„An“ oder „mit“? Es ist umstritten, ob Infizierte mit Vorerkrankungen unmittelbar an den Folgen von Covid-19 sterben. Intensivmediziner sehen die Unterscheidung kritisch. Der Streit um die Begriffe verdeckt jedoch das Wesentliche: In dieser Pandemie sterben mehr Menschen als zuvor.

„Nur 6% der offiziellen Corona-Toten sind tatsächlich an Covid-19 gestorben“: Diese Worte aus einem Bericht der US-Behörde „Centre for Disease Control“ (CDC) sorgten Ende des vergangenen Jahres für reichlich Wirbel in den sozialen Medien. Man könnte den Satz so verstehen, dass die große Mehrheit der Erkrankten nicht an Covid-19, sondern mit der Coronavirus-Krankheit stirbt. Verantwortlich sei nicht das Virus selbst, sondern Vorerkrankungen und Risikofaktoren der Infizierten, so der unterschwellige Tenor.

Der Behauptung zu Grunde liegen die wöchentlich veröffentlichten Corona-Zahlen des CDC. Wer die Zahlen der Behörde näher betrachtet, stellt fest, dass wohl bei sechs Prozent der Verstorbenen einzig eine Corona-Infektion als Todesursache angegeben war. Das bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht, dass die anderen Patienten nicht auch an den Folgen von Covid-19 gestorben sind.

Die US-Experten beziehen sich nämlich auf das Krankheitsbild der „Komorbidität“. Das heißt, die fehlenden 94 Prozent der Patienten hatten entweder zusätzlich zu Covid-19 eine Vorerkrankung oder im Totenschein wurde eine mittelbare Folge der Corona-Infektion – etwa Lungen- oder Herzversagen – angegeben.

Nuancen trotz klarer internationaler Standards

Das Beispiel veranschaulicht nicht nur, wie schnell Fakten verdreht oder zu Halbwahrheiten werden können. Es zeigt vor allem die Schwierigkeit der klinischen Praxis, einen so komplexen Krankheitsverlauf wie bei Covid-19 statistisch einzuordnen. Denn die Grenzen, ob jemand an oder mit Corona gestorben ist, sind fließend.

Der weitaus größte Teil der Patienten stirbt an Corona. Die Virus-Infektion löst dabei eine Kaskade an systemischen Reaktionen aus, an deren Ende der Tod steht.“Dr. Emile Bock, leitender Notarzt der „Hôpitaux Robert Schuman“

Richtig ist allerdings auch, dass die Statistiken der Komplexität nicht immer gerecht werden. Sowohl das CDC als auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordern eine Nuancierung zwischen einem schweren Krankheitsverlauf bei Covid-19 und maßgeblichen Vorerkrankungen bei der Ausstellung des Totenscheins.

Und auch das deutsche „Robert Koch Institut“ erklärt auf seiner Website: „Sowohl Menschen, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben sind („gestorben an“), als auch Personen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren und bei denen sich nicht abschließend nachweisen lässt, was die Todesursache war („gestorben mit“) werden derzeit erfasst.“

Die WHO veröffentlichte bereits im April einen Leitfaden, um die unmittelbaren Todesopfer der Pandemie länderübergreifend einheitlich zu erfassen. Daran orientiert sich auch das „Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten“ (ECDC). Demnach sollen alle in Verbindung mit Covid-19 stehenden Todesfälle als solche deklariert werden – außer es liegt nachweislich eine andere Todesursache vor, etwa bei einem Autounfall oder bei einer Krebserkrankung. Liegen Vorerkrankungen vor, sollen diese ebenfalls auf dem Totenschein vermerkt werden.

Erfahrungen in den Notaufnahmen eindeutig

In der Praxis spielt die Unterscheidung „an oder mit Corona“ derweil eine zweitrangige Rolle. Dr. Emile Bock, Notfallmediziner der „Hôpitaux Robert Schuman“ (HRS), erklärt im Gespräch mit Reporter.lu: „Der weitaus größte Teil der Patienten stirbt an Corona. Die Virus-Infektion löst dabei eine Kaskade an systemischen Reaktionen aus, an deren Ende der Tod steht.“ Der erfahrene Notarzt schätzt, dass weniger als zehn Prozent der Patienten, die positiv auf das Virus getestet wurden und sterben, nicht unmittelbar an den Folgen der Infektion sterben. Zudem würden Patienten, die nicht wegen einem Covid-19-Befund eingeliefert wurden, später aber positiv auf das Virus getestet werden, generell nicht in die Corona-Statistik einfließen.

Ähnliche Erfahrungen hat auch Dr. Jean Reuter, Intensivmediziner im „Centre Hospitalier Luxembourg“ (CHL) gemacht: „Seit Beginn der Pandemie kann ich mich lediglich an einen einzigen Fall erinnern, in dem ein Covid-Patient nicht zweifelsfrei an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben ist. In diesem konkreten Fall erlitt der Patient einen Schlaganfall.“ Doch selbst hier sei nicht abschließend geklärt, dass der Tod des Patienten nicht doch im Zusammenhang mit dem Coronavirus stand. Covid-19 kann, wie man mittlerweile weiß, zu Blutgerinnseln und diese im schlimmsten Fall zu einem tödlichen Schlaganfall führen.

Auf der Covid-19-Station des CHL: Nicht nur für die Mediziner, die tagtäglich mit Covid-Patienten zu tun haben, sind die tödlichen Folgen der Coronavirus-Krankheit unumstritten. (Foto: Leslie Schmit)

Generell lehnen die beiden Mediziner die Debatte über die Nuancen der Todesursachen nicht ab. Sie stören sich aber an der Zweideutigkeit, die die Diskussionen um die Formulierung „mit oder an Corona“ auslösen kann. „Wenn man sagt, dass eine Person mit Corona gestorben ist, kann schnell der Eindruck entstehen, dass die betroffene Person so oder so gestorben wäre. Das stimmt aber nicht“, sagt Dr. Jean Reuter im Interview mit Reporter.lu.

Zur Veranschaulichung macht der Arzt einen Vergleich mit Verkehrsunfällen: „Angenommen eine ältere Person wird von einem Auto angefahren. Die Verletzungen, die sie erleidet, sind nahezu die gleichen, die eine jüngere Person erleiden würde: Ein Polytrauma. Verstirbt sie, würde auch niemand sagen, sie sei aufgrund ihres Alters gestorben, nur weil das Alter in diesem Fall die Heilungschancen verringert und den Tod wahrscheinlicher macht“, so Jean Reuter.

Warten auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse

Für Professor Markus Ollert, Direktor der Immunologie am Luxembourg Institute of Health (LIH) erklärt sich die Formulierung „mit Corona“ gestorben auch durch den begrenzten Erkenntnisstand zu Beginn der Pandemie: „Die Formulierung sollte den behandelnden Medizinern möglichst viel Spielraum lassen. Heute wissen wir zum Beispiel, dass das Virus nicht nur die Lunge angreift, sondern auch einen systemischen Verlauf nehmen kann.“ So gebe es Patienten, die lediglich ein leichtes Kratzen im Hals spürten, bei denen die Infektion jedoch gleichzeitig das kardio-vaskuläre System oder die Nierenfunktion stark angreife, erklärt der Immunologe.

Wenn man sagt, dass eine Person mit Corona gestorben ist, kann schnell der Eindruck entstehen, dass die betroffene Person so oder so gestorben wäre. Das stimmt aber nicht.“Dr. Jean Reuter, Intensivmediziner im CHL

Auch wegen diesen komplexen Krankheitsverläufen, geht der Immunologe davon aus, dass die Covid-19-Sterblichkeit vielleicht nicht über-, sondern noch unterschätzt werden könnte. Die Dunkelziffer der sogenannten Corona-Toten dürfte demnach deutlich höher liegen als momentan angenommen, so die Einschätzung von Markus Ollert.

Den Krankheitsverlauf bei Covid-19, bei dem wesentlich mehr Organe Schaden nehmen können als nur die Lunge, bestätigte im August auch der „Bundesverband Deutscher Pathologen“. Der Verband wertete 154 Obduktionen von Verstorbenen aus, die positiv auf Covid-19 getestet wurden. In 85 Prozent der Fälle konnte „die Covid-19-Erkrankung als wesentliche oder alleinige zum Tode führende Erkrankung dokumentiert werden.“

Die angeführten Obduktionen bestätigten, dass es sich bei Covid-19 nicht ausschließlich um eine Lungenkrankheit handelt. So wurden etwa auch massive Schädigungen der Blutgefäße und eine exzessive Thrombosierung, also die Bildung von Blutgerinnseln, bei den Toten festgestellt. Eine Kernaussage des Berichts lautet demnach: „Bei einem schweren Verlauf sterben die Patienten AN COVID-19.“

Luxemburgs Presse um Vollständigkeit bemüht

Da es keine Eindeutigkeit gibt, stellt die Berichterstattung über die täglichen Corona-Opfer auch die Presse vor eine Herausforderung. Es gilt, den Kompromiss zu finden zwischen Einheitlichkeit und Sorgfaltspflicht. Zu Beginn der Pandemie publizierten die meisten Medien in Luxemburg, die Zahl der Todesopfer als Menschen, die „an Corona“ verstorben seien. Mittlerweile sind mehrere von dieser Formulierung abgerückt. Das gilt etwa für „RTL“, das „Luxemburger Wort“ und „Radio 100,7“, die nun von „an oder mit Covid-19 Verstorbene“ sprechen.

Auch wenn Vorerkrankungen die Überlebenschancen von Covid-19-Patienten definitiv beeinflussen, warnen die Experten aus den Kliniken vor vorschnellen Schlüssen über die Komorbidität. (Foto: Leslie Schmit)

Jean-Claude Franck, Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen „Radio 100,7“, begründet die Änderung mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand. „Wir haben das lange in der Redaktion diskutiert. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der als Corona-Toten gezählten nicht direkt am Virus sterben. Die journalistische Sorgfaltspflicht zwingt uns dazu, dem in unserer Berichterstattung Rechnung zu tragen.“

Keinesfalls wolle man damit jedoch Verschwörungstheoretikern oder Corona-Leugnern eine Grundlage geben, betont Jean-Claude Franck. Es sei jedoch so, dass nur klare Daten zur Übersterblichkeit eine gesicherte Einschätzung der Situation zulassen würden.

Steigende Todeszahlen und Übersterblichkeit

Auch in den Worten des Chefredakteurs schwingt die Überzeugung mit, dass die Terminologie letztlich nicht entscheidend ist. Unabhängig davon, ob jemand an oder mit Corona stirbt: Eine gesicherte Auskunft über die Auswirkungen der Pandemie kann nur die Entwicklung der Sterbefälle insgesamt geben. Nimmt sie im Vergleich zum längerfristigen Mittelwert deutlich zu, spricht man von einer Übersterblichkeit.

Die Debatte schlägt sich natürlich auch im politischen Diskurs nieder. Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) hatte sich im November noch zweideutig über die Todeszahlen in Luxemburg geäußert. Und auch Premierminister Xavier Bettel (DP) brachte in den vergangenen Wochen mehrmals bei Fragen zu den Todeszahlen abstrakt die „Komorbidität“ ins Spiel. Offiziell positioniert sich die Regierung aber deutlicher im Sinne der Luxemburger Experten. In der Begründung zum neuen Lockdown-Gesetz heißt es etwa: „In fine, le nombre de décès est croissant et le Luxemburg se trouve en situation de surmortalité. Le taux de mortalité Covid-19 au Luxembourg est actuellement plus élevé par rapport à celui de l’Allemagne, de la France et de la Belgique.“

Aktuell liegen beim Statistikamt Statec nur Daten zur Übersterblichkeit vor, die bis Oktober 2020 reichen. Schon diese inkompletten Zahlen gehen jedoch von einer leichten Übersterblichkeit aus, wie das Statec feststellte. Gesicherte Zahlen für das gesamte Jahr 2020 werden voraussichtlich erst in den kommenden Wochen veröffentlicht.

Allerdings führen die offiziellen Statistiken allein für den vergangenen November mehr als die Hälfte aller „Corona-Toten“ in Luxemburg bis zu diesem Zeitpunkt auf. Im Dezember kamen nochmals 158 Todesfälle hinzu. Ob mit oder an Corona: Damit dürfte sich die Annahme einer wesentlichen Übersterblichkeit in dieser Pandemie noch weiter bestätigen.