also „per Push-Mitteilung“ der großen Medien erfahren.

Auch inhaltlich spreche die Kooperation mit der ADR Bände. Die pragmatischen Vorteile eines „groupe technique“ würden zwar auf der Hand liegen. Dennoch sieht Maar die Entscheidung als Fehler an. „Wir können uns doch nicht wochenlang von Rechts distanzieren, und eine solche Kooperation auch noch am Wahlabend ausschließen, und dann die eigene Meinung so rasch über Bord werfen.“ Er verstehe jedenfalls die Wähler der Piraten, die sagen: „Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir euch sicher nicht gewählt.“

Die Mitverantwortung des Sven Clement

Auch Sven Clement trage für die Entwicklung der Partei eine Mitverantwortung, sagen sowohl Maar als auch Freitag. Clement sei zwar sicher nicht glücklich mit der Entwicklung jener Partei, die er mitgegründet und maßgeblich geprägt hat. Doch er habe sich mit der Situation arrangiert, so Andy Maar. Schließlich habe Clement so seinen „Lebenstraum“ vom gewählten Abgeordneten erfüllen können.

„Sven Clement vertritt definitiv eine andere politische Linie wie Goergen und Frères“, sagt auch Peter Freitag. Doch Clement sei „eben durch und durch Politiker, im Guten wie im Schlechten“. Er habe zwar „das Herz am rechten Fleck“. Doch „Opportunist“ sei für den langjährigen Vorsitzenden sicher kein Schimpfwort.

Hat seinen „Lebenstraum“ erfüllt: Piraten-„Ehrenpräsident“ Sven Clement am Wahlabend des 14. Oktober 2018. (Foto: Eric Engel)

Der Machtkampf innerhalb der Piratenpartei beschäftigt mittlerweile auch interne Gremien. Peter Freitag hat kürzlich einen Antrag gestellt, um Marc Goergen und Daniel Frères wegen „parteischädigendem Verhalten“ aus der Partei auszuschließen. Das Schiedsgericht der Piraten sollte sich damit beschäftigen. Doch kurzfristig zogen sich mehrere Mitglieder aus diesem Gremium zurück, darunter die Partnerin von Sven Clement aus möglicher Befangenheit. Das Schiedsgericht war damit nicht mehr beschlussfähig. Ersatzkandidaten sind nicht in Sicht. Das Verfahren liegt also auf Eis.

Alleingänge bleiben ohne Konsequenzen

Diese Episode sei symbolisch für die Lage der Partei, erklärt Peter Freitag. Er habe jegliche Mittel ausgeschöpft, um intern auf die Missstände aufmerksam zu machen. Dabei geht es laut mehreren Quellen um Verstöße gegen die Satzung der Partei. Im Fall von Marc Goergen handelt es sich vor allem um den persönlichen Umgang mit Parteikollegen. Bei Daniel Frères stehen dagegen die mittlerweile bekannten Alleingänge des Gemeinderatsmitglieds aus Remich in der Kritik.

Unzufriedene Menschen gibt es überall.“Marc Goergen, Abgeordneter der „Piraten“

Auch wenn sich Marc Goergen und Sven Clement öffentlich punktuell von Frères distanzieren, muss der frühere PID-Politiker bisher keinerlei Konsequenzen befürchten. Das gilt etwa für die ihm immer wieder attestierte Vermischung der Interessen der Partei, seiner Immobilienfirma und dem Tierschutzverein „Give us a Voice“.

Zudem habe sich Frères vor den Parlamentswahlen ohne parteiinterne Wahl zum Spitzenkandidaten im Osten ausrufen lassen. Zumindest liege der Parteizentrale kein Bericht von einem solchen Kongress vor, wie es aus Parteikreisen heißt. Auch hier gab es keine negativen Konsequenzen. Im Gegenteil: Daniel Frères wurde Anfang des Jahres zu einem der sechs Kandidaten für die Europawahlen bestimmt.

Parteiinterner Machtkampf vorerst entschieden

Letzteres zeigt am deutlichsten, dass der Machtkampf bei den Piraten längst entschieden ist. Vor einigen Monaten versuchten zwei Piraten der „alten Garde“ nämlich ein Comeback. Andy Maar und Jerry Weyer wollten bei den Europawahlen antreten und ein dezidiert pro-europäisches Programm ausarbeiten. Goergen und Frères kündigten Widerstand an und setzten sich letztlich auch durch. Jerry Weyer, Gründungsmitglied und Vertrauter von Sven Clement, zog sich daraufhin ebenso wie Andy Maar aus der aktiven Parteiarbeit zurück.

Für die Europawahlen hätte ich mir schon eine etwas europäischere Kampagne gewünscht.“Jerry Weyer, Gründungsmitglied der „Piratepartei Lëtzebuerg“

Es stimmt, dass er gerne als Spitzenkandidat mit in die Europawahlen gegangen wäre, sagt Jerry Weyer im Gespräch mit REPORTER. Dazu sei es aufgrund von „Meinungsverschiedenheiten über die inhaltliche Ausrichtung der Kampagne“ aber nicht gekommen. „Für die Europawahlen hätte ich mir schon eine etwas europäischere Kampagne gewünscht“, so Weyer. Er bezieht sich dabei auf den Eindruck, dass die Piraten am 26. Mai mit einem „Copy&Paste“-Programm aus den Nationalwahlen antreten.

„Kritik wird nicht geduldet, engagierte Mitglieder werden persönlich beleidigt, gemobbt, eingeschüchtert“: Piraten-Mitarbeiter Peter Freitag kritisiert den internen Umgang in der Partei. (Foto: Matic Zorman)

Es stimme wohl, dass die einstigen Kernthemen der Partei in der Öffentlichkeit keine große Rolle mehr spielen, so Weyer weiter. Wahlplakate, auf denen Daniel Frères bzw. die Partei „mit Hunden und Katzen“ für sich wirbt, seien für ihn schon befremdlich. Und es sei auch kein Geheimnis, dass Marc Goergen andere inhaltliche Prioritäten habe als die „Gründergeneration“ der Piraten.

Andererseits müsse man laut Jerry Weyer eben akzeptieren, dass sich die Partei in den knapp zehn Jahren ihrer Existenz „sehr gewandelt hat“. Früher hätten er und Sven Clement den Kurs der Partei noch maßgeblich in eine „fortschrittliche Richtung“ bestimmen können. Heute habe man es mit einer anderen, pluralistischeren Partei zu tun, in der auch andere Strömungen vertreten sind, mit denen man sich auseinandersetzen müsse.

Goergen und Frères wehren sich gegen „Neider“

„Unzufriedene Menschen gibt es überall“, lautet die Reaktion von Marc Goergen auf die Vorwürfe gegen seine Person. Er habe es mitunter mit Leuten zu tun, die ihm „den Erfolg nicht gönnen“ würden. Dass die Partei generell hinter ihm stehe, zeige zudem sein Erfolg bei den Parlamentswahlen. „Ich bin Abgeordneter. Demokratischer kann man nicht gewählt werden.“

Auch die Mobbingvorwürfe weist Goergen von sich. „Wenn das Personal nicht so arbeitet, wie es soll, dann sage ich das. Mehr auch nicht.“ Zwei Piraten-Mitarbeiter, darunter Peter Freitag, seien kürzlich verwarnt worden, weil sie „Bockmist gebaut haben“, sagt Goergen. Was genau der Hintergrund ist, will er nicht sagen.

Es gibt Leute in der Partei, die dauernd meckern, aber selbst nicht mit anpacken.“Daniel Frères, Kandidat der „Piraten“ bei den Europawahlen

Daniel Frères reagiert seinerseits gelassen auf die Vorwürfe. „In jeder Partei gibt es Neider, die sich zum Beispiel zu Wort melden, wenn sie nicht auf eine Liste gewählt werden“, sagt er auf Nachfrage von REPORTER. Dass Parteikollegen ihre Kritik gerade jetzt vor den Europawahlen anbringen, bei denen er als Kandidat antritt, sei „schmutzig und frech“.

Wie in jeder anderen Partei gebe es nun einmal „Diskussionen, die zu nichts führen“, so Frères weiter. „Es gibt Leute in der Partei, die dauernd meckern, aber selbst nicht mit anpacken.“ Er und Marc Goergen würden diese Mitglieder dann hin und wieder darauf hinweisen. Ansonsten hätte man sich nichts vorzuwerfen und auch nichts zu verstecken. Generell arbeite man in der Partei gut zusammen.


Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Version dieses Artikels stand, dass sich der Vater von Sven Clement kurzfristig als Mitglied aus dem Schiedsgericht der Partei zurückgezogen habe. Richtig ist, dass Pascal Clement bereits im November 2018 aus dem Gremium ausgeschieden war, als er Bezirkspräsident im Zentrum und Mitglied der Parteileitung wurde.


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