Fünfzig Jahre nach den Protesten, läuft die Erinnerungsdebatte um die 68er in Deutschland auf Hochtouren. Doch während links über die Bedeutung des Schicksalsjahres gestritten wird, dockt die Revolution heute rechts an. Eine Bestandsaufnahme.
Nostalgie ist der Feind der Wahrheit. Sie lässt Vergangenes glorreich wirken, lässt Missstände in Vergessenheit geraten. Sie unterwandert Geschichte mit Ignoranz, macht persönliche Erfahrungen zu unumstößlichen Fakten. Lange Zeit dominierte diese Gedächtnisakrobatik den Diskurs, wenn es um das Revolutionsjahr 68 ging. Schnell war von einem „neuen Zeitalter“ und der „Rettung der Demokratie“, von der „freien Liebe“ und „weltweiter Revolution“ die Rede. Der Mythos 68 galt als unantastbar. Doch genau wie die Wegbegleiter von damals, ist auch die Erzählung des „Schicksalsjahres“ ins Alter gekommen. 50 Jahre nach „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“ und „Enteignet Springer“ ist die Nostalgie nach 68 verpufft. Der Mythos wackelt.
Man kann 68 nicht kleinreden. Die weltweiten Proteste und das Aufbegehren der Jugend stellten politische und gesellschaftliche Verhältnisse radikal infrage. Gerade in Deutschland wurde das Jahr zur Zäsur der Nachkriegsordnung. Der Sozialphilosoph Oskar Negt konstatiert, dass die 68er noch heute wie ein Pfahl im Fleisch der Gesellschaft sitzen. Damals, so Negt im Interview mit dem SWR, sei das Bewusstsein geschaffen worden, das die liberale Demokratie in Deutschland erst ermöglicht hätte. In Zeiten, die von Demokratiedämmerung und Populismus geprägt sind, ist die Verlockung groß, den damaligen Umbruch zu romantisieren. Doch dass die 68er längst nicht die Heilsbringer waren, zu denen sie hochstilisiert wurden, sickert zunehmend ins kollektive Gedächtnis.
Frauen waren höchstens Handlanger der Revolution
Der renommierte Soziologe Heinz Bude tingelt derzeit durch die deutschen Medien und entzaubert den Mythos der Revoluzzer. Dem Berliner „Tagesspiegel“ gegenüber behauptete Bude: „die evolutive Bedeutung von 1968 wird überschätzt. Ich glaube nicht, dass wir ohne [Rudi] Dutschke weniger freie Sitten hätten. Die Republik würde heute nicht anders aussehen“. Über vieles, zum Beispiel Sex, hätte man auch schon vor 68 geredet, so Bude, die 68er hätten diese Tendenzen nur verstärkt.
Solche Aussagen kokettieren, aber sie treffen ins Schwarze. Die Auffassung, dass die „freie Liebe“ längst nicht so frei war und die Geschlechtergleichberechtigung vornehmlich von den Protagonistinnen der Revolution vorangetragen wurde, ist mittlerweile weitläufig akzeptiert. In ihrem jüngst erschienenen Buch Das andere Achtundsechzig argumentiert die Historikerin Christina von Hodenberg, dass das Bild der Bewegung von Männern geprägt wurde, die „nicht weniger sexistisch waren, als die anderen damals“. Frauen spielten nur eine Nebenrolle, waren höchstens Handlanger der Revolution. Von einer gemeinsamen Front kann nicht die Rede sein.
Selbst die Revolte gegen die NS-Väter, ein Kernmotiv der 68er, nennt von Hodenberg ein „dramatisches Muster, das sich gut vermarkten ließ“. Ein wahrer Konflikt fand nur in wenigen Haushalten statt. Stellvertretend wanderte der Protest vom Wohnzimmer auf die Straße; vom Persönlichen zum Allgemeinen. Protest für jeden, gegen jeden. Diese Schattenseiten der 68er sollen keineswegs ihre Bedeutung schmälern. Vielmehr geht es darum, den naiven Glauben an die Vollkommenheit des Umbruchs zu brechen.
Dissonanz zwischen Ost und West
Wer die Errungenschaften der 68er aufzählt, muss im gleichen Atemzug auch ihre Versäumnisse und Irrwege nennen. Wenn die 68er den RAF-Terror auch nicht zwangsläufig bedingt haben, lieferten sie ihm trotzdem einen ideologischen Unterbau. Die 68er und die RAF teilten sich ein Feindbild, jedoch nicht die Methoden um gegen dieses vorzugehen. Auch die komplette Dissonanz zwischen der west- und ostdeutschen Jugend muss Teil der 68er-Geschichte sein.
Selbststilisierung als intellektueller Einlauf in die Gedärme der verstockten Republik nervt ebenso wie die Verteuflung durch nachgeborene Konterrevolutionäre.“
Der Berliner Schriftsteller und ehemalige DDR-Kritiker Rolf Schneider schrieb jüngst in der „Welt“, dass der Prager Aufstand für die DDR-Jugend deutlich wichtiger war, als das, was in West-Berlin vor sich ging. Im Vergleich zu Prag, so Schneider, erschienen „die Aufmärsche in Westdeutschland, wo man mit roten Tüchern und dem Ruf nach Rätedemokratie auf der Straße umherlief, irrelevant, kindisch und unendlich weit weg“. Für viele Bürger der DDR-Diktatur, war der Aufstand im Westen ein Aufbäumen von Wohlstandsrevoluzzern. Die vielbesungene Solidarität und Befreiung des Individuums schwappten nicht über die Stacheldrähte an der innerdeutschen Grenze. Im Westen machte man in ihrem Namen Revolution aber nicht zu ihren Gunsten.
Die Revolution ist nach rechts abgedriftet
Die Geschichte der 68er wird immer noch weitergeschrieben, immer wieder revidiert. Der Fokus der Debatte verschiebt sich von Jubiläum zu Jubiläum. Weder Lobhudelei noch blinde Verunglimpfung werden ihrem Erbe gerecht. Wie Literaturkritiker Oliver Jungen kürzlich in der „FAZ“ festhielt: „Selbststilisierung als intellektueller Einlauf in die Gedärme der verstockten Republik nervt ebenso wie die Verteuflung durch nachgeborene Konterrevolutionäre“.
Auf die linke Revolution der Eliten, folgt eine konservative Revolution der Bürger.“Alexander Dobrindt
Realismus ist angebracht. Dazu zählt auch die Erkenntnis, dass die Linke, 50 Jahre nach ihrem Erstarken, heute eher handzahm daherkommt. Das Revolutionäre ist ihr abhandengekommen, hat sich eine neue Heimat gesucht. Ausgerechnet am rechten Rand, dort wo die AfD gegen die „linksrotgrün-versiffte 68er-Ideologie“ mobil macht, hat die Revolution angedockt. Die Rechten bedienen die Nostalgie nach Protest und Umsturz.
Der CSU-Landesgruppenchef und frühere Verkehrsminister Alexander Dobrindt wurde im Januar müde belächelt, als er in einem Gastbeitrag in der „Welt“ postulierte, auf „die linke Revolution der Eliten, folgt eine konservative Revolution der Bürger“. Die „linke Meinungsvorherrschaft“, herbeigeführt durch die 68er, die Dobrindt erwähnt, wurde schnell als Hirngespinst abgetan. Aber über einen Punkt kann nichts hinwegtäuschen: die konservative Revolution hat bereits begonnen. Und sie bedient sich reichlich am Erbe der 68er.
Bei aller Kritik hielt Heinz Bude im „Tagesspiegel“ auch fest, dass es den 68er gelang, das „Leidenschaftsverbot“ in der deutschen Politik zu kippen. Nach dem Krieg hätte man zur Ruhe kommen und keine Debatten führen wollen. Die 68er hätten mit ihrem Protest die Streitkultur wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Genau die erweist sich nun als doppelschneidiges Schwert. Hievte sie einst grüne Politiker mit Turnschuhen in den Bundestag, ebnete sie heute rechtsnationalen Politikern mit Deutschlandfähnchen den Weg ins Parlament, die dort versuchen, ihre Themen auf die Agenda zu setzen.
Hauptsache, dagegen!
Der Intellektuelle Harald Welzer konstatierte in einem Gastessay in der „Zeit“, dass es einer linken „Generation 2018“ bedarf, die „Deutungshoheit und die Hoheit über den Diskurs – also das Erbe von 1968 – aber nicht mehr existieren“. Sein Fazit wirkt ernüchternd: „Wir haben neue Zeiten, den Diskurs bestimmen jetzt andere“.
Dass Begriffe wie „Heimat“, „Identität“, „Flüchtlingskrise“ und „deutsche Leitkultur“ den politischen Diskurs prägen, scheint dies zu bestätigen. Und obwohl AfD, Pegida und Konsorten die Ideologie der 68er ablehnen, greifen aber beherzt in deren Bastelkasten für die Revolution. Begriffe wie „mündiger Bürger“ – geprägt durch den Säulenheiligen der 68er, Theodor W. Adorno – oder „Gegenöffentlichkeit“ haben sich die Rechten längst angeeignet und auf ihre Ideologie umgemünzt.
Am Abend nach der Bundestagswahl erklärte AfD-Chefin Alice Weidel die „direkte Demokratie“ sogar zum „Kernthema“ ihrer Partei. Sie verstehen sich als die neuen Retter der „wahren“ Demokratie und als Sprachrohr des „wahren“ Volkes. Was 68er und Neurechte eint, ist das, was Heinz Bude „das narzisstische Bestehen auf der leeren Geste der Verneinung“ nennt: Hauptsache, dagegen!
Unzufriedenheit mit der Wirklichkeit trieb damals die 68er an und dient heute den Rechtspopulisten als Antrieb. Die Straße war und ist Ausgangspunkt der Empörung und des Widerstandes, das Parlament das Ankunftsziel. Der rechte „Marsch durch die Institutionen“ hat längst begonnen. Die Utopie einer anderen Gesellschaft ist immer noch das Leitmotiv. Bei den 68ern war es die freiheitstrunkene Hoffnung auf eine liberale Zukunft, bei den Rechten die Sehnsucht nach einer geordneten Vergangenheit. Nostalgie bleibt der Feind der Wahrheit.