Armutsstatistiken rütteln regelmäßig das reiche Luxemburg auf. Kaum eine Zahl wird kontroverser diskutiert und gedeutet als das Armutsrisiko. Anstatt der Statistik den Kampf anzusagen, sollte die Politik das Problem endlich anerkennen und aktiv bekämpfen. Ein Kommentar.

„Man muss Statistiken stets relativieren. Ich bevorzuge es, unter dem luxemburgischen Armutsrisiko zu leben statt mit 90 Prozent des rumänischen Medianeinkommens auskommen zu müssen.“ sagte der Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) am Freitag im Interview mit dem „Lëtzebuerger Land“.

Armut als Ansichtssache? Nach den Wirtschaftsverbänden übernehmen nun also selbst ranghohe Sozialdemokraten den Diskurs der Relativierung des Armutsrisikos. Das ist zwar bedauerlich, aber letztlich auch verständlich. Das Eingeständnis des Problems wäre nämlich auch ein Eingeständnis des selbst verschuldeten politischen Versagens.

Zahlen, die Politik gestalten

Die entscheidende Frage ist, ob Armut ein Problem der Gesamtbevölkerung ist oder nur ein Randphänomen bleibt. Wird sie allgegenwärtig, reicht es nicht mehr, nur an kleinen Stellschrauben zu drehen. Wenn man es mit der Armutsbekämpfung ernst nimmt, wären eine wesentliche Erhöhung von Mindestlohn und Sozialhilfe oder der massive und rasche Bau von Sozialwohnungen unausweichlich.

Deshalb überrascht es auch nicht, dass die Handelskammer sich für eine neue Definition der Armut einsetzt. Arm sei man erst, wenn man zugleich unter die Armutsrisikogrenze fällt, weniger als 60 Prozent der Medianausgaben eines Haushaltes tätigt und ein Eigenkapital von weniger als 35.000 Euro besitzt. Durch diese neue Rechnung fällt der Anteil der von Armut betroffenen Menschen für das Jahr 2017 von 18,7 Prozent auf gerade mal 5,7 Prozent.

Die Strategie ist durchsichtig: Je geringer der Anteil der Bevölkerung, der von Armut betroffen ist, desto unwichtiger wird die Forderung nach einer erneuten Mindestlohnerhöhung oder sonstigen sozialpolitischen Maßnahmen.

Als Grund für die zunehmende Armut zeigen die Arbeitgeber jetzt gern mit dem Finger auf den Wohnungsmarkt. Die eigene Verantwortung kann man so gekonnt von sich weisen. Dabei ist der Wohnungsmarkt längst nicht mehr nur ein Problem für Menschen mit niedrigen Einkommen. Es reicht also nicht nur dort anzusetzen.

Von legitimer und illegitimer Armut

In einer Publikation des Statec meinte ihr Direktor Serge Allegrezza, dass der Revis eine demokratisch legitimierte Armutsgrenze sei. Durch die parlamentarische Absegnung des Gesetzes wurden die Beträge also zu einem akzeptablen Maß zur Armutsbegrenzung. Der Freibetrag hängt dabei von der persönlichen Situation des Empfängers ab.

Durch die Einführung des Revis erhalten alleinerziehende Eltern nun erheblich mehr Beihilfen. Trotzdem bleibt der Betrag unter dem Referenzbudget: Laut der Arbeitnehmerkammer erhält ein nicht-arbeitender alleinerziehender Elternteil insgesamt etwa 2.100 Euro im Monat, das Referenzbudget liegt bei 2.600 Euro. Die Familienbeihilfen wurden bereits eingerechnet.

Reicht das? Zur Erinnerung Revis steht für „Revenu d’inclusion social“, der Name beinhaltet bereits das selbst auferlegte Ziel der Regierung: Empfänger sollen nicht nur überleben, sondern weiterhin am sozialen Leben teilnehmen können. Die Regierung widerspricht sich also selbst. Ein menschenwürdiges Leben wird gerade den schwächsten Gliedern der Gesellschaft verweigert.

Statistische Rosinenpickerei

Politik und Wirtschaft verstecken sich hinter der Relativierung der Zahlen, dabei ist diese größtenteils nicht einmal berechtigt. Schaut man sich die Armutsrisikogrenze in Kaufkraftparitäten an, blieb der Betrag zwischen 2005 und 2014 konstant. Gleichzeitig stieg der Anteil der Betroffenen aber von 13,7 auf 16,4 Prozent. Erst in den letzten vier Jahren sind sowohl die Kaufkraft als auch der Prozentsatz zusammen gestiegen.

Der größte Anstieg der Kaufkraft fand übrigens zwischen 2017 und 2018 statt, gleichzeitig fiel der Anteil der Betroffenen aber von 18,7 auf 18,3 Prozent. Wäre die Zunahme der Zahl der von Armut bedrohten Menschen also alleine auf eine Erhöhung des Medianeinkommens zurückzuführen, müsste die Zahl eigentlich für den gleichen Zeitraum ansteigen und nicht fallen.

Anstatt durch Statistik-Kritik wertvolle Zeit zu verlieren, sollte die Regierung Armut endlich als Problem anerkennen. Der Minister kann aber natürlich auch gerne versuchen, alle von Armut bedrohten Menschen davon zu überzeugen, dass das alles gar nicht so wild ist. In Rumänien ist es ja eh noch viel schlimmer.


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