Der Iran ist nach China und Italien zum drittgrößten globalen Hotspot der Corona-Pandemie geworden. Der Umgang mit dem Virus und dessen Folgen sind hier komplett anders, was nicht zuletzt an der ohnehin politisch angespannten Lage im Land liegt.
Plötzlich waren die Bilder überall: Videos von hüftschwingenden Krankenschwestern, tanzenden Ärzten in Schutzanzügen und maskiertem Pflegepersonal im heiteren Reigen. Die Facebook-Clips aus Irans Krankenhäusern verbreiteten sich rasant und wurden als Paradebeispiel für menschliche Widerstandskraft gefeiert — dafür, wie man sich selbst in den düstersten Zuständen noch eine Portion Lebensfreude und Optimismus bewahren kann.
Ein anderes Video, verbreitet via Twitter, zeigt eine Hand, die mit einem Bügeleisen über 500.000 Rial-Scheine wandert (ca. vier Euro) mit dem selbstironischen Untertitel: „Die iranische Lösung zum Desinfektieren von Geld.“
Die Iraner sind im Galgenhumor so geübt wie kaum ein anderes Volk der Welt. Schließlich hatte das Jahr 2020 mit dem US-Angriff auf General Soleimani begonnen, gefolgt von einem heraufziehenden Kriegsszenario. Dann dem versehentlichen Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs und der versuchten Geheimhaltung davon. Das alles verlangte den Iranern bereits überdurchschnittliche Gelassenheit ab. Von den lähmenden Sanktionen und der seit Jahren katastrophalen Wirtschaftslage ist gar nicht zu sprechen. Die Corona-Krise aber lässt die Nerven bei vielen ein für alle mal blank liegen.
Ob die Tanzvideos im Staatsfernsehen eine Inszenierung waren, bleibt fraglich. Schließlich wurden zu anderen Zeiten junge Iraner für ihre Tanzclips verhaftet. Sicher ist jedenfalls: Der Iran ist der unumstrittene Hotspot der Corona-Pandemie im Mittleren Osten. Mit knapp 14.000 offiziell bestätigten Fällen und über 800 Toten (Stand 15.03.2020) liegt der Iran nach China und Italien an weltweit dritter Stelle.
Revolutionsführer verbreitet Verschwörungstheorien
Im sonst so quirligen und verstopften Teheran liegt das Leben seit Wochen lahm. Zehntausende Häftlinge wurden landesweit beurlaubt, um die Verbreitung des Virus in den Gefängnissen einzudämmen. In keinem anderen Land hat die Corona-Pandemie in so kurzer Zeit so viele hochrangige Regierungsvertreter getroffen, darunter Parlamentsabgeordnete, enge Berater des Revolutionsführers Ali Khamenei und Kommandeure der Revolutionsgarden.
In rasender Geschwindigkeit hat der neuartige Coronavirus im Iran alles beseitigt, was den islamischen Staat ausmacht.“
Auch der stellvertretende iranische Gesundheitsminister, Iraj Harirchi, erkrankte an Covid-19. Harirchi war Ende Februar bei einer Pressekonferenz aufgetreten, um die Menschen vor laufenden Kameras zu beschwichtigen. Auf den Bildern war zu sehen, wie Harirchi sich bei seinem Auftritt mit Taschentüchern immer wieder über die schweißnasse Stirn wischte und in seine Faust hustete. Kurze Zeit später wurde bekannt, dass Harirchi selbst mit dem Coronavirus infiziert wurde.
Während Harirchi zum Objekt eines bitteren Spotts wurde, sprach Revolutionsführer Ali Khamenei noch zuletzt von einer „biologischen Attacke“ gegen den Iran — will heißen: Corona sei in Wirklichkeit ein von den USA gemachter Virus, um Gegner wie Iran und China lahmzulegen.
Sanitäre Krise und tiefes Misstrauen in Regierung
Die Zahl der täglichen Todesopfer im Iran steigt seit über einer Woche konstant an, wie man es aus China zum Höhepunkt der Wuhan-Epidemie gewohnt war. Was jedoch beim Iran einzigartig ist, sind die signifikant unterschiedlichen Zahlen, die im Internet kursieren. So liegen inoffizielle Fallschätzungen oft beim dreifachen der offiziellen Statistik des Gesundheitsministers der Islamischen Republik.
Dass die staatlich verkündeten Zahlen tatsächlich eklatant falsch sein könnten, scheinen Videoaussagen von iranischen Provinzgouverneuren oder Gesundheitsbeamten zu belegen, die von weitaus höheren Opferzahlen in ihren Regionen sprechen, als nach den offiziellen Zählungen möglich sein dürfte.

Nach der Leugnung des Flugzeugabschusses im Januar war das letzte Vertrauen vieler Iraner in ihre Regierung schon weitgehend erodiert. Heute ist kaum mehr etwas davon übrig. Eines verärgert die Menschen besonders: Dass die Regierung den zivilen Flugverkehr mit China auch auf dem Höhepunkt der Epidemie nicht eingestellt hat. Manche sehen darin einen Versuch des Iran, sich weiterhin offensiv als Partner Chinas anzubiedern, während andere von wirtschaftlichen Interessen sprechen. Die Fluggesellschaft „Mahan Air”“ die sich in den Händen der Revolutionsgarden befindet, wurde inzwischen von Iranern auf zahlreichen Cartoons in „Corona Air“ umgetauft.
Pilgerstadt Qom als Ausgangspunkt der Epidemie
Ein weiterer besonderer Faktor im Verlauf der iranischen Coronakrise ist, wie die hochpolitisierte Religion ins Krisenmanagement der islamischen Republik hineinspielt. Die Epidemie im Iran begann in Qom, dem wichtigsten schiitischen Pilgerort und so etwas wie die Kaderschmiede des geistlich-politischen Systems der islamischen Republik. Hier werden die geistlich-politischen Eliten des Landes ausgebildet.
Dort hatten, wie vermutet wird, chinesische Kleriker in Ausbildung den Virus eingeschleppt. Doch anstatt Qom, wo sich die ersten Todesfälle ereigneten, unter Quarantäne zu stellen, blieben die häufig überfüllten Heiligenschreine der Stadt weiterhin geöffnet. Viele von ihnen sind es sogar jetzt noch. Als Begründung war von hochrangigen Mullahs immer wieder zu hören, dass der heiligen Stadt ein Virus nichts anhaben könne.
Religiöse Eiferer stellten gar Videos ins Netz, in denen sie plakativ die Glaswand von prominenten Schreinen küssten oder mit der Zunge berührten — schließlich seien dies Plätze der Heilung, nicht der Ansteckung. Die Clips riefen bei vielen Iranern belustigtes Kopfschütteln bis totales Entsetzen hervor. Die Männer aus den Videos wurden letztlich festgenommen.
Tatsächlich wurden aber zum ersten Mal in der Geschichte der islamischen Republik über Wochen lang alle Freitagsgebete im Land abgesagt. Normalerweise stellen diese eine wichtige Konstante im politisch-religiösen Gewebe des Staates dar.
Der iranisch-deutscher Journalist Ali Sadrzadeh beschrieb dies treffend: „In rasender Geschwindigkeit hat der neuartige Coronavirus im Iran alles beseitigt, was den islamischen Staat ausmacht: Freitagspredigten, Pilgerfahrten, Moscheebesuche, Trauerveranstaltungen, die Seminare der Ayatollahs und die staatlich organisierten Straßenumzüge, religiöse wie politische.“
Selbstschutz, Straßenblockaden und Masken-Mangel
Mangels entschiedenem Durchgreifen des Staates nahmen in vielen Provinzen die Menschen es selbst in die Hand, ihre Städte vor dem Import des Virus aus anderen Provinzen zu schützen. Auf Videos, die in sozialen und ausländischen Medien kursieren, sind immer wieder Gruppen von Menschen zu sehen, die Autos mit fremden Kennzeichen aufhalten, zurückweisen oder sogar auf Fahrzeuge eindreschen.
In vielen Regionen, besonders in den hart getroffenen nördlichen Provinzen Gilan und Mazandaran, werden nun in den Krankenhäusern die Betten knapp. Zudem fehlt es allerorts an Ausstattung. Masken sind kaum mehr zu bekommen und wenn, dann nur zu astronomischen Preisen.
Der Kampf gegen Corona wird das Verhältnis der Iraner gegenüber ihrer Regierung weiterhin auf eine harte Probe stellen.“
Zu den Mängeln tragen auch die strengen amerikanischen Sanktionen bei, wie bereits in der Vergangenheit etwa bei der Beschaffung von ausländischen Krebsmedikamenten. Außenminister Javad Zarif postete bei Twitter eine lange Liste mit benötigtem medizinischem Material, zu denen der Iran nur schwer Zugang habe. „Viren diskriminieren nicht. Auch Menschen sollten das nicht“, schrieb er dazu, als Kritik an den US-Sanktionen. Nun beantragte der Iran zum ersten Mal seit den 1960er Jahren beim Weltwährungsfonds einen Kredit in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar.
Fest steht: Der Kampf gegen Corona wird wohl noch einige Wochen anhalten und dabei das Verhältnis der Iraner gegenüber ihrer Regierung weiterhin auf eine harte Probe stellen. Besonders hart für die Iraner ist, dass die Pandemie mit den Vorbereitungen für das persische Neujahrsfest Noruz am 21. März zusammenfällt. Die Feierlichkeiten sind traditionell eine Zeit der freudvollen Erwartung des Frühlings, die kulturell mit Hoffnung und Neubeginn verbunden wird.
Auch wirtschaftlich ist Noruz von Bedeutung: Denn in diesen Wochen wird besonders viel gekauft, gegessen und gereist. Dieses Jahr wird dieses festliche Zusammensein mit Freunden und Familien für über achtzig Millionen Menschen wohl schlichtweg ausfallen.