Die Patientenvertretung befürchtet, dass die Heilungschancen einiger Patienten im Lockdown beeinträchtigt wurden, weil sie zu lange auf Krankenhaustermine warten mussten. Einige Patienten fühlten sich vernachlässigt und reichten Beschwerden ein.
„Mäi Fall ass, dass ech trotz schwéierem Verdacht op Kriibs keen Rendezvous a kengem Spidol hei am Land kréien fir eng dringend Echographie a Scintigraphie kënne gemach ze kréien.“ Der Ton der E-Mail, die REPORTER vorliegt ist dringlich – zum Teil anprangernd. Es sind die Worte eines Patienten, der im April beim Gesundheitsministerium Beschwerde einreichte.
Der Absender, Felix P.*, spricht von einer „Zwei-Klassen-Medizin“: „Entweder et huet een Corona oder et gëtt een net traitéiert“. Nachdem Felix P. vor zwei Jahren den Kampf gegen Hautkrebs gewann, wurde bei ihm Ende März ein möglicher Tumormarker festgestellt, der auf Schilddrüsenkrebs hinweist. Um herauszufinden, ob es sich tatsächlich um eine Krebserkrankung handelt, verschrieb ihm sein Endokrinologe weitere Tests. Doch einen Termin im Krankenhaus erhielt er anfangs nicht.
Erst im August wurde das Diagnoseverfahren bei Felix P. fortgesetzt – und es gab Entwarnung. Doch Felix P. ist kein Einzelfall. Insgesamt gingen bei der „Patiente Vertriedung ASBL“ rund 20 Fälle ein, in denen Patienten eine ausbleibende Behandlung während der Covid-19-Krise beklagten und zum Teil eine akute Verschlechterung ihres Gesundheitszustands befürchteten. Diese Information bestätigt Michèle Wennmacher, Direktionsbeauftragte der Vereinigung im Gespräch mit REPORTER.
Möglicher Chancenverlust
„Trotz Verdachts auf eine schwere Krankheit, wurden bei diesen Patienten wichtige ärztliche Untersuchungen nicht durchgeführt“, bemängelt Michèle Wennmacher. Zudem hätten Patientenüberweisungen ins Ausland teilweise mit Verzögerung oder überhaupt nicht stattfinden können. Einen Missstand, für den Wennmacher starke Worte findet: „Ich bin der Ansicht, dass man in verschiedenen Fällen von einem Chancenverlust sprechen kann.“
Im Lockdown wurden verschiedene Patienten zu Kollateralschäden der Medizin.“ Sandro Cornaro, CHEM
Eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums bestätigt ihrerseits, dass die meisten Beschwerden von Patienten eingingen, „die keinen Termin für einen MRT, einen Scan oder eine Mammografie erhielten, weil diese wegen Covid-19 abgesagt wurden, oder [danach] die Wartezeit auf den neuen Termin einfach zu lang war.“ Während zwei Monaten seien keine Mammografien und Darmkrebstests durchgeführt worden, betonte seinerseits der Präsident der „Association des Médecins et Médecins-Dentistes“ (AMMD), Alain Schmit, auf Radio 100,7.
Zudem seien nicht nur Tests ausgeblieben. Das Gesundheitsministerium bestätigt, dass Beschwerden von Patienten eingingen, deren Wirbeleinbruch, Carpaltunnelsyndrom (Einklemmung eines Nervs), oder heftige Rückenschmerzen nicht zeitnah behandelt wurden. Außerdem ist von ausgebliebenen Operationen, darunter Rückenoperationen die Rede. Sandro Cornaro des CHEM bringt die Situation folgendermaßen auf den Punkt: „Im Lockdown wurden verschiedene Patienten zu Kollateralschäden der Medizin. Etliche Behandlungen wurden verschoben.“
Dringlichkeit vs. Lockdown
Die „Association des Médecins et Médecins-Dentistes“ (AMMD) machte in den vergangenen Monaten bereits vermehrt auf die Risiken eines längeren Behandlungsstopps aufmerksam. In den Krankenhäusern wurde der Normalbetrieb erst Anfang Mai wieder aufgenommen– die Rückstände waren erheblich. In einem öffentlichen Brief sprach die AMMD Mitte April von den „oft schweren und manchmal dauerhaften Konsequenzen“ des Versorgungsmangels. Die Ärztevertreter bezog sich dabei ausdrücklich auf „die ausstehenden Krebsvorsorge- wie auch Nachsorge-Untersuchungen, die Herzinfarkte und die zu spät diagnostizierten Schlaganfälle, die unerkannten Diabetes-Fälle, die nicht gut behandelten psychischen Erkrankungen und viele anderen chronischen Leiden.“
Claude Schummer, Generaldirekter der „Hôpitaux Robert Schuman“ sagte auf Radio 100,7: „Die Patienten, die im Mai langsam wiederkamen, befanden sich teilweise in keinem guten Zustand.“ Er betonte, dass sich Krankenhäuser im Fall einer weiteren Covid-19-Infektionswelle nicht erlauben könnten, die normale Versorgung erneut zurückzufahren.
Auf Nachfrage von REPORTER erklärte das Gesundheitsministerium: „Als Ministerium greifen wir nicht in die interne Organisation einer Krankenhauseinrichtung ein. Die Terminvergabe in den Krankenhäusern wird dort organisiert.“ Die Beschwerden der Patienten habe man an das jeweilige Krankenhaus weitergeleitet mit der Bitte, die Situation zu analysieren und nachzuprüfen, ob man dem Patienten womöglich einen anderen Termin geben könne. REPORTER-Informationen zufolge sind auch im September einige Krankenhauses noch dabei, den Corona-bedingten Rückstand bei der Durchführung medizinischer Prozeduren aufzuarbeiten.
Eine gemeinsame Entscheidungen
Von einem Fehlverhalten oder einer Fehleinschätzung gegenüber Patienten will die „Fédération des Hôpitaux Luxembourgeois“ (FHL) ihrerseits nichts wissen. Im Gespräch mit REPORTER versichert der Präsident der FHL, Paul Junk, dass „zu diesem Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen getroffen wurden. „Alle lebenswichtigen Behandlungen wurden weitergeführt, die anderen wurden verschoben.“
Ob und wann eine Behandlung oder weitere Diagnosetests durchgeführt würden, sei „die Angelegenheit des Arztes“, betont der Generalsekretär der FHL, Sylvain Vitali. Er verneint allerdings, dass die Verantwortung für die fehlende Behandlung von Patienten bei den Ärzten liege. „Die Entscheidungen wurden zwischen allen Akteuren getroffen“, sagen beide. Sprich: Das Zurückfahren der ärztlichen Kontrollen und Testverfahren sei vom Gesundheitsministerium, den Krankenhausverwaltungen und der Ärzteschaft so entschieden worden.
Die nachträgliche Aufarbeitung dieser Entscheidungen steht indes noch aus. „Die Bilanz müssen wir noch einmal ziehen“, sagte Claude Schummer gegenüber 100,7. Michèle Wennmacher der Patientenvertretung fordert ihrerseits die Gründung einer Arbeitsgruppe, die im Nachhinein nachprüft, wo Versäumnisse stattfanden.
Im Rahmen der Diagnoseerstellung für schwere Krankheitsbilder liegen REPORTER auch Beispiele vor, in denen Verdachtsfälle auf Krebs äußerst schnell bestätigt und behandelt wurden.
*Der Name des Betroffenen wurde zwecks Anonymisierung von der Redaktion geändert.
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