Ein Polizist erschießt in Bonneweg einen Autofahrer. Vier Jahre später wird der Beschuldigte wegen Totschlags verurteilt. Wie die Richter zu dieser Entscheidung gelangten, aber dabei von einer hohen Strafe absahen, geht aus dem Urteil hervor, das Reporter.lu vorliegt.
Bonneweg, 11. April 2018, kurz vor 16 Uhr: Ein Polizist feuert mit seiner Dienstwaffe dreimal auf ein Auto. Bereits der erste Schuss trifft den Fahrer, der später verstirbt. Der Schütze will keine andere Handlungsmöglichkeit gesehen haben: Der Mercedes sei direkt auf ihn zugefahren, nachdem sich der Fahrer einer Kontrolle entziehen wollte. Der Schusswaffengebrauch scheint legitim.
Doch ist er es? Hatte der Polizist – damals knapp acht Monate im Dienst – angesichts einer Gefahr für sein Leben keine andere Wahl, als zu schießen? Das ist die essenzielle Frage, mit der sich vier Jahre später ein Gericht befasst hat. Wenn ja, handelte er in Notwehr und muss vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen werden. Wenn nein, dann hat er trotz Alternativen die bewusste Entscheidung zum Schießen getroffen – mit allen möglichen Konsequenzen für sämtliche Beteiligten.
Die zuständige Kriminalkammer kommt zum Schluss, dass Letzteres der Fall war. Sie verurteilt den 26-Jährigen, der mittlerweile den Polizeidienst verlassen hat, Ende November wegen Totschlags zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe. Drei Jahre werden zur Bewährung ausgesetzt. Hinzu kommen 5.000 Euro Geldstrafe sowie rund 20.000 Euro Schadenersatz für die Frau des Opfers. Die Verteidigung hatte nach der Urteilsverkündung angedeutet, Berufung einlegen zu wollen. Bisher ist dies noch nicht geschehen.
Von Fall zu Fall
Das Urteil ist in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen kann es zum Präzedenzfall für den Schusswaffengebrauch bei der Polizei und die Frage von Notwehr („légitime défense“) werden. Zum anderen erscheint das Strafmaß für eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung sehr gering. Wie die Richter zu der Entscheidung gelangten, geht aus dem Urteil hervor, das Reporter.lu vorliegt. Dabei spielt die Persönlichkeit des Angeklagten eine Rolle, aber auch eine Mitschuld des Opfers.
In Luxemburg sind Fälle, in denen Personen durch eine Polizeiwaffe verwundet oder getötet werden, selten, doch sie kommen vor. Erst im Juli 2021 erschießt in Ettelbrück ein Polizist einen Mann, der ihn mit einem Messer attackiert. Anfang dieses Jahres entscheidet die Justiz, dass der Beamte in Notwehr handelte und es gegen ihn keine Strafverfolgung gebe.
Im Fall von Bonneweg aber kam es zur Strafverfolgung. Denn jeder Fall von Schusswaffengebrauch im Dienst wird von der Generalinspektion der Polizei (IGP) auf seine Legitimität untersucht. In der Folge entscheidet die Staatsanwaltschaft und letztlich eine richterliche Ratskammer über eine Anklage. Am Ende eines möglichen Prozesses steht dann ein Urteil, und im Fall von Bonneweg lautet dieses in erster Instanz: schuldig, weil keine Notwehr.
Schuss aus 30-Grad-Winkel
Der Angeklagte habe sich nicht in einer Gefahrensituation befunden, die so groß war, dass es absolut notwendig („absolument nécessaire“) gewesen sei, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen, hält das Gericht fest. Statt dieses „moyen extrême de la force létale“ gegen eine Person einzusetzen, die nur habe fliehen wollen und die sich zu diesem Zeitpunkt keiner Gewalttat schuldig gemacht habe, hätte der Beamte sich für eine Alternative entscheiden können und müssen. Tatsächlich wollten die drei Polizisten vor Ort den Wagen nur kontrollieren, weil dieser Beschädigungen aufwies, die von einem Unfall hätten stammen können.
Il a fait usage de son arme (…) parce qu’il était désireux de s’en servir et de procéder à l’arrestation de la victime coûte que coûte.“Urteil vom 23. November 2022
Im „respect du principe de la prééminence du respect de la vie humaine“ hätte der Angeklagte die körperliche Unversehrtheit des Opfers wahren und sich aus der Gefahrenzone entfernen müssen, erklären die Richter. Denn dazu hatte der damals 22-Jährige laut Auffassung des Gerichts die Möglichkeit. Es beruft sich dabei auf die Analysen der Gutachter, die drei Szenarien für die Position des Schützen bei der Schussabgabe erstellten. Die Ballistiker hatten allesamt ermittelt, dass der erste Schuss aus einem Winkel von etwa 30 Grad abgefeuert wurde. Das bedeutet, dass der Polizist sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr direkt vor dem herannahenden Mercedes befand, sondern bereits außerhalb von dessen „Trajectoire“.
Das heißt: Alle drei Schüsse erfolgten – kontrolliert und mit nur einer Hand – in einer Drehbewegung, nachdem der Fahrer bereits ein Ausweichmanöver nach links eingeleitet hatte. Dabei merken die Richter an, dass zumindest nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass der Beamte entschied zu schießen, bevor das Ausweichen des Wagens erkennbar war. Dennoch sind sie der festen Überzeugung, dass er über genügend Zeit verfügte – und sich dessen auch bewusst war –, um aus dem Weg zu gehen, sobald er sah, dass das Auto auf ihn zufuhr. Das Ganze spielte sich in einem Zeitfenster von 51 Sekunden ab.
Festnahme „um jeden Preis“
Das Gericht kommt demnach zur Schlussfolgerung, dass der Angeklagte schoss, weil er gewillt („désireux“) war, seine Waffe benutzen, und weil er den Autofahrer um jeden Preis („coûte que coûte“) festnehmen wollte. Er habe das nicht in der Hoffnung getan, das Auto zum Anhalten oder zum Umlenken zu bewegen. Das Gericht verweist dabei auch auf Ermittler und Polizeiausbilder. Diese hatten ausgesagt, dass Rekruten in der Ausbildung lernen, nur im absoluten Notfall von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Zudem würde Polizeischülern beigebracht, dass ein Fahrzeug nicht durch Pistolenschüsse zu stoppen sei.
Die Richter betonen allerdings, nicht die Auffassung der Staatsanwaltschaft zu teilen, dass der Beschuldigte seit Längerem den Wunsch gehegt habe, einen Menschen zu töten, und nur auf eine Gelegenheit gewartet habe. Sie sagen aber, dass er zum Zeitpunkt der Schussabgabe den Tod des Opfers wissentlich in Kauf genommen habe, und zitieren dabei juristische Fachliteratur: „Celui qui en connaissance de cause, met en oeuvre des moyens qui normalement doivent donner la mort, ne peut avoir eu d’autre intention que celle de tuer.“
„Finger locker am Abzug“
Die Persönlichkeit des Angeklagten, wie Zeugen und psychiatrische Gutachter sie beschrieben, sowie sein Verhalten vor und nach der Tat würden laut Gericht zudem unterstreichen, dass er „une personne ayant la gâchette facile“ mit einem Hang zu unüberlegten Risiken zu sein scheint.
Tatsächlich war der Beschuldigte nicht nur durch eine fehlende Empathie für das Schicksal des Opfers aufgefallen. Auch Aussagen wie etwa, ohne Waffe niemanden mehr „bläien“ zu können oder nun einer der „Stars vu Bouneweg“ zu sein, erregten Aufmerksamkeit. Unter Kollegen war denn auch bekannt, dass der Angeklagte eine Tendenz hatte, beständig mit seiner Waffe herumzuhantieren und im Dienst die direkte Konfrontation zu suchen. Zudem waren Monate nach der Tat brutale Gewaltvideos auf seinem Computer sichergestellt worden.
Au vu de la manœuvre agressive de la victime, il y a lieu de retenir la provocation comme cause d’excuse dans le chef du prévenu.“Urteil vom 23. November 2022
Was das Opfer an jenem Tag umtrieb, konnten die Ermittlungen derweil nicht gänzlich zutage fördern. Der 51-jährige Niederländer, der im deutschen Grenzgebiet wohnte, war aber seit Längerem alkohol- und drogenabhängig. Zweimal hatte er wegen Fahrens ohne Führerschein im Gefängnis gesessen und er hatte sich bereits in der Vergangenheit einer Polizeikontrolle entziehen wollen. Auch an jenem 11. April 2018 stand er laut Autopsie unter dem Einfluss mehrerer Suchtmittel.
Provokation als „Entschuldigung“
Das Verhalten des Opfers ist denn auch der Grund, warum dem Ex-Polizisten trotz einer Verurteilung wegen Totschlags eine hohe Haftstrafe erspart blieb. Dabei kann dieser Tatbestand gemäß Strafgesetzbuch mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe geahndet werden. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrem Strafantrag nicht weniger als 30 Jahre Haft gefordert. Dass es am Ende fünf Jahre mit Teilbewährung wurden, ist darauf zurückzuführen, dass die Richter das aggressive Manöver des Autofahrers als Provokation im juristischen Sinne auslegen, was als Strafmilderungsgrund („Excuse“) gilt.
Das Opfer sei mit hoher Geschwindigkeit direkt auf den Angeklagten zugefahren, ohne Rücksicht auf dessen Sicherheit, und sei erst im letzten Moment nach links ausgewichen. Insofern geben die Richter dem Opfer eine Teilverantwortung für den Vorfall. Auf zivilrechtlicher Ebene lässt sich diese Verantwortung gemäß Urteil sogar quantifizieren, nämlich auf zwei Drittel für den Angeklagten und ein Drittel für das Opfer.
Unter Berücksichtigung der Provokation nahm das Gericht eine Neugewichtung der Strafmaßstäbe („Requalification partielle“) vor. Dadurch wurde die mögliche Maximalstrafe für Totschlag von lebenslänglich auf fünf Jahre Haft und 5.000 Euro Geldstrafe reduziert – also exakt jenes Strafmaß, das die Richter letztlich aussprachen.
Dass die Strafe nicht komplett zur Bewährung ausgesetzt wird, begründen die Richter damit, dass wenig zugunsten des Angeklagten spreche, der sich der Schwere seiner Tat nicht wirklich bewusst sei. Das Gericht erkenne wenig Reue und Schuldbewusstsein gegenüber dem Opfer und könne auch nicht so einfach über die schockierenden Aussagen des Beschuldigten hinwegsehen, die „avec les faits, colorent le dossier d’une même tonalité et plaident peu en sa faveur“.