Ein Jahr nach dem „March for Our Lives“ bleibt die Diskussion um Waffengewalt in den USA weitgehend auf Amokläufe und Einzeltäter beschränkt. Dabei ist es gerade die strukturelle Gewalt in ärmeren Vierteln, die die Jugend des Landes bedroht. Ein Besuch in Englewood, Chicago.
Delmonte Johnson wurde Opfer der Tragödie, die er verhindern wollte. An einem Septemberabend vergangenen Jahres begleitete er seinen jüngeren Bruder zum Basketballtraining. Der 19-Jährige wollte nur kurz Getränke im nahe gelegenen Supermarkt besorgen, als Unbekannte ihn mit mehreren Schüssen töteten. Delmonte verkehrte nicht in den falschen Kreisen, hatte keinen Ärger mit den falschen Leuten. Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort – in seinem Viertel, Englewood.
Nur wenige Kilometer von Chicagos Downtown entfernt, dem Hochhausdschungel mit seinen glänzenden Fassaden, liegt Englewood, ein Problemviertel, das von Armut und Gewalt gekennzeichnet ist. Fast täglich kommt es hier zu Schießereien, viele davon enden tödlich, so wie in Delmontes Fall. Videoaufnahmen zeigen seine Mutter bei der Totenwache für ihren Sohn, wie sie in Tränen über das Leid spricht, das die Mütter in Englewood plagt und die Gewalt, die ihnen ihre Kinder raubt. Immer wieder habe sie es bei anderen erlebt.
„Heute“, sagt sie, „bin ich dran.“ Englewoods Straßen sind erbarmungslos, sie verschonen niemanden. Doch Delmonte wollte nicht akzeptieren, dass die Gewalt seinen Alltag bestimmt. Zusammen mit anderen Jugendlichen aus Chicagos Problemvierteln schloss er sich der Bewegung „GoodKids MadCity“ an – gute Kids in einer verrückten Stadt. Ein jugendliches Aufbäumen gegen den mörderischen Kugelhagel.
Amoklauf von Parkland als Wendepunkt
Tränen stehen Carlil Pittman in den Augen, wenn er über seinen Freund Delmonte spricht. Carlil ist Mitbegründer der GoodKids, stammt ebenfalls aus Englewood und hat hier eine Familie gegründet und Freunde durch Waffengewalt verloren. Der 25-Jährige ringt nach Worten, wenn er über Delmontes Schicksal spricht. „Er wollte die Gewalt verhindern, doch am Ende hat sie ihn getötet. Sein Tod war ein Riesenschock für uns, aber hat auch verdeutlicht, wieso Chicago diese Bewegung braucht: Diese Stadt frisst ihre eigenen Kinder“.
Wenn in den USA über Waffengewalt diskutiert wird, dann meist im Zuge eines Amoklaufs und mit Fokus auf die betroffenen weißen Schüler.“
Seit Jahren engagiert sich Carlil für die Jugend seiner Heimatstadt, half Schülerproteste zu organisieren und Jugendorganisationen aufzubauen. Gegen die Gewalt in seinem Viertel, sagt er, habe er sich lange Zeit machtlos gefühlt. Bis es im Februar 2018 hunderte Kilometer entfernt in Parkland, Florida zum tödlichsten Schulmassaker in der Geschichte der USA kommt. 17 Menschen sterben beim Amoklauf von Nikolas Cruz.
Die Politik reagiert mit den üblichen Beileidsbekundigen, aber diesmal wollen die Betroffenen die Tragödie nicht einfach als weiteres Schulmassaker akzeptieren – es reicht, #neveragain. Einen Monat nach dem Amoklauf, am 24. März entlädt Amerikas Jugend ihre Trauer und Wut beim „March For Our Lives“. Eine Dynamik entsteht, die Waffengewalt scheint nicht mehr unvermeidbar, auch nicht in Englewood.
Alltägliche Massaker in den Problemvierteln
Carlil wählt seine Worte sorgfältig, wenn er über das Massaker in Parkland spricht, er will die Tragweite des Amoklaufes nicht kleinreden. Vielmehr will er zeigen, dass sich dieses Leid auch hier in Chicagos ärmeren Vierteln abspielt – und zwar täglich. Die meisten Jugendlichen haben Angehörige durch Schüsse verloren oder wurden gar selber angeschossen. Viele sind traumatisiert und leben mit Angststörungen, sagt er.
Er wollte die Gewalt verhindern, doch am Ende hat sie ihn getötet.“
Die GoodKids unterrichten an Schulen, wie man Schussverletzungen versorgt, damit die Kinder und Jugendlichen im Ernstfall handeln können. „Das macht man in Kriegsgebieten, das sollten Kinder nicht lernen müssen“ sagt Carlil und schüttelt fassungslos den Kopf, als müsste auch er sich noch an diese Realität gewöhnen. Allein in dem Monat zwischen Parkland und dem March for Our Lives, starben in Chicago 50 Menschen durch Schüsse. Auf diese Tragödie, wollen die GoodKids aufmerksam machen.
„Aber wenn in den USA über Waffengewalt diskutiert wird, dann meist im Zuge eines Amoklaufs und mit Fokus auf die betroffenen weißen Schüler“, sagt Carlil, „so auch nach Parkland.“ Dabei leiden gerade dunkelhäutige Jugendliche am meisten unter der Waffengewalt in den USA und haben statistisch ein zehnfach höheres Risiko durch Kugeln ums Leben zu kommen.
Neuer Elan für eine Reform der Waffengesetze
Der „March For Our Lives“ markierte eine Zäsur in der Debatte um Waffenrechte in den USA. Selten zuvor geriet die Waffen-Lobby NRA derart unter Druck. Nun scheint der Protest auch in konkrete politische Entscheidungen zu münden. Im Februar gab es erstmals seit acht Jahren wieder eine Anhörung zum Thema Waffengewalt vor dem Justizausschuss im Kongress, bei der gefordert wurde, Sturmgewehre zu verbieten, Backgroundchecks zu verschärfen und die nationalen Gesetze zu lockern, die Waffenhersteller vor Gerichtsklagen der Opfer schützen. Vor knapp zwei Wochen entschied das Oberste Gericht in Connecticut, dass die Opfer des Amoklaufs an der Sandy Hook Grundschule von 2012, den Waffenhersteller Remington Arms verklagen dürfen, weil dieser seine Waffen unverantwortlich bewirbt und Käufer nicht ausreichend prüft.

Es sind Prozesse, die unvorstellbar wären ohne die breite Öffentlichkeit, die der „March for Our Lives“ für die Problematik geschaffen hat. Diese politischen Fortschritte, sicherlich begünstigt durch ein demokratisches Abgeordnetenhaus, sind ein wichtiger Schritt, um zu verhindern, dass sich Tragödien wie Parkland zukünftig wiederholen. Aber Schulmassaker sind nur ein Teil des Waffenproblems, der andere spielt sich in Städten wie Chicago ab und braucht andere Lösungsansätze.
Waffengewalt als Symptom sozialer Ungleichheit
Michael Davis kennt die Gewalt in Chicago allzu gut und war selber Teil von ihr: Als 15-Jähriger musste er wegen bewaffnetem Raubüberfall zweieinhalb Jahren in eine Jugendstrafanstalt. Heute arbeitet er als Trainer und Streetworker für die Organisation Cure Violence und versucht, gefährdeten Jugendlichen, wie er einer war, eine Perspektive zu geben und sie von der Spur der Gewalt abzubringen.
Das Waffenproblem in Englewood wird meist als Konsequenz von Gangrivalitäten erklärt, doch Davis weiß, dass es aus der Not der Menschen geboren wird: „Ich wuchs ohne Vater auf, meine Mutter nahm Drogen, also musste ich mich um meine Geschwister kümmern. Ich habe Läden ausgeraubt, um ihnen Schulbücher zu kaufen. So geht es hier vielen.“
Genau wie die GoodKids wollen Davis und seine Organisation zeigen, dass die Waffengewalt nur ein Symptom größerer Probleme ist: der Armut und Perspektivlosigkeit, die Viertel wie Englewood befallen haben. Davis Büro befindet sich im zehnten Stock eines Hochhauses auf dem Medizincampus der Universität von Chicago. Der Standort ist nicht zufällig gewählt, erklärt er. Cure Violence untersucht die Gewalt als ansteckende Krankheit. Davis spricht von einer Epidemie der Gewalt: „Sie überträgt sich von Mensch zu Mensch. Wem Leid angetan wird, der wird auch anderen Menschen Leid zufügen.“
Hoffnungsschimmer und Kollateralschäden
Diese Gewaltspirale kostete allein in Chicago letztes Jahr 550 Menschen das Leben, die Polizei beschlagnahmte insgesamt 10.000 illegale Waffen. Dass die Mordrate in den vergangenen Jahren stetig gesunken ist, führt die Stadtverwaltung auf das erhöhte Polizeiaufgebot und strengere Waffengesetze zurück. Die Antwort auf die Gewalt hier sei, immer mehr Polizei einzusetzen, aber dadurch würden auch neue Probleme geschaffen, kritisiert Carlil.
Mehr Polizei bedeutet nicht mehr Sicherheit, im Gegenteil, unsere Schulen werden dadurch kriminalisiert. Sie fühlen sich nach Gefängnis an.“
„Nach Parkland hatten viele Schüler hier Angst, dass wir die Kollateralschäden des Amoklaufs spüren werden,“ sagt Carlil und verweist darauf, dass in der Vergangenheit solche Tragödien zu einem erhöhten Polizeiaufgebot an Schulen in ärmeren Vierteln wie Englewood geführt haben, ohne den Schülern aber das zu geben, was sie eigentlich benötigen: „Wir brauchen Therapieangebote und Schulpädagogen, aber wir kriegen Menschen mit Waffen.“
Carlil lächelt kurz vor Fassungslosigkeit bevor er mit ernster Miene hinzufügt: „Mehr Polizei bedeutet nicht mehr Sicherheit, im Gegenteil, unsere Schulen werden dadurch kriminalisiert. Sie fühlen sich nach Gefängnis an.“ Das Letzte, was Jugendliche in Englewood sehen wollen, sind noch mehr Waffen, ganz egal wer sie trägt.
„Wir werden die Gewalt nicht komplett besiegen,“ sagt Carlil nüchtern bei der Verabschiedung, „aber jede Woche erreichen uns Anfragen von Teenagern, die sich bei uns engagieren wollen und das gibt mir Mut.“ In seiner Stimme schwingt keine Resignation mit, sondern gesunder Realismus. Parkland und der March for Our Lives haben einen Wandel vorangetrieben, der es aus den Klassenzimmern bis ins Kapitol nach Washington geschafft hat. Carlil hofft, dass nun die Straßen seiner Heimat an der Reihe sind. Die verrückte Stadt hat schon zu viele gute Kids verschlungen.