Geht es ums Wachstum, streitet Luxemburg über Fage, Google und den alltäglichen Stau. Doch die Debatte ist grundsätzlicher: Experten sind zunehmend ratlos, was Wirtschaftswachstum überhaupt bedeutet. Nur eins wird klar: Mehr Wachstum bedeutet nicht unbedingt mehr Wohlstand.
Wächst die Wirtschaft, ist alles gut. So lautete die Prämisse jahrzehntelang. Mehr Wachstum bedeutete mehr Arbeitsplätze, mehr Steuereinnahmen für den Staat und im besten Fall mehr Geld im Portemonnaie für den Einzelnen. Kurz: mehr Wohlstand für die ganze Gesellschaft.
Doch der Wirtschafts- und Sozialrat (CES) warnte rezent vor einer übertriebenen Erwartungshaltung an das Bruttoinlandsprodukt („produit intérieur brut“, PIB). Also an jenen Indikator, dessen Zunahme als Wirtschaftswachstum gilt. „Das Ziel des BIP ist es nicht, das Wohlergehen, die Lebensqualität oder das Glück zu messen – auch wenn dies in der öffentlichen Debatte oft so verkürzt dargestellt wird“, heißt es in einem CES-Bericht von Juni.
Das überrascht vonseiten der Vertreter der Sozialpartner. Weder Arbeitgeber noch Gewerkschaften sind als ausgesprochene Wachstumskritiker bekannt. Doch es zeigt, dass wir unsere Denkmuster an neue Gegebenheiten anpassen müssen. Und dem Wirtschaftswachstum weniger Gewicht zumessen.
Das unzuverlässige BIP
Das Umdenken hat einen einfachen Grund, der in den vergangenen Monaten offenkundig wurde: Das BIP als Indikator wird in Luxemburg immer unzuverlässiger. Während den Koalitionsverhandlungen präsentierte die Statistikbehörde die neuesten Wachstumsprognosen. Doch das Statec warnte in der „Note au formateur“ gleichzeitig davor, sich allzu sehr auf die Zahlen zu verlassen.
Das zentrale Ziel der Politik ist der Wohlstand aller Bürgerinnen und Bürger. Wirtschaftliches Wachstum dagegen ist kein politisches Ziel.“Enquetekommission des deutschen Bundestags
So wuchs das Luxemburger BIP 2017 moderat, obwohl die Wirtschaft brummte. Der Grund für dieses „delikate Problem“: Die hierzulande ansässigen internationalen Konzerne verlagern je nach Bedarf (und nach Steuersparmodell) Gewinne nach Luxemburg. Oder eben nicht: Coca-Cola, Amazon und der Ketchup-Konzern Heinz verbuchten 2017 deutlich geringere Gewinne in Luxemburg als zuvor, wie das „Lëtzebuerger Land“ recherchierte. Das Statec musste das BIP um 1,4 Milliarden Euro nach unten korrigieren. Statt 2,3 Prozent Wachstum waren es nur noch 1,5.
Der CES hebt in seinem Bericht hervor, dass das Statec seit Jahren die Wachstumszahlen teils sehr deutlich anpassen muss. Für das Jahr 2000 lag die Prognose etwa bei vier Prozent, vier Jahre später wurde die Zahl auf ganze neun Prozent korrigiert.
Auf einem Auge blind
Will man das Wirtschaftswachstum kennen, hat man die Wahl zwischen einer zeitnahen Einschätzung oder einer zuverlässigen Zahl, hält der Wirtschafts- und Sozialrat fest.
Es geht dabei nicht nur um eine einzelne Zahl. Das BIP beziehungsweise dessen Zu- oder Abnahme sind unerlässliche Größen, um zu wissen, was der Staat ausgeben darf oder soll. Normalerweise sollte eine Wachstumsprognose Aufschluss darüber geben, wie viel Steuern gezahlt werden. Doch in Luxemburg wachsen die Einnahmen in den letzten Jahren schneller als das BIP – trotz Steuersenkungen. Die Gründe dafür sind noch größtenteils unklar.
Am BIP orientiert sich die Regierung, um etwa zu entscheiden, wie viel Schulden aufgenommen werden oder welche Summen für Forschung ausgegeben werden sollen. Diese Haushaltsentscheidungen stehen aber an, wenn die Wirtschaftsleistung erst grob geschätzt werden kann.
Welches Wachstum für welche Ziele?
Doch selbst wenn wir das Wirtschaftswachstum genau einschätzen könnten, bleibt unklar, was wir erreichen wollen. „Das zentrale Ziel der Politik ist der Wohlstand aller Bürgerinnen und Bürger. Wirtschaftliches Wachstum dagegen ist kein politisches Ziel“, heißt es in einem Bericht des deutschen Parlaments.
Zwischen 2011 und 2013 berieten Abgeordnete und Experten in einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages über die Zusammenhänge von Wachstum, Wohlstand und Nachhaltigkeit. Ein Geheimrezept fanden sie nicht, allerdings sind die Ergebnisse auch für die Luxemburger Debatte interessant.
Ein ganzes Kapitel des 800-Seiten-Berichts widmet sich der Frage, was Wachstum überhaupt bedeutet. Denn anders als in der Nachkriegszeit, geht es heute oft nicht um ein Wachstum der produzierten Menge, sondern meist der Qualität. Das heißt, dass der materielle Wohlstand nicht entsprechend wächst, oft aber die Möglichkeiten zu einer anderen Lebensgestaltung: mehr Zeit für Kinderbetreuung, mehr „Freizeit“.
Anders als in Luxemburg besteht in Deutschland die Ansicht, dass hohe Wachstumsraten kaum noch zu erreichen sind. Ein Grund ist der demografische Wandel und der vorhersehbare Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Wenn Unternehmen nicht die richtigen Mitarbeiter finden, können sie schlechterdings wachsen. Das ist auch für Luxemburg längst eine Herausforderung.
Doch ein schwaches Wachstum, muss keine Katastrophe sein, betonen die deutschen Experten. Da die Wirtschaftsleistung bereits auf einem sehr hohen Niveau liege, reichten auch geringe Zuwächse aus, um notwendige Investitionen zu leisten. So seien etwa die größten Fortschritte im Umweltschutz ab dem Jahr 2000 erreicht worden – einem Zeitraum, in dem das deutsche BIP jährlich um lediglich ein Prozent wuchs. Ein niedriges Wachstum macht es aber einfacher, den Ressourcenverbrauch in absoluten Zahlen zu senken.
Alternative Indikatoren
Wenn die Wachstumsrate wenig über den Wohlstand oder die Lebensqualität aussagt, dann braucht es andere Messlatten. Interessant ist, dass die Diskussion dazu mit der Wirtschafts- und Finanzkrise aufkam. In Frankreich legte eine Kommission geführt von den beiden Nobel-Preisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen 2009 einen Bericht vor, wie das „bien-être“ erfasst werden kann.
Diese Arbeit inspirierte den Luxemburger CES sowie den Nachhaltigkeitsrat, die 2013 einen gemeinsamen Bericht zum „PIBien-être“ abschlossen. Das Ziel war, die realen Lebensbedingungen der Einwohner Luxemburgs über Jahre zu erfassen und auf diese Weise politische Maßnahmen zu treffen. Eine Vielzahl von Maßstäben soll erlauben, über das BIP pro Kopf hinauszugehen. Und auch die deutsche Enquete-Kommission sollte einen Wohlstands- und Fortschrittsindikator ausarbeiten.
Doch was definiert das Wohlergehen der Bürger eines Landes? So deutlich die Kritik am BIP, so klar geht aus diesen Berichten auch hervor, dass ein Ersatz nicht so einfach zu definieren ist. Es ist also ein Mix an Indikatoren, der herangezogen wird. Die deutsche Enquetekommission hielt zehn Leitindikatoren fest – von Bildung über Treibhausgase bis Beschäftigung. Der Luxemburger „PIBien-être“ umfasst sogar 63 Indikatoren.
Gemischte Bilanz
„Vernünftige Wachtumsraten“ von im Schnitt 3,5 Prozent habe Luxemburg seit 2014 erlebt, betonte Finanzminister Pierre Gramegna recht selbstzufrieden Ende 2018. Ein etwas anderes Bild zeigen die Indikatoren des „PIBien-être“, wie eine zeitgleiche Studie des Statec zeigt. Denn im Schnitt hatten die Luxemburger 2017 ein höheres Einkommen und ein größeres Vermögen als vor der Krise 2009. Doch die Früchte des Wachstums wurden ungleich verteilt. Und mehr Personen sagten 2017, dass sie Schwierigkeiten hätten, finanziell über die Runden zu kommen.
Wenig überraschend zeigen die Werte die angespannte Lage am Wohnungsmarkt. Zwischen 2014 und 2017 stiegen die Wohnkosten deutlich an und verschlangen den letzten Zahlen zufolge 28,5 Prozent des verfügbaren Einkommens. Entsprechend steigt der Anteil der Einwohner, die in zu kleinen Wohnungen leben. Doch die Lebensqualität steigt insgesamt, wie die Indikatoren für Gesundheit und Umwelt zeigen.
Das alternativlose Bruttoinlandsprodukt
Trotz aller Schwächen des Bruttoinlandsprodukts wird die Zahl uns weiter beschäftigen. Denn aktuell ist die Luxemburger Alternative „PIBien-être“ eine Excel-Tabelle, die so sperrig wie der Name ist. Auch in Frankreich und Deutschland hatten die jeweiligen Berichte wenig konkrete Folgen.
Der CES schlägt vor, am BIP als Hauptindikator festzuhalten. Allerdings soll das Statec mehr Ressourcen bekommen, um genauere Prognosen machen zu können. Die Behörde hat kürzlich eine neue Abteilung geschaffen, die die Aktivitäten der Konzerne detaillierter verfolgen soll. Außerdem fordern die Sozialpartner, dass das Statec Zugang zu den Informationen der Steuerverwaltung erhalten sollte, um die Datengrundlage zu verbessern.
Minister werden sich also weiter mit guten Wachstumszahlen brüsten. Auch wenn sie selbst nicht genau wissen, was sie bedeuten.
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