Anfang des Jahres hat sich der Schüler eines Lyzeums das Leben genommen. Die Schule greift bei der Aufarbeitung auf ein bestehendes Hilfsprogramm zurück. Doch obwohl es mittlerweile verpflichtend ist, sind längst nicht alle Schulen auf den Ernstfall vorbereitet.

„Heiansdo geschéie Saachen, déi schwéier ze verstoen a z’annoncéieren sinn. Schwéieren Häerzens muss ech Iech matdeelen, datt den XY, Schüler op der XY, sengem Liewen en Enn gesat huet. Mir hätte gär, datt Dir wësst, datt mir fir Iech do sinn, fir Iech op all méiglech Manéier z’ënnerstëtzen.“

Es sind dies Sätze, die nicht nur schwer zu lesen, sondern auch schwer zu schreiben sind. Dabei sind es äußerst wichtige Sätze, sind sie doch oft die ersten Rettungsanker in einer Situation voller diffuser Gefühle und unsicherer Informationen. Der Brief einer Schuldirektion, der über den Suizid einer Mitschülerin oder eines Mitschülers informiert, ist einer der ersten Schritte zur Aufarbeitung. Er muss zeitnah verschickt werden, um sofortige Hilfe anzubieten und um Gerüchte erst gar nicht entstehen zu lassen. Er sollte vorbereitet in einer Schublade liegen und im Ernstfall herausgenommen und nur noch angepasst werden müssen.

Zwischen Hilflosigkeit und Notfallplan

Doch meistens stellt sich eine Gemeinschaft erst Fragen nach dem Umgang mit einem Suizid, wenn sie die Antworten bereits umsetzen sollte. „Suizid ist weiterhin ein Tabu, die Auseinandersetzung mit ihm wird erst zur Priorität, wenn es schon zu spät ist“, sagt Barbara Gorges-Wagner, Leiterin des „Kanner-Jugendtelefon“, einem psychosozialen Beratungsdienst für Kinder und Jugendliche.

Ihre Aussage deckt sich mit den Erfahrungen aus den Schulen. Das Thema Suizid wird im Alltag gerne verdrängt. Doch nimmt sich dann doch eine Schülerin oder ein Schüler das Leben, muss die Bildungseinrichtung unter Schock und ohne gut überlegte Strategie reagieren. Die größte Herausforderung, wie betroffene Direktionen im Gespräch mit Reporter.lu erzählten, sei es, Nachahmungstaten zu vermeiden.

Den Umgang mit und die Kommunikation über Suizid im schulischen Milieu kann und sollte man üben.“François d’Onghia, Ligue Luxembourgoise d’Hygiène Mentale

Als sich im Jahr 2014 in kurzen Abständen gleich mehrere Lyzeen mit einem Suizid in ihrer Schulgemeinschaft konfrontiert sahen, bildete sich „aus einer kompletten Hilflosigkeit heraus“ – wie einige damals Betroffene erzählen – eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe. Oberstes Ziel war, sich gegenseitig bei der Aufarbeitung des Erlebten zu unterstützen und sich über die Betreuung der Schülerschaft zu beraten.

Doch die Gruppe blieb auch nach diesen akuten Fällen bestehen. Lehrpersonal, Vertreter der Polizei, der Schuldirektionen und der Ministerien für Gesundheit und für Bildung, sowie Psychologen und Juristen machten es sich letztlich zur Aufgabe, einen Notfallplan auszuarbeiten. Dabei orientierten sich die Experten auch am Konzept der Postvention, also der nachsorgenden Maßnahmen für alle von einer Suizidhandlung Betroffenen.

Vorbereitung auf den Ernstfall

Wie offen soll über Suizid gesprochen werden? Wie behält die Schule die Kontrolle über die Kommunikation? Wie sind die Reaktionen der Hinterbliebenen einzuordnen? Wie können Traumata und Trauer verarbeitet und wie Kinder erkannt werden, die vielleicht selbst in einer Krise stecken? Unter der Federführung der „Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale“ entstand 2017 die erste Ausgabe eines Leitfadens, der diese Fragen bestmöglich beantwortet und damit Schulen Instrumente an die Hand gibt, um im Fall eines Suizids in ihrem schulischen Umfeld angemessen reagieren zu können.

Dennoch setzen sich längst nicht alle Lyzeen und Internate mit dem Leitfaden auseinander. Das Dokument sieht vor, dass jede Schule in ihrer Belegschaft eine „Equipe de postvention“ bildet, die eine schulinterne Strategie entwickelt und das Schulpersonal gegebenenfalls anleiten kann. „Der unerwartete Tod eines Mitglieds der Schulgemeinschaft ist ein Ereignis, das oft sehr destabilisierend wirkt und manchmal zu unangemessenen Reaktionen führt, wenn sie nicht vorher überlegt und besprochen wurden“, heißt es in dem Leitfaden.

François d’Onghia, der Leiter der Abteilung für Prävention und Information der „Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale“, schätzt die Anzahl der Schulen, die sich auf diese Weise auf einen Ernstfall vorbereitet haben, auf nur „etwa ein halbes Dutzend“. Und auch jene Schulen, die Vertreter und Vertreterinnen zu den Fortbildungs- und Vorbereitungskursen seiner Vereinigung geschickt haben, kann der promovierte Psychologe an einer Hand abzählen. Dabei gibt es in Luxemburg insgesamt 37 staatliche Lyzeen, einige davon mit mehreren Standorten.

„Ein Suizid im schulischen Milieu kommt nicht oft vor, aber wenn, dann ist die Wirkung wie ein Tsunami“, sagt François d’Onghia. „Es ist ratsam, darauf vorbereitet zu sein. Den Umgang mit und die Kommunikation über Suizid im schulischen Milieu kann und sollte man üben.“

Psychische Störungen nehmen zu

Im Bildungsministerium scheint man sich des Ernstes der Lage und des bescheidenen Engagements vieler Schulen durchaus bewusst zu sein. Vor eineinhalb Jahren verpflichtete Bildungsminister Claude Meisch (DP) alle Lyzeen des Landes dazu, eine „Equipe de postvention“ zusammenzustellen, die im Fall eines Suizids an der Schule die Koordination übernimmt. Als Anreiz für ihr Lehrpersonal können die Lyzeen seit dem vergangenen Schuljahr für diese Arbeit zwei bezahlte Freistunden pro Woche beantragen. Bisher hat etwa ein Viertel der staatlichen Schulen die Freistunden beantragt.

Es kann nicht sein, dass der Umgang mit Suizid im schulischen Milieu dem Zufall überlassen wird.“Nathalie Keipes, Centre de psychologie et d’accompagnement scolaire

Das „Centre de psychologie et d’accompagnement scolaire“ (Cepas) ist dabei, ein Netzwerk aufzubauen, um den Austausch der Koordinatoren dieser postventiven Teams der Schulen zu fördern. Ein erstes Treffen ist für April geplant. Bisher haben sich 18 Koordinatoren beim Cepas gemeldet.

„Es kann nicht sein, dass der Umgang mit Suizid im schulischen Milieu dem Zufall überlassen wird“, sagt Nathalie Keipes, Direktorin des Cepas, im Gespräch mit Reporter.lu. Auch sie weiß, dass der Prozentsatz der Kinder und Jugendlichen mit depressiven Verstimmungen und psychischen Störungen seit Jahren kontinuierlich zunimmt.

Dies belegen diverse internationale Studien, wie zum Beispiel die im Vierjahresrhythmus von der Weltgesundheitsorganisation geleitete Studie „Health behaviour in school-aged children“. Aus ihrem Länderbericht für Luxemburg von 2014 geht hervor, dass beinahe jeder sechste Jugendliche Suizidgedanken kennt. 7,7 Prozent der Befragten gaben an, in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal versucht zu haben, sich das Leben zu nehmen.

Nebenwirkungen der Pandemie

Aktuellere Zahlen liegen bisher nicht vor. Es ist zudem schwer, die Auswirkungen der Pandemie auf die Suizidalität bei Jugendlichen klar zu bemessen. Das Kapitel zur Suizidalität wurde in Luxemburg bei der Befragung von 2018 aus datenschutzrechtlichen Gründen gestrichen und die Ergebnisse der Umfrage von 2022, bei der die Fragen optional nun wieder dabei sind, stehen noch aus. Die Suizidrate scheint bis 2020 zwar stabil geblieben zu sein, Experten warnen jedoch vor voreiligen Schlüssen, da man solche erst in einem mehrjährigen Rückblick ziehen könne.

Nicht mehr von der Hand zu weisen ist hingegen, dass die mit der Pandemie einhergehenden sozialen Einschränkungen in besonderem Maße Kinder und Jugendliche belasten. Dadurch häufen sich fast zwangsläufig auch psychische Störungen, die therapeutisch behandelt werden müssten.

Barbara Gorges-Wagner beschreibt einige Entwicklungen im Gespräch mit Reporter.lu als „erschreckend“. Die Anzahl der Jugendlichen, die sich wegen selbstverletzenden Verhaltens beim „Kanner-Jugendtelefon“ meldeten, hat sich in den vergangenen zwei Jahren verdreifacht. Auch die Suche nach Hilfe bei Angst und depressivem Verhalten nahm demnach signifikant zu.

Dies trifft ebenso auf die Anrufe zu, die bereits eine klare „suizidale Thematik“ zum Gegenstand hatten, die Anzahl stieg von 76 Anrufen im Jahr 2019 auf 106 Gespräche im Jahr 2021. „Es ist sehr ernst zu nehmen, dass es so vielen Jugendlichen schlecht geht und nicht wenige von ihnen eine latente Suizidalität aufweisen“, sagt die Leiterin des Kinder- und Jugendtelefons.

Richtige Infrastruktur bereitstellen

„Wir wissen heute, dass die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung Nebenwirkungen auf die psychische Gesundheit haben und dass neben den Menschen in den Altenheimen besonders Kinder und Jugendliche darunter leiden. Darauf muss eine Gesellschaft sich unbedingt vorbereiten“, fordert der Psychologie-Professor Claus Vögele, der an der Universität Luxemburg zum Wohlbefinden während der Pandemie forscht.

Ein Suizid ist schrecklich. In den meisten Fällen aber auch schrecklich unnötig und vermeidbar.“
Claus Vögele, Psychologie-Professor

Auch Claus Vögele beobachtet eine besonders hohe Zunahme an Störungen bei Kindern und Jugendlichen, die sich durch Rückzug oder selbstzerstörerisches Verhalten ausdrücken. „Suizid ist in den seltensten Fällen eine Kurzschlussreaktion, sondern fast immer ein Prozess“, erinnert der klinische Psychologe und Psychotherapeut. „Wenn es dann zum Suizid kommt, hat meist der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht und dafür kann auch ein verletzender Kommentar in den sozialen Netzwerken ausreichen.“

Der Experte bedauert, dass das Fortbildungsprogramm der „Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale“ zum Umgang mit Suizid vom Schulpersonal nicht stärker in Anspruch genommen wird. Er fordert eine stärkere Bewusstseinsarbeit bei den Pädagogen und eine bessere psychologische Vorbereitung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern. „Hilflosigkeit und Überforderung führen leider schnell zu unangemessenen Reaktionen und Schuldzuweisungen“, sagt Claus Vögele und betont: „Niemand hat jemals Schuld daran, dass sich ein Mensch das Leben nimmt. Möchte man dennoch von Schuld sprechen, dann muss sich der Vorwurf gegen diejenigen richten, die nicht die entsprechende Infrastruktur bereitstellen.“

Eine der größten politischen Herausforderungen, den durch die Pandemie verstärkten psychischen Belastungen entgegenzuwirken, sieht Claus Vögele deshalb darin, das niederschwellige Angebot an Therapiemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche drastisch auszubauen. Denn, wie er abschließend sagt: „Ein Suizid ist schrecklich. In den meisten Fällen aber auch schrecklich unnötig und vermeidbar.“

Diese Aussage trifft besonders auf Schüler und Schülerinnen zu. Junge Leute, die rechtzeitig Hilfe bekommen, haben auch mehr Chancen, Lösungen für ihre Probleme zu finden. Deshalb ist es nicht nur die Hilflosigkeit, sondern auch das Gefühl der Vermeidbarkeit, das viele der Hinterbliebenen noch lange beschäftigt.

Hilfestellen

Wer Suizidgedanken hat, sollte sich Hilfe suchen – sei es bei einer vertrauten Person, bei einem Psychologen oder bei einer Hilfestelle wie SOS Détresse (Telefonnummer: +352 454545). Für Kinder und Jugendliche gibt es eine spezielle Hotline (Telefonnummer: +352 166 166).

Weitere Informationen gibt es auch auf folgenden Webseiten: www.prevention-suicide.lu und www.covid19-psy.lu.


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