„Obergrenze“, „Transitzentren“, „Asyltourismus“: Besonders in der Flüchtlingspolitik wird die Macht der Worte deutlich. Die Sprache ist ein Spiegelbild der Verrohung der politischen Kultur in Deutschland. Ein Kommentar.
Angela Merkel ist keine leidenschaftliche Politikerin, Emotionen kein Bestandteil ihrer Politik. Stoisch und abgebrüht regiert die Kanzlerin. Nach all dem Tumult der letzten Wochen, nach all den Wortgefechten und Querelen zwischen CDU und CSU im Asylstreit, sollte aber selbst ihr Puls etwas höher schlagen, sollte zumindest ein bisschen böses Blut durch die Adern der Kanzlerin fließen.
Aber Merkel ist Merkel und so verwunderte es auch nicht, dass sie am vergangenen Donnerstag beim alljährlichen Besuch bei der Bundespressekonferenz den Zoff mit dem Innenminister und der Schwesterpartei sehr nüchtern resümierte: “Schaden” sei entstanden und die “Tonalität sei sehr schroff” gewesen. Auseinandersetzungen seien wichtig, aber, so Merkel, die “Form, in der das passieren muss, ist sicher noch verbesserungswürdig”.
Die Verrohung des politischen Diskurses
Nicht falsch oder gar inakzeptabel, sondern “verbesserungswürdig”, das ist Merkelsche Rhetorik. Die Kanzlerin wird sicher ihren Groll gegen die bayrische Schwesterpartei hegen, aber ihn öffentlich machen – niemals. Denn wie Merkel bei der Pressekonferenz betonte, messe sie Sprache eine sehr, sehr große Bedeutung zu und sei “schon der Meinung, dass es zwischen Denken, Sprechen und Handeln einen ziemlich engen Zusammenhang gibt. Sprache sei immerhin ein Ausdruck politischer Kultur”. Und die braucht derzeit Beruhigung und Versöhnung, gerade beim Thema Asyl.
Was einmal seinen Weg in den Sprachgebrauch gefunden hat, wird diesen nicht so schnell verlassen.“
Der Tonfall ist nicht erst in den letzten Wochen schroff geworden, er verroht seit 2015, als fremdenfeindliche Töne als Gegengewicht zu Merkels “Wir schaffen das” laut wurden. Damals kamen sie aus dem AfD- und Pegida-Umfeld, mittlerweile sind sie auch im politischen Zentrum zu vernehmen, bei der FDP oder den Unionsparteien.
Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder beispielsweise wurde in den letzten Monaten nicht müde vor “Asyltourismus” zu warnen, bis er schließlich auf großen Druck von außen – FDP-Chef Christian Lindner warf ihm politische Gossensprache vor – seine Wortwahl überdachte. In vielen Köpfen dürfte sich der Begriff trotzdem verankert haben. Denn Sprache ist ansteckend und nur schwer zu unterbinden. Was einmal seinen Weg in den Sprachgebrauch gefunden hat, wird diesen nicht so schnell verlassen.
Ein Minenfeld der politischen Begrifflichkeiten
Die Terminologie der Flüchtlingsthematik war von Anfang an ein Minenfeld der Begrifflichkeiten. Darf man überhaupt Flüchtling sagen oder muss man von Geflüchteten sprechen? Ist die “Flüchtlingskrise” wirklich eine Krise und wenn ja, für wen? Aber spätestens mit dem Asylstreit der Unionsparteien ist die Flüchtlingsfrage vollends zur Begrifflichkeitskrise avanciert. Die CSU schlug “Transitzentren” und “Ankerzentren” als Lösung vor. Die SPD wollte lieber über “Transferzentren” reden.
Man könnte glauben, dass es hier um Nebensächliches geht, dabei sind die Begriffe längst in den Vordergrund gerückt. Denn mittels ihrer wird Politik gemacht.“
Im Grunde meinen die Begriffe jedoch das Gleiche: Abschiebungseinrichtungen – klingt aber nicht so gut. Ankerzentren hingegen, das vermittelt Geborgenheit im sicheren Hafen und Transferzentren, da schwingt die Unschuld der Bürokratie mit. Man könnte glauben, dass es hier um Nebensächliches geht, dabei sind die Begriffe längst in den Vordergrund gerückt. Denn mittels ihrer wird Politik gemacht.
Begriffe wie Transferzentren sind politische Euphemismen, schreibt Anna Sauerbrey im Berliner “Tagesspiegel”: Sie sind “der Begriff gewordene Widerspruch von Haltung und Handeln. Die Botschaft entleert sich durch diesen Widerspruch selbst. Es entsteht ein semantisches und politisches Niemandsland, in dem die Wähler sich verlieren – und verlieren sollen”. Begriffe wie “Transferzentren” oder “Ankerzentren” sollen anders als die “Flüchtlingswelle” oder “Flüchtlingskrise” keinen Alarm schlagen, sondern den Ernst der Lage verharmlosen – als würde in diesen Einrichtungen nicht im Eilverfahren abgeschoben, als wäre das nicht inhuman.
Das Beispiel der „Transferzentren“
Das Prinzip hat Tradition. Schon 2001 erklärte Australien seine Inselgebiete, die teils weit vom Festland entfernt liegen, als “non-migration zone” und erschwerte Asylsuchenden so die Einreise. Heute gelten sogar viele Küstenteile Australiens als solche. Es wurden fiktive Orte geschaffen, ein Niemandsland, in dem keine Pflicht zur Aufnahme besteht und in dem ein moralisches Vakuum entsteht.
Die deutsche Politik antwortet mit Sprach- und Gedankenakrobatik auf die Flüchtlingsfrage und hofft sich so ihrer Verantwortung entziehen zu können.“
Die deutschen Transferzentren, in denen Asylsuchende bis zu 48 Stunden untergebracht werden sollen, bis über ihren Status entschieden wird, sind ebensolche Orte. Genau wie im Transitbereich des Flughafens, wird hier die Fiktion der Nicht-Einreise simuliert, die auf der Fiktion der Nicht-Territorialität beruht, schreibt die Juristin Dana Schmalz im “Verfassungsblog”. Die deutsche Politik antwortet mit Sprach- und Gedankenakrobatik auf die Flüchtlingsfrage und hofft sich so ihrer Verantwortung entziehen zu können.
Indessen hagelt es von Menschenrechtsorganisationen und dem linken Milieu Kritik an diesen Verfahren. Dort ist von “illegalen Lagern” die Rede, die Analogie zu den Konzentrationslagern bleibt meist nicht aus. Die Verwendung des Wort “Lager” prangert die Zustände in den Einrichtungen an und soll an die Verantwortung und Geschichte des Landes erinnern. Das ist zum Teil antifaschistischer Selbstreflex, aber eben auch zum Teil Realität.
„Framing“ und die Grenzen der Akzeptanz
Ähnlich verhält es sich bei der “Festung Europa”, die angesichts der realen Migrationsströme ebenso fiktiv ist wie Seehofers Asylenklaven, aber es immerhin geschafft hat, die restriktive Asylpolitik der EU und deren Konsequenzen in den Köpfen der Bevölkerung zu verankern. Die Terminologie, beziehungsweise das “Framing” legt fest, worüber diskutiert wird und wie.
Die Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling hat sich auf Politisches Framing spezialisiert und analysiert, wie der Gebrauch von sprachlichen Deutungsrahmen und Sprachbildern die öffentliche Debatte lenkt. Im Interview mit der “SZ” sagte Wehling 2016 zum damaligen Streitthema “Obergrenze”: “Solange wir über eine Obergrenze sprechen, diskutieren wir die Schicksale der Geflüchteten als Frage unserer eigenen Platzangst. Würden wir über eine Untergrenze debattieren, hätten wir daraus eine Frage der Menschlichkeit gemacht”.
Deshalb muss die Sprache ehrlich benennen was sie bezwecken will, anstatt Absichten zu kaschieren. Deshalb muss sie entschärfen anstatt zu provozieren.“
Das Beispiel zeigt, wie einflussreich Sprache in der Asylpolitik geworden ist, wie sie Ängste vor Katastrophenszenarien schürt und festlegt, worüber debattiert wird und worüber nicht. Und wie sie, man denke an die “Transferzentren”, versucht Normalität zu simulieren, wo moralische Dilemmata herrschen.
Merkel hat Recht, der Zusammenhang zwischen Denken, Sprechen und Handeln ist extrem eng. An jeder Silbe von “Transferzentren” hängen menschliche Schicksale. Deshalb muss die Sprache ehrlich benennen was sie bezwecken will, anstatt Absichten zu kaschieren. Deshalb muss sie entschärfen anstatt zu provozieren. Und deshalb muss sie schützen anstatt zu attackieren. Man kann allen voran der CSU in diesem Punkt Totalversagen vorwerfen. Da muss, ja kann, nichts schöngeredet werden. Es ist nicht nur “verbesserungswürdig”, es ist schlichtweg inakzeptabel.