Nach öffentlicher Kritik hat das Bildungsministerium sein Projekt zur Öffnung von Direktionsposten für den Privatsektor auf Eis gelegt. An anderen Stellen schreitet die „Privatisierung“ der Schule dagegen weiter voran. Dabei deutet die Kontroverse auf ein grundsätzlicheres Problem hin.

Wenn Gilles Everling von Privatisierung spricht, geht es schnell um das Demokratieverständnis des Bildungsministeriums. Es folgt ein Rundumschlag gegen Privatschulen, den Einfluss von Konzernen wie „Apple“ oder „Microsoft“, das Bewertungssystem von Lehrern und den Kauf von privaten Lehrplänen. „Die beiden Gesetzestexte zur Besetzung von Direktionsposten sind nur die Spitze des Eisbergs“, sagt der Präsident der Lehrergewerkschaft „APESS“ im Gespräch mit Reporter.lu.

Seit Jahren bemängeln die Lehrergewerkschaften, dass das Ministerium schleichend die Privatisierung der öffentlichen Schule vorantreibe. Vor wenigen Wochen verglichen „SEW“ und „APESS“ das Vorgehen des Ministeriums mit einem Puzzle. Nach und nach würde das Ministerium die einzelnen Puzzlestücke zusammensetzten. Erst wenn es bereits zu spät ist, wird das Bild erkennbar: die Privatisierung der öffentlichen Bildung.

Dabei stellt sich die Frage, ob die von den Gewerkschaften beschriebenen Puzzleteile der Privatisierung tatsächlich immer zusammenpassen. Während die Gewerkschaften in den verschiedenen Tendenzen eine Gefahr für die öffentliche Schule sehen, erkennt das Ministerium darin eine Chance zur Umsetzung eines modernen Bildungssystems.

Vom Schlagwort zur Substanz

Wobei der Minister die Kritik anhand des Schlagworts „Privatisierung“ nicht wirklich nachvollziehen kann: „Da glaubt man ja fast, wir würden eine Anzeige in der Zeitung schalten, wer investiert gerne in unsere Schulen und wer kauft uns die gerne ab und betreibt sie danach als privates Unternehmen“, sagte Claude Meisch (DP) kürzlich im Interview mit „Radio 100,7“. Laut dem Minister ist sogar das Gegenteil der Fall: Demnächst werde die Regierung mit der „École Privée Grandjean“ einen privaten Träger verstaatlichen, erklärte der Bildungsminister im Parlament während der Debatte über die Petition „Gegen die Privatisierung der öffentlichen Schule“.

Die Gewerkschaften werfen dem Minister wiederum vor, von der eigentlichen Debatte abzulenken. „Der Staat gibt langsam die Kontrolle über die Bildungspolitik an die Schulen oder private Träger ab, Schüler werden als Kunden gesehen und die Konkurrenz zwischen den Schulen nimmt zu“, erklärt Vera Dockendorf im Gespräch mit Reporter.lu. Das Mitglied des Vorstandes der Sekundarschulsektion des SEW-OGBL sieht in diesen Tendenzen eine Gefährdung der Chancengleichheit, während das Ministerium genau den Anspruch verteidigt, mit diesen Programmen die Chancengleichheit zu fördern.

Zersplitterte Bildungslandschaft

Neben der Frage der Öffnung der Bildungseinrichtungen für Führungskräfte aus dem Privatsektor geht es dabei etwa um das internationale Angebot in den öffentlichen Schulen. Doch auch hier hat das Ministerium zum Teil eingelenkt. Noch kürzlich setzte das „Lycée Michel Lucius“ für sein englischsprachiges Schulangebot auf das Unterrichtsmaterial des Privatanbieters „Pearson“. Doch laut Ministerium gehöre dies nun der Vergangenheit an. „Wir nehmen uns die Kritik zu Herzen“, erklärte der Minister den Schritt vor einer Woche im Parlament.

Doch den Gewerkschaften geht es um mehr. Auch die beiden „non-profit“-Anbieter „IBO“ und „Cambridge Assessment“ sind ihnen ein Dorn im Auge. „Beim Internationalen Baccalauréat geht es nur um den Output. Die Lehrer können aktuelle Ereignisse nicht aufgreifen und kritisches Denken wird nicht gefördert“, sagt Vera Dockendorf. Dass die Programme keine Privatinteressen vertreten, weil sie einer Stiftung oder einer Universität angehören, lässt auch Gilles Everling nicht als Argument gelten. „Bertelsmann ist auch eine Stiftung und gleichzeitig Eigentümer des Privatunternehmens RTL. Das eine schließt das andere nicht aus“, so der Präsident der „APESS“.

„Wir sind noch weit weg von einem angelsächsischen Schulmodell“: Der Kabinettschef im Bildungsministerium, Lex Folscheid, wehrt sich gegen die pauschale Kritik einer „Privatisierung“ des Luxemburger Schulsystems. (Foto: Eric Engel)

Im Gespräch mit den Lehrerlobbies wird allerdings deutlich, dass hinter dem kritisierten Einfluss von nicht-staatlichen Bildungsträgern mehr steckt. Sie seien nur ein Symptom der Zerstückelung der Bildungslandschaft, die nicht nur Gewerkschaften beanstanden. Das Ministerium wälze zunehmend die Verantwortung auf die Schulen ab, heißt es aus der Lehrerschaft. Die unzähligen Varianten an Sektionen in der Oberstufe führten notgedrungen zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Schulen. „Auch das ist eine Form von Privatisierung“, meint Vera Dockendorf.

Institutionalisierte Konkurrenz

„Im Mai sind die Zeitungen gefüllt von Anzeigen von Lyzeen“, erklärt ein Sekundarschullehrer, der namentlich nicht genannt werden will. Die Lyzeen würden mittlerweile aktiv um die besten Schüler werben. Es sei ein Ausdruck des Anspruchs des Ministeriums „unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Kinder“ anzubieten.

Dieses Prinzip sei generell problematisch, unter anderem weil „Schulen mit besonderen Förderangeboten meist stärker bildungsnahe Familien als bildungsferne Familien anziehen“, erklärt Professor Andreas Hadjar von der Universität Luxemburg. „Letztere wissen von der Existenz solcher Angebote oft nur wenig“, so der Leiter des „Institute of Education and Society“ im Gespräch mit Reporter.lu. Allerdings: „Dass diese Bildungsangebote in Luxemburg kostenlos zur Verfügung stehen, ist sicher der Förderung benachteiligter Gruppen im Bildungssystem dienlich, da es wenigstens keine finanziellen Zugangsbarrieren gibt“, so der Bildungsexperte.

Natürlich ist die Schule für ein internationales Unternehmen ein interessanter Markt.“ Luc Weis, Direktor des SCRIPT

Gerade Eltern aus bildungsfernen Familien seien mit der Wahl überfordert, fürchtet auch die „APESS“. Die Folge: Langsam würden bestimmte Schulen nur noch für Eliten zugänglich sein. „Wollen wir wirklich ein System, in dem die soziale Spaltung bereits in der Schule verankert ist?“, fragt Gilles Everling. „Schauen sie sich die Europaschulen in Differdingen und Esch an. Da kann man wirklich nicht von Eliteschulen reden“, entgegnet Lex Folscheid des Bildungsministeriums im Gespräch mit Reporter.lu.

Man arbeite zurzeit an der Organisation einer Messe für die Schüler und Eltern, um sicherzustellen, dass die Schüler, die es am meisten benötigen, auch über diese neuen Schulformate informiert werden, erklärt der Kabinettschef des Bildungsministers. Auch eine gezielte Überarbeitung der Webseite „mengschoul.lu“, die einen Überblick über die verschiedenen Angebote bietet, sei im Gespräch, so Lex Folscheid.

Von A wie „Apple“ bis R wie „Raiffeisen“

Während die Debatte über mögliche Eliteschulen zum Teil auf einer abstrakten Ebene geführt wird, sind Privatisierungstendenzen in anderen Bereichen viel greifbarer. So etwa bei der Kooperation zwischen den öffentlichen Bildungseinrichtungen mit privaten Unternehmen. Allein im Jahr 2020 hat das Ministerium fast 4,9 Millionen Euro für den Kauf von „iPads“ ausgegeben. Im Vorjahr waren es noch 3,5 Millionen. Eine weitere Million Euro bezahlt das Ministerium jährlich an „Microsoft“ sowie an „Jamf“, einen Softwareentwickler zur Nutzung von „Apple“-Produkten in der Schule. Die Entscheidung für „Apple“ und „Microsoft“ ging dabei nicht allein vom Ministerium aus. Alternativen wurden auf Wunsch der Schuldirektionen nicht berücksichtigt, erklärt Lex Folscheid.

4,9 Millionen für die flächendeckende Ausrüstung mit „iPads“: Die Kooperation mit privaten Unternehmen ist laut dem Bildungsministerium nicht nur sinnvoll, sondern bis zu einem gewissen Grad auch alternativlos. (Foto: Mika Baumeister via Unsplash)

„Natürlich ist die Schule für ein internationales Unternehmen ein interessanter Markt“, sagt der Direktor des SCRIPT, Luc Weis, im Gespräch mit Reporter.lu. Man wolle sich den Privatkonzernen nicht verschließen, aber nur unter strikten Bedingungen Verträge abschließen, so der Leiter der Koordinierungsstelle für pädagogische und technische Innovation des Bildungsministeriums. Das Ministerium verzichtet etwa auf jegliche Weiterbildungsangebote von „Microsoft“ und „Apple“. Man habe nur das „Nötige“ eingekauft, erklärt Luc Weis.

Doch auch andere Unternehmen finden in der Schule einen attraktiven Partner. Jährlich organisiert die „Raiffeisen Bank“ einen Malwettbewerb für Grundschulkinder. Andere Unternehmen sind regelmäßig in den Schulen zu Gast, um ihre Berufe vorzustellen – oft verbunden mit dem Verteilen von Stiften oder sonstigen „Goodies“. Auch während der alljährlichen „Foire de l’étudiant“ sind Banken, Telekomanbieter und sonstige Unternehmen vorgeblich für Orientierungszwecke vor Ort. Bei den Schülern sind sie aber vor allem für ihre Gewinnspiele und Gratis-Artikel beliebt.

Privatisierungsdebatte als Symptom

Dennoch hält sich die Privatisierung, im Sinne einer „Entstaatlichung“ von Bildungseinrichtungen, in Grenzen. Eine völlige Fernhaltung von privaten Unternehmen sei zudem nicht realistisch, sagt Lex Folscheid aus dem Bildungsministerium. Die Entwicklung einer eigenen Software wäre etwa zu kostspielig gewesen und nicht ausreichend gesichert. Man werde jedoch nicht den Weg der Vermarktung der Schule gehen. „Wir sind noch weit weg von einem angelsächsischen Schulmodell“, sagt Lex Folscheid. Auch würde man eine tatsächliche Privatisierung nicht anstreben.

Das Ministerium fühlt sich deshalb weiterhin falsch verstanden. Aus Sicht der Gewerkschaften haben diese „Missverständnisse“ jedoch System und offenbaren eine mangelnde Dialogbereitschaft seitens der Politik. Hätte das Ministerium vorher mit allen Betroffenen über die beiden Gesetzestexte zur Öffnung der Direktionsposten diskutiert, wäre vermutlich der Vorwurf einer Privatisierung gar nicht erst aufgekommen.

Mit der „Privatisierung“ der Bildung haben die Gewerkschaften nun einen passenden Oberbegriff für ihr allgemeines Unbehagen im Zusammenhang mit dem Ministerium unter der Führung von Claude Meisch gefunden. Bei den nächsten Reformen muss sich allerdings noch zeigen, inwiefern die Sorgen vor einer Privatisierung in das Narrativ der Kritiker oder in das politische Puzzle des Ministeriums passen.


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