Lesen, schreiben, rechnen: Das lernen Kinder eigentlich in der Schule. Bei Familie Kayser* ist das anders. Sie hat sich vor ein paar Jahren für Hausunterricht und damit ausdrücklich auch gegen Luxemburgs Bildungssystem entschieden – und würde das auch nicht mehr anders machen wollen.

Die Schulbank fällt sofort ins Auge. Nicht nur, weil das alte, massive Möbelstück ein schönes Relikt aus vergangenen Zeiten ist. Auch, weil es ein Sinnbild für das Leben von Familie Kayser* ist.

„Dass wir die Bank hier haben ist eher Zufall. Die stand noch in diesem Haus als wir es vor ein paar Jahren gekauft haben“, erzählt Jeanne. Die Mutter führt durch den Raum. Hinter dem ungewöhnlichen Möbelstück befindet sich eine kleine Sitzecke und die hauseigene Bibliothek. „Die kleine Hexe“, „Eragon“, „Das große Buch der Tierwelt“: Hunderte Titel reihen sich in den Regalen ordentlich aneinander – Belletristik und Sachbücher, Comics und Hörbücher.

Lesen gehört für Familie Kayser zum Alltag. Es ist fast schon mehr Leidenschaft als Hobby – und ein wichtiger Teil des heimischen Schulprogramms. Denn Mutter Jeanne unterrichtet ihre Kinder zu Hause. Von den sechs Kindern sind zwei Söhne an der Universität. Alle anderen machen sogenanntes „Homeschooling“ statt eine klassische Schule zu besuchen.

Die Suche nach einer Alternative

Im Jahr 2010 hat alles angefangen. Als Tochter Lena die dritte Klasse besuchte, fingen Jeanne und ihr Mann Tom an, über Hausunterricht nachzudenken. „Schulische Probleme hatten die Kinder keine. Aber sie hatten auch nie Zeit für andere Sachen, mussten nach der Schule Hausaufgaben machen, fühlten sich unter Druck gesetzt“, sagt Jeanne.

Die Kinder waren unzufrieden. Die Eltern auch. Also musste eine Lösung her. Jeanne und Tom setzten sich hin und lasen das Gesetz zur Schulpflicht in Luxemburg durch, trafen sich mit dem Inspektor der Grundschule, informierten sich über Homeschooling. Und entschieden sich schließlich dafür, ihre Tochter Lena aus der Schule zu nehmen. Geplant waren zwei Jahre – doch es kam anders.

Denn auch Lenas zwei ältere Brüder wollten nach kurzer Zeit nicht mehr zur Schule. „Die Kinder hatten ziemlich schnell entschieden, wie sie lernen wollen“, so Jeanne. Also wurden innerhalb von ein paar Monaten alle Kinder zu Hause unterrichtet.

Bis zu 100 Schüler im Hausunterricht

Wie viele Kinder in Luxemburg Heimunterricht erhalten, ist nicht genau auszumachen. In einer Antwort auf eine parlamentarische Frage aus dem Jahr 2016 spricht Bildungsminister Claude Meisch (DP) von 70 Schülern. Für das laufende Schuljahr würden die Zahlen im ersten Trimester 2019 veröffentlicht, heißt es auf Nachfrage aus dem Ministerium.

Katy Zago von der Association Luxembourgeoise pour la Liberté d’Instruction (ALLI) schätzt, dass etwa 100 Kinder zu Hause unterrichtet werden. Sie sagt, dass vor allem Familien mit kleinen Kindern sich für das Konzept interessieren. „Die Eltern wollen wieder mehr für ihre Kinder da sein“, sagt sie. „Viele stellen charakterliche Veränderungen bei ihren Kleinen fest, wenn sie zur Schule gehen.“ Die Kinder würden sich unwohl fühlen, hätten Bauchschmerzen, würden leiden.

Wenn man erst einmal hinter die Kulissen des Systems schaut, sieht man, was alles schief läuft.“Tom Kayser, Lehrer

All das führe dazu, dass Eltern zumindest mit dem Gedanken an Homeschooling spielen. Der Vorteil für die Kinder ist dabei klar: „Sie können in ihrem eigenen Rhythmus lernen, sind keinem schulischen Druck ausgesetzt und werden nicht in ein starres Bildungssystem gepresst“, so Katy Zago.

Ein Lehrer kämpft gegen das System

Kritik am System übt auch Tom Kayser aus. Und dabei ist er selbst Lehrer. „Viele Lehrer unterrichten ihre Kinder zu Hause“, sagt er. „Wenn man erst einmal hinter die Kulissen des Systems schaut, sieht man, was alles schief läuft.“

Der Druck ist zu groß, der Schulplan zu durchgetaktet, die Schule zu unflexibel: „Man muss den Kindern eine Situation schaffen, in der sie auch lernen wollen“, sagt Tom Kayser. „In der Schule lernen sie aber nicht, sondern sie werden belehrt.“ Ihnen fehle es an Freiheit – und den Lehrern an Zeit, sich auf die einzelnen Schüler richtig einzulassen.

Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, wenn die Eltern auch noch die Rolle des Lehrers übernehmen.“Gilbert Pregno, Psychologe

Trotz seiner Kritik am System bleibt Tom Kayser seinem Job treu. Eher aus pragmatischen Gründen als aus Überzeugung. „Mit einem anderen Job hätte ich wahrscheinlich weniger Zeit für die Kinder“, sagt er. Er habe auch schon darüber nachgedacht, eine eigene Privatschule aufzubauen – viel freie Zeit bliebe dann aber auch nicht mehr.

Dass Tom ein festes und ein gutes Einkommen hat, ist für die achtköpfige Familie wichtig. Jeanne kann es sich mittlerweile nicht leisten, berufstätig zu sein. Sie kümmert sich um das Homeschooling und um den Haushalt. „Bei uns gibt es kein zweites Einkommen. Wir fahren auch nicht in den Skiurlaub und nicht mit dem Flugzeug in die Ferien“, sagt sie. Doch sie weiß, wofür sie die Zeit und Energie investiert. „Kinder zu haben, ist nun einmal ein Full-Time-Job. Wer sich dazu entscheidet, muss sich dessen auch bewusst sein.“

Natürlich sei ihr Alltag manchmal anstrengend und die Tage lang. Aber: „Wir würden es auch nicht mehr anders machen wollen“, so Jeanne.

Die Frage der sozialen Kontakte

Einer, der denkt, dass es anders besser funktioniert, ist Gilbert Pregno. „Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, wenn die Eltern auch noch die Rolle des Lehrers übernehmen“, sagt der Präsident der Menschenrechtskommission. „Eltern zu sein, ist schon eine extrem fordernde Rolle. Wenn man dann auch noch für die Wissensvermittlung verantwortlich ist, wird es schwierig“, so der Psychologe.

Natürlich könne Heimunterricht eine Bereicherung sein. Pregno glaubt aber, dass den Kindern auch etwas verloren geht, wenn sie nur zu Hause unterrichtet werden. „Sie verlieren wichtigen Kontakt zur Außenwelt, den Kontakt zu anderen Kindern.“ Dabei seien diese Kontakte überaus wichtig für ihre Entwicklung.

Alle dachten: Da kommt eine Familie mit ganz vielen Kindern und gehen auch noch nicht zur Schule. Die Menschen waren erst einmal skeptisch.“Jeanne Kayser, Mutter und Hauslehrerin

Für Familie Kayser sind das Vorurteile. Dass es ihren Kindern an sozialen Kontakten fehlt, glauben die Eltern nämlich nicht. Die Kinder sind im Dorforchester, besuchen die regionale Musikschule oder das Konservatorium. „Sie haben sogar sehr viele Kontakte“, sagt Tom.

„Ich glaube nicht daran, dass die Schule so sozial ist, wie immer gesagt wird“, so der Vater weiter. „Im Schulbus müssen die Kinder still nebeneinandersitzen, in der Schule auch – und wenn sie Pech haben, haben sie auch noch einen Banknachbarn, mit dem sie sich gar nicht verstehen.“ Er frage sich eher, was daran überhaupt sozial sei.

Skepsis, Vorurteile und Unkenntnis

Die Familie muss sich häufig für ihre Entscheidung rechtfertigen – und überlegt sich deshalb sehr genau, wem sie vom Homeschooling erzählt. „Unsere Kinder entscheiden selbst, wem sie das anvertrauen und wem nicht“, so Jeanne. Denn es kommt nicht immer gut an. Die Leute stellen Fragen, verstehen die Beweggründe nicht.

„So war es auch, als wir vor ein paar Jahren hier ins Dorf gezogen sind“, sagt Jeanne. „Alle dachten: Da kommt eine Familie mit ganz vielen Kindern und gehen auch noch nicht zur Schule. Die Menschen waren erst einmal skeptisch.“

Auch ihre Sprösslinge begegnen Vorurteilen: „Während die Leute denken, dass ich für das Homeschooling bezahlt werde, hören meine Kinder von anderen, dass sie immer Urlaub haben“, erzählt Jeanne. Das liege vor allem daran, dass die Menschen das Konzept des Homeschooling nicht kennen.

An Prüfungen führt kein Weg vorbei

Zwar muss die Familie sich nicht an einen strengen Stundenplan halten, klare Regeln gibt es dennoch. Spätestens um acht Uhr morgens soll jeder mit dem Frühstücken fertig sein, dann wird gelernt. Die Kinder können lesen, spielen, ein Hörbuch anhören – müssen aber auch mal Vokabeln lernen oder Matheaufgaben machen. „Unser Ziel ist, dass die Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen“, sagt Jeanne. Wie und wie viel Zeit sie dafür brauchen, sei dabei Nebensache.

Denn je weniger Druck auf ihnen lastet, desto besser – davon sind die Eltern überzeugt. „Es ist doch eigentlich egal, ob mein Kind mit sechs oder mit sieben Jahren lesen kann – das steht später niemandem auf der Stirn geschrieben“, sagt Tom. Wichtig sei, dass sie es lernen, und dass sie Freude daran haben.

Trotz der vielen Freiheiten führt für die Kinder kein Weg an Kontrollen vorbei. Laut Gesetz muss jedes Kind in der Grundschule die im Rahmenlehrplan vorgegebenen Kompetenzen erreichen (mehr zur gesetzlichen Lage lesen Sie hier: Homeschooling in Luxemburg: Das sagt das Gesetz). Der zuständige Regionaldirektor führt die entsprechenden Tests durch. Zweimal pro Jahr gibt es ein Treffen mit ihm. Zum Schulbeginn und am Ende des Jahres. Wie die Kinder die vorgeschriebenen Kompetenzen erreichen, ist aber ihnen selbst, beziehungsweise den Hauslehrern überlassen.

Die älteren Geschwister arbeiten mit Programmen des französischen Centre National d’Education à Distance (Cned). Auch bei diesem Programm stehen regelmäßig Prüfungen an. Sie werden via Computer eingereicht. Und im Abschlussjahr müssen die Kinder für ihren „Bac“ nach Frankreich ins Examen. „Es ist also nicht so, als müssten wir uns an gar keine Vorgaben halten“, sagt Jeanne.

Für Rechtfertigungen ist im Alltag der Familie Kayser ohnehin kein Platz. Im Hintergrund klimpert die jüngste Tochter auf dem Klavier, am Wohnzimmertisch liest Tun, der jüngste Sohn, Passagen aus „Der große Felix Weltatlas“ laut vor. Und verdreht das ein oder andere Wort. Mutter Jeanne stellt sich hinter ihn und erklärt ihm, was die Wörter bedeuten, die er vorliest. Irgendwie ist es doch ein bisschen wie in der Schule. Und das liegt nicht nur an der antiken Schulbank.

*Alle Namen der Familie wurden von der Redaktion geändert.

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Zu Hause statt in der Schule lernen: Das sagt das Luxemburger Gesetz