Wer von Armut bedroht ist, ist eine Frage der Definition. In den letzten Jahrzehnten haben sich mehrere Methoden zur Messung der Armut bewährt. Die verschiedenen Ansätze führen allerdings zu teils widersprüchlichen Ergebnissen. Ein Überblick.

Altbewährt und doch verhasst. Die Einfachheit der Armutsrisiko-Statistik ist auch zugleich ihr Fluch. Jemand ist von Armut gefährdet, wenn er oder sie mit weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens einer Gesellschaft auskommen muss, so die am weitesten anerkannte Definition. Demnach ist der Anteil an Menschen, die in Luxemburg von Armut gefährdet sind, im letzten Jahrzehnt um mehr als vier Prozentpunkte gestiegen.

Vor etwas mehr als zehn Jahren hat die EU eine neue Definition der Armut eingeführt. Anstatt sich rein auf das Einkommen zu beschränken, fließen auch materielle Deprivation und Langzeitarbeitslosigkeit in die Berechnung ein. Folglich leidet man unter materiellen Mängel, wenn man drei von neun von der EU festgelegte Waren nicht besitzt.

Ein Mensch, der sich also etwa keine Waschmaschine, keine Ferien und kein Auto leisten kann, gilt demnach als arm oder sozial ausgegrenzt – und dies unabhängig davon, ob man unter das statistisch berechnete Armutsrisiko fällt oder nicht. Gleiches gilt, wenn in einem Haushalt weniger als 20 Prozent der erwerbsfähigen Menschen arbeiten.

Der regelmäßige Anstieg jenes Anteils von Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, ist in Luxemburg zum größten Teil auf das Armutsrisiko zurückzuführen. Nur 0,1 Prozent der Bevölkerung litt 2008 unter materiellen Mängeln, in den Krisenjahren stieg dieser Anteil auf 0,6 Prozent, mittlerweile liegt er bei 0,2 Prozent. Bei der Arbeitslosigkeit in Haushalten ist ein Anstieg von 1,9 auf 3,4 Prozent zu verzeichnen.

Im Vergleich hat sich die Lage in der EU leicht verbessert. Tatsächlich ist hauptsächlich der Anteil an Menschen, die unter erheblichen materiellen Entbehrungen litten um mehr als zwei Prozentpunkte gefallen. Sowohl die Quote der Armutsgefährdung als auch jene der Erwerbslosigkeit ist über den gleichen Zeitraum stabil geblieben.

Jedoch hinkt der internationale Vergleich, da das Armutsrisiko von der Einkommensverteilung innerhalb einer Bevölkerung abhängt. Der Anteil von Armut bedrohter Menschen soll zwar gestiegen sein, gleichzeitig ist aber auch ihre Kaufkraft gestiegen. Anhand der Kaufkraftparität lässt sich errechnen, was das monatliche Einkommen im internationalen Vergleich wert ist. Die dargestellten Werte beziehen sich also auf eine fiktive Währung, die diesen Vergleich ermöglicht.

Selbst nach Einbeziehen der Preise des überhitzten Wohnungsmarkts und sonstigen Kosten, besteht ein großer Unterschied zwischen Luxemburg und anderen EU-Staaten. Menschen, die von Armut bedroht sind, haben im Vergleich zu unseren Nachbarländern fast 60 Prozent mehr Kaufkraft. Diese deutliche Kluft veranschaulicht, warum neue Modelle zur Messung der Armut gefragt sind.

2016 fand eine Art Revolution in der Forschung zur luxemburgischen Armut-Statistik statt: Anstatt Armut relativ zum Medianeinkommen zu begreifen, ist das Statec von den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgegangen. Seitdem publiziert das Statistikamt regelmäßig ein Referenzbudget für verschiedene Familienkonstellationen. Die Budgets sollen ein menschenwürdiges Leben erlauben – also Familien auch die Möglichkeit geben, jährlich zu verreisen oder an kulturellen Aktivitäten teilzunehmen.

In ihrer letzten Publikation über die soziale Lage Luxemburgs stellte das Statec mehrere Vergleiche auf. Unter anderem wurde das Einkommen aus der Sozialhilfe mit dem Referenzbudget verglichen. Die Abschaffung des garantierten Mindesteinkommens (RMG) und die Einführung des Einkommens zur sozialen Eingliederung (REVIS) sollte sicherstellen, dass Menschen nicht in Armut fallen.

Tatsächlich scheint die Rechnung zumindest für Vollbeschäftigte aufzugehen. Nur ein alleinstehender Erwachsener, der Teilzeit arbeitet, soll über ein unzureichendes Budget verfügen. Dies ist allerdings ein rein theoretisches Rechenbeispiel. Es ist nicht klar, ob die Menschen, die ein Anrecht auf das REVIS haben, es auch tatsächlich anfragen – sei es aus Mangel an Informationen oder Angst vor Stigmatisierung.

Ein weiterer Ansatz besteht darin, Armut als multidimensional zu begreifen. Das Argument: Armut ist ein Zusammenspiel aus mehreren Faktoren. Dies soll verhindern, dass Menschen, die zum Beispiel ein hohes Eigenkapital haben, aber nicht arbeiten, nicht als arm begriffen werden. Das Statec hat ein solches Modell erstellt, das sich aus drei Komponenten zusammensetzt: dem Armutsrisiko, den Ausgaben eines Haushalts und dessen Eigenkapital.

Die Überschneidungen der Kreise beschreibt den Anteil der Menschen, die entweder zwei oder alle drei Kriterien erfüllen. Demnach sind 3,4 Prozent der Bevölkerung selbst nach dieser restriktiven Auslegung als arm zu betrachten. Zum Vergleich: 2018 betrug der Anteil der Bevölkerung, der einem Armutsrisiko ausgesetzt ist, 18,3 Prozent.


Grafik: STATEC