Hat das blau-rot-grüne Projekt noch eine Zukunft? Die Aussagen von Alex Bodry im Interview mit REPORTER schlugen im politischen Betrieb zum Teil hohe Wellen. Dabei sprach der LSAP-Fraktionschef im Grunde nur das aus, was offensichtlich ist. Eine Analyse.
„Das klingt banal, aber man kann es dennoch aussprechen.“ Dieser Satz aus dem Interview mit Alex Bodry ist in den Reaktionen etwas untergegangen. Dabei bringt er die Aussagen des LSAP-Politikers auf den Punkt. Dass es nämlich aktuell, also über die Bilanz der vergangenen fünf Jahre hinaus, kein gemeinsames Projekt der drei Koalitionsparteien mehr gibt, ist keine sensationelle Feststellung.
In dieser Hinsicht sind die Kernaussagen des LSAP-Fraktionschefs durchaus erfrischend ehrlich. Spricht man nämlich andere Koalitionspolitiker auf die gleiche Frage an, beteuern diese zwar, dass es natürlich noch Gemeinsamkeiten zwischen den drei Parteien gebe. An konkreten Inhalten können die Befragten diese Feststellung jedoch nicht festmachen. Man müsse eben die Wahlprogramme abwarten, um weitere konkrete Aussagen zu treffen, heißt es jetzt unisono von Politikern der Mehrheitsparteien. Mehr sagte Bodry im Grunde jedoch auch nicht.
Konkret wurde Bodry aber durchaus. Einerseits verteidigte er die Bilanz der Regierung, insbesondere in der Gesellschaftspolitik und anhand der aktuellen makroökonomischen Daten. Andererseits stellte er fest, dass es auch Bereiche gebe, wo man keine Fortschritte erzielte oder nur schwer zu Kompromissen gelangen kann.
Auch das klingt ziemlich banal. Doch manchmal kann der Ausspruch des Offensichtlichen eben doch eine starke politische Wirkung haben. Besonders wenn es die Unterschiede und Streitpunkte einer Koalition betrifft, die bisher immer auf Geschlossenheit und „Politik auf Augenhöhe“ pochte.
Die Streitthemen der Dreierkoalition
Dazu gehören auch die programmatischen Unterschiede zwischen der LSAP und der DP. Bodry nannte zwei Beispiele, den Mindestlohn und die Steuersenkungen für Betriebe. Objektiv haben die Koalitionsparteien in diesen Fragen keine einheitliche Position, geschweige denn ein gemeinsames politisches Projekt für die Zukunft.
Darüber hinaus gibt es innerhalb der Koalition natürlich noch weitere Streitthemen. So sind DP, LSAP und Grüne in der Wohnungsbaupolitik nicht immer auf einer Linie. Welchen Stellenwert räumt man etwa dem Recht auf Privateigentum ein? Diese Frage wird innerhalb der Koalitionsparteien sehr unterschiedlich gesehen, wie eine kurze öffentliche Kontroverse im vergangenen Jahr offenbarte.
Streit ist in der Politik so sicher wie das Amen in der Kirche.“
Ebenso zog diese Koalition bisher keine Schlüsse aus der Tanktourismus-Studie. Dass bei diesem Thema unterschiedliche Positionen aufeinander treffen, offenbarte sich dem Vernehmen nach mehrmals in koalitionsinternen Verhandlungen.
Dass es bei der generellen Ausrichtung von Wirtschafts- und Umweltpolitik immer wieder zu Reibereien kommt, ist spätestens seit den Diskussionen um eine eventuelle Ansiedlung von Steinwoll- bzw. Joghurtfabriken kein Geheimnis mehr. Nach außen vermittelten die Koalitionäre stets den Eindruck einer durch nichts zu trübenden Eintracht. Vor den Wahlen bricht diese politische PR-Front jedoch immer mehr auf.
Auch zur Frage der Steuervorteile für Manager („Stock options“) oder bei der Reform der Grundsteuer gibt es keine einheitliche Haltung der Koalitionsparteien. Ohnehin war die ganze Steuerreform keine Regierungspolitik aus einem Guss, sondern die drei Parteien mussten jeweils wesentliche Abstriche von ihren Programmen machen bzw. die eine oder andere Kröte schlucken.
Selbst in der Gesellschaftspolitik ist man sich in der Koalition nicht immer einig. So akzeptierte die DP die politische Geschlechterquote von LSAP-Ministerin Lydia Mutsch nur mit der geballten Faust in der Tasche.
Die Normalisierung von Blau-Rot-Grün
Man könnte diese Liste von strittigen Themen noch um einiges weiterführen. Letztlich ist es aber normal, dass es zu Streitigkeiten kommt. Alles andere wäre in der Politik höchst suspekt.
So deuten auch die Koalitionsbildungen nach den Gemeindewahlen nicht auf ein dauerhaftes blau-rot-grünes Projekt hin. Um nur die prominentesten Beispiele zu nennen: In Esch wurde die LSAP von einer schwarz-blau-grünen Koalition aus dem Schöffenrat bugsiert. In der Hauptstadt nahm die linksliberale Vorzeigekoalition aus DP und Déi Gréng ein jähes Ende, weil die Liberalen auf einmal lieber mit der CSV regieren, was in manchen Koalitionskreisen als perspektivische Positionierung für die Parlamentswahlen in diesem Jahr gedeutet wurde.
Auch Blau-Rot-Grün ist keine Folge einer Liebeshochzeit oder politischen Fusion von Parteien, sondern nur eine gewöhnliche Koalition.“
All das deckt sich nicht mehr mit der unrealistischen bis naiven Erwartungshaltung mancher Anhänger der drei Parteien, dass diese Koalition „anders“ sei. Dass sich Blau, Rot und Grün immer einig wären. Und falls nicht, dass Streit ausschließlich hinter verschlossenen Türen ausgetragen würde. Jeder, der sich nicht an diese Abmachung hält, gerät zudem in den Verdacht, sich bei der CSV als Juniorpartner anzubiedern.
In diesem Sinn findet in diesen frühen Wochen des Wahlkampfs eine gewisse Normalisierung statt. Auch Blau-Rot-Grün ist keine Folge einer Liebeshochzeit oder politischen Fusion von Parteien, sondern nur eine gewöhnliche Koalition. Dass die Hauptprotagonisten und Garanten dieser Regierung – Xavier Bettel, Etienne Schneider und Felix Braz – sich gut verstehen und persönliche Freunde sind, ändert an dieser Tatsache nichts.
Hinter den Kulissen kommt es immer wieder zu Streitigkeiten, und das ist wohl auch gut so. Streit um den besten politischen Weg kann durchaus fruchtbar und konstruktiv sein. Vor allem ist Streit in der Politik, auch innerhalb einer vertrauten Regierungskoalition, so sicher wie das Amen in der Kirche. So könnte die aktuelle Diskussion um das blau-rot-grüne Projekt durchaus dazu führen, dass die Parteien im Wahlkampf bei manchen Streitfragen Farbe bekennen.
Eine Aussage, unterschiedliche Adressaten
Andererseits haben Bodrys Aussagen aber auch etwas von einer Verzweiflungstat. Denn gleichzeitig warnte der LSAP-Fraktionschef seine Partei vor einem ungünstigen Ausgang der Wahlen im Oktober. Dass Bodry der Meinung ist, dass seine Partei sich für den Fall des Falles auch nicht zu schade für den Gang in die Opposition sein soll, ist zwar auf den ersten Blick löblich. Andererseits dürften bei den Genossen aber längst die Alarmglocken läuten, wenn sich die Parteispitze schon vier Monate vor den Wahlen vorsorglich mit den Folgen einer Wahlniederlage beschäftigt.
Innerhalb der LSAP mit ihren traditionellen ideologischen Flügeln ist das letzte Wort über die Positionierung im Wahlkampf noch nicht gesprochen.“
In diesem Sinn waren seine kritischen Äußerungen in Richtung der DP wohl weniger dem Koalitionspartner als der eigenen Basis gewidmet. Der LSAP werden in den Umfragen relativ konstant schwere Verluste von bis zu vier Sitzen vorausgesagt. Dazu kommt das ernüchternde Resultat bei den Gemeindewahlen, und auch die Erfahrung der desaströsen Europawahlen 2014 ist an der Basis noch nicht vergessen.
Bodry geht wohl davon aus, dass die Partei im Oktober nur dann eine Chance hat, wenn sie sich auf ihre Kernprogrammatik besinnt. Und diese ist – wie sollte es anders sein – nicht in allen Punkten die gleiche wie bei der DP oder Déi Gréng. Vor allem im Verhältnis zwischen Sozialisten und Liberalen offenbart sich seit geraumer Zeit, dass die „sozialliberale“ Agenda der vergangenen Legislaturperiode zwar zu vorzeigbaren Politikergebnissen führt, aber wohl weder die eine noch die andere Parteibasis auf Dauer zufriedenstellen kann.
Mögen die innerparteilichen Debatten beginnen
Eine Koalitionsaussage Richtung Blau und Grün waren Bodrys Worte sicher nicht. Doch auch eine Präferenz für eine Koalition mit der CSV klingt anders. Bodry hat weder die eine noch die andere Machtoption für sich persönlich ausgeschlossen. Er hat lediglich festgestellt, dass die LSAP programmatisch und dauerhaft ähnlich weit von der DP als von der CSV entfernt ist. Angesichts der abgearbeiteten gesellschaftspolitischen Agenda und dem Weggang von Jean-Claude Juncker als persönliche Hürde einer CSV-geführten Koalition in 2013 ist diese Einschätzung nicht so abwegig.
Die Reaktionen der anderen Parteien deuten darauf hin, dass Bodry mit seiner Einschätzung nicht ganz falsch lag.“
All diese Fragen werden in jener Partei, die den Streit durchaus als hohes politisches Gut betrachtet, noch eine Rolle spielen. Innerhalb der LSAP mit ihren traditionellen ideologischen Flügeln ist das letzte Wort über die Positionierung im Wahlkampf nämlich noch nicht gesprochen. Bodry hat dabei nur einen Stein ins Rollen gebracht, der in der aktuellen entscheidenden Phase der Aufstellung der Parteiprogramme durchaus zu einer stärkeren inhaltlichen Profilierung der Sozialisten führen könnte. Die Ministerriege um Etienne Schneider und Dan Kersch wird die Debatte ebenso wie der Gewerkschaftsflügel sicherlich nicht scheuen.
Apropos Flügelkämpfe: Die Reaktionen der anderen Parteien deuten darauf hin, dass Bodry mit seiner Einschätzung nicht ganz falsch lag. So wehrte sich LSAP-Spitzenkandidat Etienne Schneider im Gespräch mit dem „Tageblatt“ zwar gegen den Eindruck, dass das blau-rot-grüne Projekt am Ende sei. Seine Äußerung, dass seine Partei auch nach den Wahlen eine Präferenz für die Dreierkoalition habe, relativierte er im Interview mit RTL aber wieder.
Vor allem ging Schneider, ähnlich wie François Bausch (Déi Gréng) oder Eugène Berger (DP), in seiner Reaktion nicht auf die von Bodry angesprochenen Inhalte ein. Die Bilanz der Regierung sei gut und man müsse nun erst einmal die Wahlprogramme abwarten, heißt es. Ein Zukunftsprojekt für diese Koalition entwarf der Mann, der seinen Genossen bei den vergangenen Wahlen schon versprochen hatte, Premier zu werden, in keiner Weise.
Von Bodry zu Cahen und wieder zurück
DP-Präsidentin Corinne Cahen verteidigte sich zwar im Gespräch mit RTL, dass es ihrer Partei nicht um „parteipolitisches Geplänkel“ gehe, sondern um konkrete Ergebnisse und Inhalte. Stichwort: „Politik fir d’Leit.“ Den Eindruck, dass es sich dabei eher um die Verteidigung der blau-rot-grünen Bilanz als um ein in die Zukunft gerichtetes Projekt handelte, konnte sie aber auch nicht von der Hand weisen.
Auf Nachfrage von REPORTER betont Corinne Cahen, dass diese Regierung durchaus eine Politik des sozialen Ausgleichs betrieben habe. Durch Maßnahmen wie die Gratis-Kinderbetreuung, die Mietsubvention oder die Steuerreform habe man gemeinsam Akzente im Interesse der unteren Einkommensschichten gesetzt.
Ausgeschlossen ist eine Fortführung von Blau-Rot-Grün und die Einigung auf ein neues „Projekt“ nach den Wahlen demnach nicht. Die Euphorie für diese Perspektive hält sich mittlerweile aber selbst bei führenden Koalitionspolitikern in Grenzen.“
Die DP-Präsidentin betont, dass ihre Partei ohne Wenn und Aber hinter der Bilanz dieser Regierung stehe. Doch nichts anderes hat auch Bodry gesagt. Ausgeschlossen ist eine Fortführung von Blau-Rot-Grün und die Einigung auf ein neues „Projekt“ nach den Wahlen demnach nicht. Die Euphorie für diese Perspektive hält sich mittlerweile aber selbst bei führenden Koalitionspolitikern in Grenzen.
Die Kernfrage nach dem noch verbleibenden Projekt der Koalition beantwortet Cahen übrigens mit einer Gegenfrage: „Wie war das denn 2013? Sind die Parteien da auch mit einem gemeinsamen Projekt angetreten oder doch mit ihren eigenen Programmen?“ Der Unterschied ist aber: 2013 trafen sich die Spitzenleute der drei Parteien bereits informell im Wahlkampf, um ihre Positionen aufeinander abzustimmen. Interessanterweise waren Etienne Schneider und – ja – Alex Bodry im Wahlkampf 2013 die einzigen Spitzenpolitiker, die nicht vor einer klaren Koalitionsaussage zurückschreckten.
Hat Blau-Rot-Grün also eine Zukunft? Es bleibe noch viel zu tun, sagt Cahen. Auch wenn diese Koalition „viele große Reformen in beeindruckendem Tempo“ umgesetzt habe, gebe es mit der Mobilität, der Justiz, der wirtschaftlichen Diversifizierung, dem Gesundheitssystem, „und, und, und“, noch etliche Baustellen, die eine nächste Koalition angehen müsse – mit dem banalen, realpolitischen, ja fast schon Bodry’schen Zusatz: „unabhängig davon, aus welchen Parteien sich diese Koalition am Ende zusammensetzen wird.“