Die „Gaardenhaischen“-Affäre ist für Carole Dieschbourg noch nicht abgeschlossen. Das Parlament will den Weg zur juristischen Aufarbeitung freimachen, spielt aber noch auf Zeit. Zumindest in einem Punkt könnte das Ziel des Rücktritts erreicht werden.
Wo hört Politik auf und wo fängt Justiz an? Die Grenzen zwischen politischer Debatte und juristischer Aufarbeitung im Zuge des Rücktritts von Carole Dieschbourg verlaufen fließend. „Das Parlament hat die Untersuchungsbefugnis“, stellte der erweiterte Parlamentsvorstand nach einer längeren Sitzung am Montagabend fest. Die Ex-Ministerin habe das Recht auf eine vollständige Untersuchung, wobei sowohl die Unschuldsvermutung als auch das Untersuchungsgeheimnis garantiert werden sollen, so die offizielle Mitteilung.
Das Parlament will demnach den Weg zur juristischen Klärung der sogenannten „Gaardenhaischen“-Affäre freimachen. Das soll über den Weg einer Resolution geschehen, mit welcher es der Kriminalpolizei erlaubt wird, Carole Dieschbourg zu vernehmen. Unklar ist jedoch noch, wann diese Resolution zur Abstimmung kommen und was überhaupt ihr Inhalt sein soll. Zudem schweigen sich die Parlamentarier über den Kern der Affäre, also mutmaßliche Verfehlungen und damit eine mögliche Anklage gegen die grüne Ex-Ministerin, aus.
Das liegt einerseits am Untersuchungsgeheimnis, das in diesem Fall für alle Abgeordneten gilt. Bisher durften nur die Mitglieder des Parlamentsvorstandes jenes Ermittlungsdossier einsehen, das die Justiz gemäß der Verfassung am vergangenen Donnerstag an den Parlamentspräsidenten übermittelte. Nun sollen alle 60 gewählten Volksvertreter das Recht zur Einsicht erhalten.
Hinweise auf mögliche Vorteilsannahme
„Wir handeln nicht als Parlament, sondern als Staatsanwaltschaft“, bringt der Generalsekretär der Abgeordnetenkammer, Laurent Scheeck, die außerordentliche Situation auf den Punkt. Im Prinzip sei es auch am Parlament, eine Anklageschrift zu verfassen, wie es in der Verfassung gegenüber Regierungsmitgliedern vorgeschrieben wird. „Es kann sein, dass es zur Anklage kommt, aber zurzeit kann man dies noch nicht sagen, weil gegen die Ministerin ja noch nicht ermittelt werden konnte“, so Laurent Scheeck im Gespräch mit Reporter.lu. Deshalb hätten die im Parlament vertretenen Parteien sich auch einhellig für die Zwischenetappe einer Resolution entschieden, damit die Justiz überhaupt ihre Arbeit machen könne.
Timing is a bitch …“Djuna Bernard, Co-Vorsitzende von Déi Gréng
Dabei geht es in der Affäre nicht nur darum, dass die Ex-Ministerin von der Justiz „gehört“ werden kann, wie es Carole Dieschbourg bei ihrer Rücktrittsverkündung formulierte, sondern um einen Verdacht, dass die ehemalige Ministerin in die Affäre verwickelt ist. Im Klartext: Carole Dieschbourg soll nicht nur als Zeugin vernommen werden, sondern ist selbst im Visier der Ermittlungen.
„Ein Minister kann von der Staatsanwaltschaft auch als Zeuge gehört werden“, sagt Martine Hansen (CSV) im Gespräch mit Reporter.lu. Bei Jean-Claude Juncker und Luc Frieden (beide CSV) war dies etwa im Rahmen der „Bommeleeër“-Affäre der Fall. Dazu bedürfe es keines Votums des Parlaments. „Wenn es allerdings einen Verdacht gibt, dass ein Minister beschuldigt werden könnte, darf die Staatsanwaltschaft nicht weiter ermitteln“, erklärt die Co-Fraktionschefin der größten Oppositionspartei.
Laut Informationen von Reporter.lu betreffen die Ermittlungen auch die Person der früheren Ministerin. So seien Aussagen, die im Laufe der Affäre über eine mögliche Begünstigung von Roberto Traversini durch das von Déi Gréng geführte Umweltministerium gemacht wurden, bei Vernehmungen durch die Kriminalpolizei wiederholt worden. Zudem gebe es widersprüchliche Aussagen von Beamten im Umweltministerium bezüglich des genauen Ablaufs der Genehmigung von Arbeiten am Gartenhaus des damaligen Bürgermeisters von Differdingen.
Die Staatsanwaltschaft hatte auf Nachfrage von Reporter.lu vergangene Woche bestätigt, dass Elemente vorliegen würden, die auf eine mutmaßlich illegale Vorteilsannahme („prise illégale d’intérêts) hindeuten. In diesem Kontext sei auch im Oktober 2019 eine Hausdurchsuchung im Umweltministerium erfolgt. Danach gerieten die Ermittlungen jedoch ins Stocken, auch weil die Justiz die Ministerin gemäß der Verfassung nicht zu den Vorkommnissen und möglichen Vorwürfen befragen konnte. Das ist letztlich der Hintergrund der Übergabe des Ermittlungsdossiers an das Parlament.
Parlament in einer misslichen Lage
In jedem Fall befindet sich das Parlament in einer misslichen Lage. Würde es eine Anklage gegen Carole Dieschbourg ablehnen, wie 2012 im Fall von Ex-Minister Jeannot Krecké (LSAP) im Kontext der Affäre „Liwingen/Wickringen“, käme dies einer faktischen Behinderung der Justiz gleich. Käme es jedoch zu einer „Mise en accusation“ durch eine Mehrheit im Parlament, könnte dies zumindest in der Öffentlichkeit als eine Vorverurteilung aufgefasst werden.
In jedem Fall muss die Abgeordnetenkammer früher oder später eine solche Entscheidung treffen. So lautet auch die Schlussfolgerung des rechtlichen Gutachtens, das das Parlament in dieser Sache bei seinem wissenschaftlichen Dienst angefragt hatte und das Reporter.lu vorliegt. Nur die Abgeordnetenkammer könne demnach darüber befinden, ob ein Regierungsmitglied angeklagt wird. Zitat: „c’est elle seule qui peut décider de la mise en mouvement de l’action publique à l’égard du membre du Gouvernement.“ Das gelte im Übrigen auch für ehemalige Minister, falls der juristische Sachverhalt im Zusammenhang mit der Amtsausübung steht.
Laut der geltenden Verfassung sind die Befugnisse des Parlaments ziemlich weitreichend. Theoretisch könnten die Abgeordneten, wie die Staatsanwaltschaft bzw. die Kriminalpolizei, die (Ex-)Ministerin selbst vorladen und vernehmen. Ein Urteil über den Sachverhalt an sich steht den Volksvertretern jedoch nicht zu. „La Chambre des Députés peut décider d’accuser le membre du Gouvernement si elle estime qu’il existe suffisamment d’indices de culpabilité. Elle n’a pas à se prononcer sur le fond, et donc à trancher la question de la culpabilité du ministre“, heißt es hierzu im rechtlichen Gutachten. Letztere Kompetenz steht in jedem Fall der „Cour supérieure de justice“ zu – vorausgesetzt, das Parlament hat zuvor einer „Mise en accusation“ zugestimmt.
Ein Kompromiss und eine Hoffnung
Wenn es nach der Partei der Ex-Ministerin geht, soll dieses Szenario bestmöglich vermieden oder zumindest verzögert werden. „Die Untersuchung ist noch nicht komplett, dafür muss Carole Dieschbourg gehört werden, das steht für uns fest“, sagt Djuna Bernard, Abgeordnete und Co-Vorsitzende von Déi Gréng, im Gespräch mit Reporter.lu. Eine Anklage ihrer Parteifreundin will die Parlamentarierin jedoch nicht kategorisch ausschließen: „Erst wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, kann über alle weiteren Schritte nachgedacht werden. Ich kann heute noch nicht sagen, wie wir in einem solchen Fall abstimmen werden.“
Die Entscheidung des Parlamentsvorstandes ist demnach ein offensichtlicher Kompromiss. Indem sie der Kriminalpolizei erlauben will, die Ex-Ministerin zu vernehmen, vermeidet die Abgeordnetenkammer zumindest zurzeit eine formelle Anklage. Die insgeheime Hoffnung, besonders vonseiten der Grünen, dürfte dabei in der Möglichkeit liegen, dass sich durch die Vernehmung der Verdacht gegen die Ex-Ministerin nicht bestätigt. Damit wäre die Affäre sowohl politisch als auch juristisch vom Tisch. Das Parlament müsste anschließend nur noch formal beschließen, keine Anklage zu erheben. Falls sich der Anfangsverdacht gegen Carole Dieschbourg jedoch erhärtet, müsste das Parlament erneut über das weitere Vorgehen entscheiden.
„Was danach passiert, ist noch nicht klar. Es wurde noch keine Entscheidung getroffen“, meint hierzu Martine Hansen. „Ich kann unmöglich sagen, wann dies im Parlament beschlossen wird. Auf jeden Fall nicht heute und nicht morgen“, sagt auch Laurent Scheeck. Für die potenziellen nächsten Schritte der Prozedur habe man zwar „Ideen“, die aber noch in einer Ausarbeitungsphase seien, so der Generalsekretär der Abgeordnetenkammer.
Die Entpolitisierung einer Affäre
Generell verlaufen die Gespräche zwischen den Parteien aber in einem sachlichen und betont überparteilichen Ton. Alle Parteien scheinen sich des Ernstes der Lage bewusst, wonach es in der weiteren Aufarbeitung der Affäre um grundsätzliche politische und verfassungsrechtliche Fragen geht. „Wir dürfen uns hier keine prozeduralen Fehler erlauben, sonst könnte dies auch vor dem Gerichtshof für Menschenrechte landen“, bemerkt etwa Djuna Bernard.
Selbst Abgeordnete der Opposition zeigten im Gespräch mit Reporter.lu zudem Verständnis für die Entscheidung von Carole Dieschbourg und die „menschliche Dimension“ der Affäre. Erinnert man sich an die aufgeheizte Stimmung während der ersten Debatte über die Affäre „Traversini/Dieschbourg“ im Oktober 2019, haben sich die parteipolitischen Gemüter definitiv beruhigt. Zumindest dieses Hauptziel des Rücktritts von Carole Dieschbourg scheint demnach in der Tat erreicht worden zu sein.
Was danach passiert, ist noch nicht klar.“Martine Hansen, Co-Fraktionschefin der CSV
Allerdings legte die Affäre ein großes Versäumnis der ganzen politischen Klasse schonungslos offen. Denn wären die Arbeiten an der Verfassungsreform schon weiter fortgeschritten, würden sich so manche schwierige Diskussionen über den rechtlichen Umgang mit Regierungsmitgliedern erübrigen. Die veraltete Verfassung zwingt das Parlament nun zu einem Balanceakt. „Unsere Ambition ist, dass das Parlament seiner Rolle gerecht werden kann, die Rechte von Carole Dieschbourg gewahrt werden und die Justiz ihrer Arbeit frei nachgehen kann“, sagt Laurent Scheeck.
In der geplanten grunderneuerten Verfassung soll diese Frage indes ein für allemal und überaus klar geregelt werden. Nur die Staatsanwaltschaft soll gegen ein Regierungsmitglied ermitteln dürfen, heißt es in Artikel 94 des – noch nicht in Kraft getretenen – neuen Grundgesetzes. Nur die Festnahme eines Ministers soll demzufolge künftig der Einwilligung des Parlaments bedürfen.
Die nun improvisierte Prozedur wird demnach vermutlich nur für Carole Dieschbourg angewendet werden. Die entsprechende Verfassungsänderung wurde Ende Januar bereits verabschiedet. Rechtskräftig wird der neue Artikel jedoch erst sechs Monate nach einer zweiten Lesung und Abstimmung im Parlament, die im Prinzip schon stattfinden könnte. Ab dann wird das Parlament jedenfalls nicht mehr die Rolle der Staatsanwaltschaft übernehmen müssen. Oder mit den Worten von Djuna Bernard: „Timing is a bitch …“