Luxemburg hat die Wachstumskritik im internationalen Vergleich mit einiger Verspätung entdeckt. Bisher bewegt sich die Debatte auch eher im Abstrakten. Das Thema wird jedoch mit ziemlicher Sicherheit den Wahlkampf bestimmen. 

Worüber will man sich im Wahlkampf Wortgefechte liefern, wenn eigentlich alles nach Plan läuft? Vor diesem „Problem“ steht die luxemburgische Parteienlandschaft im Vorfeld der Wahlen im Oktober. Natürlich gibt es in Luxemburg Probleme und der Wahlkampf wird seinem Namen sicherlich gerecht werden, aber die Frage sei erlaubt in einem Land, in dem auf den ersten Blick wenig Änderungsbedarf besteht. Denn die Arbeitslosigkeit geht stetig zurück, die Wirtschaft boomt, und die derzeitigen Wachstumsprognosen – 3,9% dieses Jahr – liegen deutlich über dem europäischen Durchschnitt.

Aber unzureichendes Wachstum ist auch nicht das Problem. Vielmehr wird gerade das starke und schnelle Wachstum zu einer Herausforderung für das Land. Luxemburg wächst über seine Kapazitäten hinaus und die Politik droht mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten zu können. Die rosigen Zukunftsaussichten werden zum bleiernen Gegenwartsproblem.

Ein Land, zum Wachstum verdammt

Es ist eine Bredouille, um die uns andere Länder beneiden. Für Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) ist es jedoch eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. In der RTL-Sendung „Kloertext“ vom 28 Juni behauptete Schneider, das momentane Wohlstandsniveau des Landes ließe weniger Wachstum kaum zu. Wer weniger Wachstum fordere, müsse auch sinkende Renten, stockenden Infrastrukturausbau und verminderte Sozialleistungen in Kauf nehmen. Dazu seien wohl die wenigsten bereit – Luxemburg ist zum Wachsen verdammt.

Deshalb ist für Schneider klar, dass es nicht darum gehen kann, das Wachstum und damit den Wohlstand zu bremsen, sondern auf neue Wachstumswege zu setzen, die weniger negative Konsequenzen wie Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung und übermäßigen Bevölkerungszuwachs und damit Wohnungsknappheit nach sich ziehen. Schneiders Zauberwort lautet Digitalisierung: Automatisierung, Smarttechnologies und Künstliche Intelligenz sollen es ermöglichen, schonend zu wachsen und die Industrie wieder in Luxemburg zu verankern. Es ist der Traum vom wirtschaftlichen Wachstum ohne Mensch.

Steigende Zahl der Wachstumskritiker

Um diesen Traum geht es auch CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler. In der besagten Talkrunde gab er zu verstehen, man müsse zukünftig auf produktives Wachstum anstatt demographisches Wachstum setzen. Das Schreckgespenst 700.000-Einwohner-Staat ist mittlerweile zum 1,1-Millionen-Einwohner-Staat avanciert und stellt das Problem der Wohnungsnot im Großherzogtum wieder an vorderste Stelle. Noch fußt das luxemburgische Wachstumsmodell auf scharenweise Grenzgängern und Arbeitsmigration, aber diese bringen die Infrastruktur des Landes täglich an ihre Grenzen.

Nachhaltigkeitsminister François Bausch will gar nicht erst über Wachstum reden, wie er nicht nur in der Kloertext-Sendung zu verstehen gab. Denn es sage nichts darüber aus, wie das Wachstum erreicht wurde, zu welchem Preis und wer davon letztlich profitiert. Bausch will deshalb lieber über Weiterentwicklung sprechen.

Dass Politiker nicht mehr über Wachstum reden wollen, mutet revolutionär an, denn die Steigerung der Wirtschaftsleistung war lange Kern des vorherrschenden ökonomischen Paradigmas. Aber die Kritik am Wachstum nimmt zu. 1972 machte die einflussreiche Studie „Die Grenzen des Wachstums“ des „Club of Rome“ die Politik auf die negativen Konsequenzen des damaligen Wachstumsfetisch aufmerksam. Die damalige Schlussfolgerung: „Keine Kombination rein technischer, wirtschaftlicher oder gesetzlicher Maßnahmen kann eine wesentliche Besserung bewirken. Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen.“

Vom bröckelnden Konsens zu Alternativen

Bis heute sucht die Politik vergeblich nach diesen neuen Antworten. Aber die Angst vor dem Kollaps und dem drohenden Umweltfiasko nimmt zu. Die Lösungsvorschläge reichen von naivem Tech-Optimismus zu kapitulierender Wachstumsverweigerung. Längst haben es Begriffe wie negatives Wachstum oder „Degrowth“ und Postwachstumsgesellschaft in politische Manifeste geschafft. 2016 versammelte sich die Degrowth-Bewegung in Budapest, um unter dem Motto „Schnecken aller Länder vereinigt euch“ Freihandelsabkommen wie TTIP und Ceta den Kampf anzusagen und Wege aus der Wachstumsfalle zu propagieren.

Degrowth hat sich als wirkungsmächtiges Gegen-Narrativ zum ungezügelten Kapitalismus und dessen Wachstumsdrang etabliert. Politiker aller Couleur greifen auf die Argumente zurück: die spanische Linke um Podemos, die rechtspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung in Italien oder Benoît Hamon, der Spitzenkandidat der französischen Sozialisten bei der letztjährigen Präsidentschaftswahl. Wie Wirtschaftsredakteur Rainer Hank in der FAZ schreibt: „Wachstum im Schneckentempo ist in.“

Ganz so weit ist man in Luxemburg noch nicht, aber man wird zunehmend hellhöriger. Noch ist es Konsens in der luxemburgischen Politik, dass man auch weiterhin wachsen will, aber längst nicht mehr um jeden Preis und im Hauruckverfahren. Die Frage, wie viel Wachstum unsere Gesellschaften vertragen, ist keine neue, aber ihre Dringlichkeit nimmt zu. Um Lösungsansätze werden die Parteien beim Wahlkampf nicht herum kommen. Es könnte am Ende also doch hitziger werden als erwartet.