Wie weit reicht die Pressefreiheit? Können sich Medien bei der Verbreitung von kontroversen Behauptungen strafbar machen? Beim Prozess gegen den Anwalt Gaston Vogel geht es nicht nur um die Grenzen der Meinungsfreiheit, sondern auch um die Verantwortung des Journalismus.
„Eine Gesellschaft muss einen solchen Brief aushalten“, schloss Pol Urbany sein Plädoyer am Freitag ab. Damit rechtfertigte der Verteidiger von „CLT-Ufa“, dem Mutterkonzern von „RTL“, die Publikation des offenen Briefes von Gaston Vogel zum Thema Bettelei in der Hauptstadt. Unter anderem der Internetauftritt des Rundfunksenders hatte den Brief im Sommer 2015 unkommentiert veröffentlicht. Zur Erinnerung: In dem Schreiben hatte Gaston Vogel rumänische Bettler als „Abschaum“ bezeichnet und mit Begrifflichkeiten wie „puanteurs“ und „mendiants dégueulasses“ beschrieben.
Zuvor hatte Pol Urbany auch den Inhalt des Briefes selbst analysiert. Und kam dabei zu dem gleichen Schluss wie rund eine halbe Stunde zuvor der Rechtsbeistand von Gaston Vogel: Der Brief sei lediglich Zeugnis eines gesellschaftlichen Kontextes, ohne den man dessen Inhalt nicht beurteilen könne, so ein Argument der Verteidigung. Die Debatte um die organisierte Bettelei sei bereits seit Jahren auf allen gesellschaftlichen Ebenen geführt worden, ohne dass sich jedoch an der Situation grundlegend etwas verändert habe, erklärte Pol Urbany vor Gericht. „Do platzt iergendwann iergendengem de Colis,“ erklärte der Rechtsanwalt, der damit nicht nur „RTL“, sondern auch den Angeklagten Gaston Vogel in Schutz nahm.
„Heißblüter“ und andere Erklärungen
Überdies sei im Brief keine konkrete Aufforderung zum Handeln enthalten, es könne folglich auch keine „Incitation à la haine“ vorliegen, so Pol Urbany weiter. Eine ähnliche Verteidigungslinie hatte François Prum, Rechtsbeistand von Gaston Vogel, zuvor dargelegt. Sein Mandat sei eben ein „Heißblüter“, der mit seinen Worten einen Appell an die Politik richten wollte, so François Prum. Gaston Vogel habe dabei stellvertretend für viele Bürger gesprochen. Und auch wenn manchen Menschen die Wortwahl von Gaston Vogel missfallen möge, so würden Ausdrücke wie „puanteurs“ lediglich einer Tatsachenbeschreibung und keinem Werturteil entsprechen.
Die gesellschaftliche Relevanz des Briefes von Gaston Vogel betonte vor Gericht auch Patrick Welter. Der ehemalige Journalist wurde im Laufe des Verfahrens als Verantwortlicher für die Publikation des offenen Briefes auf der Meinungsseite des „Lëtzebuerger Journal“ ausgemacht. Sein Handeln rechtfertigte Welter vor Gericht unter anderem mit dem Autor des Briefes. Gaston Vogel sei eine Person des öffentlichen Lebens, der oft Meinungsbeiträge verfasst habe. Dabei sei er sich als Journalist bewusst gewesen, dass der Anwalt stilistisch eher „den schweren Säbel als das leichte Florett“ geführt habe. Das sei bei dem Brief über die Bettelei nicht anders gewesen, so Patrick Welter, der heute für die DP-Fraktion arbeitet. Zudem sei er davon ausgegangen, dass Gaston Vogel als Rechtsanwalt wissen müsse, was juristisch zulässig sei und was nicht.
Die vielseitige Freiheit der Presse
Der Verteidiger des Ex-Journalisten, Nicolas Decker, stellte denn auch die Pressefreiheit ins Zentrum seines Plädoyers. Der Brief falle unter die „Liberté d’expression étendue“, denn der Brief greife eine gesellschaftliche Debatte auf und sei damit Teil der demokratischen Meinungsbildung, argumentierte der Anwalt. Mit der Veröffentlichung sei sein Mandant lediglich seiner Informationspflicht als Journalist nachgekommen, unabhängig vom Inhalt des Briefes. Seine Argumentation stützte der Anwalt dabei auf zwei Grundsatzentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Einerseits auf den Fall „Jersild gegen Dänemark“ aus dem September 1994, andererseits auf den Fall „Thoma gegen Luxemburg“ aus dem Jahr 2001.
Im ersten Fall hatte ein dänisches Gericht den Journalisten Jan Olaf Jersild verurteilt, weil er in einem Fernsehbeitrag eine Gruppe Jugendlicher „Skinheads“ zu Wort kommen ließ. Diese hatten sich im Beitrag grob rassistisch über Ausländer geäußert. Das Gericht hielt fest, dass die Würde des Einzelnen in diesem Fall über der Meinungsfreiheit stehe und der Journalist sich mit dem Beitrag strafbar gemacht habe.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kippte jedoch das Urteil. Die Begründung: Die Verurteilung eines Journalisten wegen der Meinung eines Dritten, die in einem Beitrag vorkommt, stelle einen gravierenden Einschnitt in die Pressefreiheit dar. Selbst wenn die Aussagen des Interviewten über den Rahmen der freien Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention hinausgehen – also etwa strafrechtlich relevant sind.
Grundsatzurteile und Präzedenzfälle
Ähnlich auch der Rechtsspruch im Fall „Thoma gegen Luxemburg“. Der „RTL“-Journalist Marc Thoma hatte gegen das Urteil eines luxemburgischen Gerichts geklagt. Der Hintergrund: In einem Radiobeitrag über die Forstverwaltung hatte der Journalist ein Zitat aus einem „Tageblatt“-Artikel übernommen, laut dem die ganze Forstverwaltung bis auf eine Ausnahme korrupt sei. Zwischen 1991 und 1992 klagten insgesamt 63 Forstingenieure und -wirte gegen den Beitrag von Marc Thoma. Das Gericht gab den Klägern Recht und verurteilte den Journalisten zu je einem symbolischen Franken Schadensersatz pro Kläger.
Auch dieses Urteil kippten die Richter in Straßburg. Die Begründung: Die journalistische Informationspflicht gelte auch dann, wenn durch Zitate Dritte beleidigt werden könnten. Und der Journalist hafte nicht für Zitate und müsse sich auch nicht ausdrücklich von diesen distanzieren.
Da sein Mandant kein Ko-Autor des Briefes sei, also nichts zu dessen Inhalt beigetragen habe, sei ein Freispruch die logische Folge, argumentierte Nicolas Decker. Eine Lesart, die auch der Verteidiger von „CLT-Ufa“, Pol Urbany, unterstrich. Ein Aufruf zum Hass liege nur dann vor, wenn konkret zu einer Handlung aufgerufen werde. Diese liege weder im Brief selbst vor, noch habe das Medienunternehmen selbst in irgendeiner Weise zum Handeln aufgerufen, so der Anwalt. Zudem sei klar gekennzeichnet gewesen, dass es sich bei dem Brief um einen Meinungsbeitrag gehandelt habe und der Autor selbst für den Inhalt hafte.
Zudem verwies Pol Urbany auf das Pressegesetz von 2004, das eine unmittelbare Folge der Straßburger Urteile gewesen sei. So verweise Artikel 2 des Gesetzes ausdrücklich auf Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention. „Das heißt: Selbst wenn die Aussagen im Brief einen strafrechtlichen Charakter hätten, müsste dennoch untersucht werden, ob nicht noch andere Bedingungen vorliegen, die eine Publikation rechtfertigen.“ Wie also zum Beispiel jene der gesellschaftlichen Relevanz einer Aussage. Die Frage der presserechtlichen Meinungsfreiheit betreffe schließlich auch die demokratischen Grundfesten der Gesellschaft. Publiziere man solche Meinungsbeiträge wie jenen von Gaston Vogel nicht, riskiere man ein gesellschaftliches Klima der „Omertà sociale“, so Pol Urbany zum Schluss.
Tatbestand mit Interpretationsspielraum
Staatsanwalt Georges Oswald ging in seiner Anklagerede zum Schluss noch einmal ausdrücklich auf die rechtliche Grundlage des Verfahrens ein. So bedinge ein Aufruf zum Hass eine Diskriminierung nach Artikel 454 des Strafgesetzbuches. Dieser definiere jede Unterscheidung zwischen Personen unter anderem aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religionszugehörigkeit und sexueller Präferenz als Diskriminierung, die eine Abneigung oder Ablehnung gegenüber einer Gruppe erzeuge.
Dem Argument der Verteidigung, wonach ein konkreter Aufruf zum Handeln vorliegen müsse, damit der Straftatbestand der „Incitation à la haine“ erfüllt sei, widersprach Georges Oswald. Die Jurisprudenz in Luxemburg spreche eine andere Sprache, so der Staatsanwalt. So halte ein kürzlich ergangenes Urteil unter anderem fest, dass eine Äußerung bereits als Aufruf zum Hass verstanden werde, wenn die Äußerung imstande sein könnte, Hass oder tiefe Ablehnung beim Empfänger zu erzeugen. Die freie Meinungsäußerung ende demnach dort, wo sie die Freiheitsrechte einer anderen Person einschränke. Ob die Äußerungen dabei Stellung in einer öffentlichen Debatte beziehen, sei in diesem Fall zweitrangig, so der Staatsanwalt
Laut Georges Oswald erfülle der offene Brief von Gaston Vogel den Tatbestand des Aufrufs zum Hass ausdrücklich, da die verwendeten Begriffe ein Gefühl der Ablehnung und eine unmittelbare Reaktion hervorrufen sollten. Dass Letzteres in diesem Fall der Realität entsprochen habe, belege etwa ein offener Brief, den die rumänische Botschaft infolge von Gaston Vogels Schreiben veröffentlicht hatte.
Journalistische Rechte und Pflichten
Ob die Presse mit der Publikation von Gaston Vogels Meinungsäußerung die Voraussetzungen der Grundsatzurteile aus Straßburg erfüllt habe, überließ der Staatsanwalt jedoch dem Gericht. Nicht ohne aber festzuhalten, dass die Pressefreiheit nicht nur mit Rechten, sondern auch mit Pflichten einhergehe. So ende auch für die Presse die freie Meinungsäußerung dort, wo die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte eines Dritten beginnen. Die Rolle der Presse sei es demnach auch, die Realität nuanciert und ausbalanciert abzubilden, sagte Georges Oswald. Die Veröffentlichung als Meinungsbeitrag ermögliche es nicht, diese journalistische Abwägung durchzuführen, so der Staatsanwalt.
Der Vertreter der Anklage unterstrich zudem, dass mindestens zwei Medien sich damals explizit gegen die Veröffentlichung des Briefes entschieden hatten. Im Fall des „Luxemburger Wort“ hatte die Redaktion in einem Kommentar der Sichtweise von Gaston Vogel sogar deutlich widersprochen. Unabhängig von den Grenzen der Pressefreiheit hätten Medien also immer eine Wahl, ob und wie sie mit einer politischen oder gesellschaftlichen Kontroverse umgehen.
Es ist eine Sichtweise, die auch der Präsident des Luxemburger Presserates, Jean-Lou Siweck, vertritt. „Man muss nicht alles abdrucken. Zur journalistischen Aufgabe gehört es, ständig abzuwägen“, sagte der langjährige Journalist und neue Direktor von „Radio 100,7“ im Kontext des Falls Gaston Vogel im Interview mit Reporter.lu. Das gelte besonders, wenn der Autor „eine sehr bekannte Persönlichkeit ist, mit einer langen Tradition politischer Äußerungen“, so Siweck, der zudem betonte, dass journalistische Medien nicht nur dem Gesetz, sondern auch dem selbst auferlegten Verhaltenskodex des Presserates verpflichtet seien.
Die Rolle der Medien dürfte jedoch bei der Urteilsverkündung am 12. November nicht im Vordergrund stehen. Sollte das Gericht zur Überzeugung kommen, dass ein Verstoß gegen das Presserecht vorliege, empfahl der Staatsanwalt, das Urteil gegen die angeklagten Presseorgane auszusetzen („Suspension du prononcé“). Gegen Gaston Vogel forderte Georges Oswald dagegen eine Geldstrafe, die laut Strafgesetzbuch bei maximal 25.000 Euro liegen kann.
Gaston Vogel selbst hörte das gegen ihn geforderte Strafmaß übrigens nicht mehr. Wie bereits am ersten Prozesstag hatte der Anwalt den Gerichtssaal wegen Atembeschwerden im Zusammenhang mit dem Tragen einer Atemschutzmaske frühzeitig verlassen.

