Albana wurde Opfer von häuslicher Gewalt – wie mindestens jede dritte Frau in Albanien. Als sie 2016 nach Luxemburg kam, hatte sie noch nie zuvor gearbeitet. Ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit kannte sie nicht. Heute ist das anders, doch die Wunden sind geblieben.
Eine Tasse Kaffee in einem Bistrot ist für Albana der Inbegriff von Freiheit. Sie hat ihn bestellt, sie trinkt ihn und sie bezahlt ihn. „Das ist mein Kaffee“, sagt sie und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was sie damit meint: Das ist meine Entscheidung, mein Geld, mein Leben.
Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Immer wieder wird sie von ihren Gefühlen überwältigt. Es sind Tränen der Erleichterung, schließlich ist es ihr gelungen, ihrem Leben eine vollständige Kehrtwende zu geben. Doch da ist auch der Schmerz. Das Erlebte sitzt zu tief, die Wunden werden bleiben. Albana schaut aus dem Fenster, sucht nach Worten. Irgendwann, sagt sie, werde sie ihre Wahrheit in die Welt hinaus schreien. Sie werde sprechen, für alle Frauen Albaniens. Doch sie brauche noch etwas Zeit, so weit sei sie noch nicht.
Albana Terziu wurde am 2. Oktober 1980 in Kukes, im Norden Albaniens, geboren. In der Kleinstadt an der Grenze zum Kosovo wuchs sie auf und ging in die Schule, bis sie 14 Jahre alt war. Mit 15 wurde sie verheiratet, mit einem Mann, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Mit 19 Jahren bekam sie ihr erstes Kind, zwei weitere folgten. Sie durfte das Haus kaum verlassen, hatte keinen Kontakt zur Außenwelt, war völlig abhängig von den Launen ihres Mannes, erzählt die heute 40-Jährige.
Fluchtgedanken werden konkret
„Er fütterte mich, ich war sein Eigentum“, sagt Albana. Sie nimmt den Kaffeelöffel, der vor ihr auf dem Tisch liegt, beißt ihre Lippen zusammen und führt den Löffel energisch in einen imaginären Mund, so als wollte sie ein Huhn stopfen. Immer und immer wieder. „Mein Zuhause war ein Gefängnis“, erzählt sie und schluckt. „Er machte mit mir, was er wollte“. Die Jahre vergingen, die Gewalt nahm zu. Jede Nacht weinte Albana in ihr Kopfkissen, jeden Morgen stand sie auf, zwang sich zu einem Lächeln. Für ihre Kinder, für ihre Söhne Meralb und Blin und für ihre Tochter Sabrie.
Mein Leben begann mit meiner ersten Arbeitsstelle. Endlich war ich kein Parasit mehr.“Albana Terziu
Gewalt gegen Mädchen und Frauen in Albanien ist nicht ungewöhnlich: Mindestens jede dritte von ihnen wird Opfer häuslicher Gewalt. Nachdem im Dezember 2006 ein Gewaltschutzgesetz im albanischen Parlament verabschiedet wurde, haben sich die Anzeigen bei der Polizei zwar vervielfacht. Sie spiegeln jedoch weiterhin nur einen Bruchteil der tatsächlichen Zahl von Fällen häuslicher Gewalt wider, wie aus einer Dokumentation von Amnesty International hervorgeht. Häusliche Gewalt gelte vor allem in ländlichen Gebieten weiterhin als absolutes Tabuthema, so die Menschenrechtsorganisation. Die meist völlige finanzielle Abhängigkeit mache es vielen Frauen nahezu unmöglich, den gemeinsamen Haushalt zu verlassen.
Es war ihre damals 15-jährige Tochter, die Albanas diffusen, aber omnipräsenten Fluchtgedanken konkretisierte. Es gebe da ein Land, erzählte Sabrie, klein und demokratisch, mitten in Europa, da könnten auch sie frei leben. Da hätten Frauen die gleichen Rechte wie Männer, dürften arbeiten, studieren, selbstständig sein. Sie habe das im Geografieunterricht gehört und im Internet nachgelesen. Das Land heiße Luxemburg. „Grand-Duché du Luxembourg“. Schon der Name klang in ihren Ohren wie das Paradies auf Erden.
Durchatmen im Flüchtlingsheim
Im Juli 2016 kommen Albana und ihre drei Kinder in Luxemburg an. Auf die Frage, wie Albana die Flucht organisiert und realisiert habe, winkt sie ab. Ihr Kinn beginnt zu zittern, vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht könne sie dann darüber sprechen. Jetzt spricht sie lieber über ihre Zeit in Luxemburg. Darüber, wie sie sich ihr Leben allmählich zurückeroberte.
„Jeder Mensch, der in unseren Flüchtlingsheimen ankommt, kann potentiell psychologische Hilfe benötigen“, sagt Jérémie Langen von dem „Service Solidarité et Intégration“ der Caritas. Die Hilfsorganisation leitet auch das Heim in Marienthal, in dem Albana mit ihren Kindern eineinhalb Jahre lang lebte. Jeder Geflüchtete wird in den ersten Tagen nach seiner Ankunft zu einem psychologischen Gespräch eingeladen. Um Traumata aufzuspüren und die Betroffenen gegebenenfalls weiter zu betreuen.
Wir kennen die Ursprungsländer oft viel zu wenig, können uns gar nicht vorstellen, was die Menschen überhaupt durchgemacht haben.“Jérémie Langen, Caritas
In der Theorie eine gute Sache, die Praxis sieht jedoch meistens weniger vielversprechend aus: „Wir haben zwei fest angestellte Psychologen“, erklärt Jérémie Langen, „für 1.200 Betten in zwölf Strukturen.“ Zu dem chronischen Mangel an Fachpersonal kommen zusätzlich interkulturelle Herausforderungen. „Wir kennen die Ursprungsländer oft viel zu wenig, können uns gar nicht vorstellen, was die Menschen überhaupt durchgemacht haben“, sagt Jérémie Langen.
Wirklich aufgearbeitet hat auch Albana ihre Vergangenheit bis heute nicht. Immer wieder kommen Erinnerungen hoch, wiederholt unterbricht sie das Gespräch. „Wie ein langes Durchatmen“ sei die Zeit im Flüchtlingsheim gewesen, erzählt sie. Ein Bett, warme Mahlzeiten, kein Grund zur Angst. Die Kinder in der Schule. Auch ihre Tochter. Aufgehoben. Umsorgt. Unterrichtet. Ihr erstes großes Ziel hatte Albana erreicht. Ihr war es gelungen, ihren Kindern, besonders dem Mädchen, das eigene Schicksal zu ersparen.
Ablehnung und pragmatische Hilfe
Doch dann der Schock. Negativbescheid. Antrag abgelehnt. Albana und ihre drei Kinder müssen zurück nach Albanien, denn das Land zählt zu den sicheren Herkunftsstaaten. Das Règlement grand-ducal von 2007 mit einer Liste der „pays d’origine sûrs“ ist dem Bescheid beigefügt. Ihre Situation entspricht demnach nicht den Kriterien der Genfer Konvention, die Luxemburger Behörden stufen Albana und ihre Kinder nicht als schutzbedürftig ein.

„Sie war völlig panisch“, erinnert sich Ati van Dijk, die als Freiwillige bei der Caritas arbeitet und damals mehrmals die Woche mit Albana Kontakt hatte. „Ursprünglich kamen wir ins Flüchtlingsheim Marienthal, um Französischkurse, Bastelnachmittage oder Ausflüge anzubieten“, erinnert sich Ati van Dijk. Doch dafür war plötzlich keine Zeit mehr. „Ich hielt Albana fest, redete ihr gut zu. Ich wollte nicht, dass sie die Hoffnung verliert“, sagt die Niederländerin. „Wir haben Einspruch eingelegt, Mails geschrieben, Kontakte spielen lassen. Albana hat mir vertraut.“
Und tatsächlich: Der zweite Negativbescheid konnte gerade noch verhindert werden. „Es war ein Wunder“, sagt Albana. „Alles spielte zusammen“, erklärt Ati van Dijk. Die richtigen Menschen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. In einem kleinen Land, in dem in Sonderfällen auch einmal der direkte Kontakt zum zuständigen Minister möglich ist.
Ein Anruf von Herrn Asselborn
Ati van Dijk erinnert sich noch, als wäre es gestern gewesen: Morgens früh um acht klingelte ihr Telefon. „Wat fir eng Sprooch schwätz där, Madame?“ Plötzlich war Ati van Dijk hellwach. Jean Asselborn war am anderen Ende der Leitung und teilte ihr persönlich mit, Albana und ihre Kinder dürften in Luxemburg bleiben. Der Außenminister bedankte sich für die engagierte E-Mail und wünschte Ati van Dijk einen schönen Tag. Freundlich, unkompliziert, empathisch. Schnell machte Ati van Dijk sich fertig, um die gute Nachricht zu überbringen.
Die Sondergenehmigung war allerdings nur möglich gewesen, weil Albana Aussichten auf eine Wohnung und einen Job hatte. „Ich habe noch nie in meinem Leben gearbeitet“, hat Albana beim Vorstellungsgespräch im Restaurant „Chiche!“ in Hollerich gesagt. „Aber ich koche gerne.“ Marianne Donven, eine der Initiatoren des inklusiven Restaurantprojektes erinnert sich an Albana als „ein Häufchen Elend“, das sich kaum Hoffnungen machte, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Heute sei Albana in dem von Hollerich nach Limpertsberg umgezogenen Restaurant nicht mehr wegzudenken. „Sie ist schnell wie der Blitz, fleißig und zuverlässig“, sagt Marianne Donven.
„Mein Leben begann mit meiner ersten Arbeitsstelle“, erinnert sich Albana. „Endlich war ich kein Parasit mehr.“ Die Hälfte ihres ersten selbstverdienten Gehaltes vor gut zweieinhalb Jahren schickte sie zu ihrer Mutter nach Albanien. Sie legte einen Zettel mit den Worten hinzu: „Gehe Kaffee trinken, Mama, so viel Kaffee, wie du trinken kannst.“
Eine Arbeit, ein Haus und neue Chancen
Der nächste Schritt in die Selbstständigkeit folgte bereits wenige Wochen später. Anfang April 2018, gut eineinhalb Jahre nach ihrer Ankunft in Luxemburg, zog die Familie nach Grevenmacher, in das leerstehende Haus einer Lehrerin ihrer Tochter Sabrie. „Sie brauchten Hilfe, da frage ich nicht nach Details“, sagt Caroline Medinger.
Die Lehrerin, die Sabrie eine Zeitlang in ihrer Schullaufbahn begleitete, hatte immer viel Bewunderung für das Mädchen. „Sie war ehrgeizig und fleißig, wollte immer die Beste sein“, erzählt Caroline Medinger. „Bekommt dieses Mädchen eine Chance, dann ergreift sie sie auch“, davon ist die Lehrerin überzeugt. Sabrie hat mittlerweile das internationale Abitur am Lycée Michel Lucius bestanden, als eine der Besten ihres Jahrgangs. Im Moment verbessert sie noch ihre Französischkenntnisse, spätestens ab nächstem Jahr möchte sie dann studieren. Am liebsten Medizin. Luxemburg ist ihre neue Heimat geworden.
Auch ihr kleiner Bruder, Blin, heute zwölf, scheint gut zurecht zu kommen. Er besucht die 5. Klasse der Grundschule in Grevenmacher, in diesem Jahr das erste Mal regulär. Auch die Spezialstunden zur Sprachförderung braucht er nun nicht mehr. „Er läuft an meiner Tür vorbei, winkt und grinst“, erzählt Tessy Zigrand, die Blin in den letzten Jahren in den so genannten „Cours d’accueil“ unterrichtet hat. „Es gefällt ihm, dass er nun keine Sonderbetreuung mehr braucht.“
„The reason why I live“
Spricht Albana von ihren Kindern ist jedes einzelne Wort voller Stolz. Ihr WhatsApp Profil besteht aus einem Foto ihrer drei Kinder, drei roten Herzen und der Aufschrift „The reason why I live“. Auch wenn es kaum eine Mutter gibt, die den Satz nicht auch für sich beanspruchen könnte, haben diese Worte in Albanas Fall eine tiefere Bedeutung. Es waren ausschließlich ihre Kinder, die sie morgens jahrelang zum Aufstehen bewogen haben, es war für ihre Kinder, für die sie sich außerhalb Albaniens eine bessere Zukunft erhoffte und es sind ihre Kinder, um die sie sich weiterhin sorgen wird, auch wenn sie „nun selbst fliegen können“, wie Albana es ausdrückt.

Dann wird sie plötzlich wieder ganz leise. Der Blick aus dem Fenster, sie braucht ein paar Sekunden, um über Meralb, ihren Ältesten zu sprechen. Für ihn war das Zurechtkommen in einer neuen Kultur nicht so leicht. Er sei ein guter Junge, sagt Albana. Noch auf der Suche, nach dem, was ihm wirklich Spaß mache.
„In unserer Firma hat er seinen Platz“, sagt Markus Rick vom Heizungsunternehmen „Chauffage Sanitaire Rick“ in Grevenmacher, wo Meralb nach einigen Praktika nun fest angestellt ist. Sein Chef beschreibt ihn als einen „zuverlässigen und gut integrierten“ jungen Mann und hebt besonders seine Sprachkenntnisse in Französisch und Luxemburgisch hervor.
Eigentlich wünscht sich Albana für ihre Kinder nur eines: Ein selbstständiges Leben ohne Angst. Dafür mit Krankenversicherung und Rentenansprüchen. Eine soziale Absicherung, das ist für Albana noch längst nicht selbstverständlich. Zu lange hat sie „im Schwarzen“ gelebt, wie sie es nennt, finanziell abhängig vom Gutdünken ihres Mannes. Unabhängigkeit sei ein Privileg. Ein Privileg, das sie nie wieder verlieren möchte.
„Ich mag die Perfektion“
Albana holt ihr Handy aus der Tasche, schaut auf die Uhr. Ein paar Minuten hat sie noch. Sie zeigt einige Fotos. Einen Berg Baklava, das süße, arabische Gebäck voller Honig, Mandeln und Pistazien, das auch das „Chiche!“ zum Dessert anbietet. Einen zweiten Berg, diesmal mit Kibbeh, voller gefüllter Bulgurklöße. 500 Stück hätte sie davon in den letzten zwei Tagen gemacht. Erst den Teig angerührt, dann die Klöße geformt, sie ausgehöhlt und mit einer Paste aus Hackfleisch und Zwiebeln gefüllt. Alles reine Handarbeit. Sie fährt sich über die Schulter. Die Arbeit gehe ganz schön in die Knochen.
Jetzt müsse sie aber wirklich gehen. Gleich geht ihre Schicht los. Sie muss sich schließlich noch umziehen. Niemals würde Albana zu spät zur Arbeit kommen. „Ich mag die Perfektion“, sagt sie, wirft ihre lockigen Haare über die Schulter und geht durch die Tür. Ihr Gang ist jetzt aufrecht und selbstbewusst, ihre Augen aber bleiben feucht. Wahrscheinlich für immer.
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