Eine Vormundschaft wird oft als erhebliche Beeinträchtigung und Einschnitt in die Freiheit eines Menschen empfunden. In Luxemburg sind über 4.000 Menschen von dieser Maßnahme betroffen. Doch wie kommt es eigentlich dazu und ab wann ist dieser Schritt notwendig?

Es ist kein Geheimnis: Die hohe Lebenserwartung macht uns alle vergesslicher. Hat man nun ein bestimmtes Dokument unterschrieben und abgeschickt? War man erst gestern auf der Bank oder ist es bereits eine Woche her? Und wo ist eigentlich das ganze Geld hin? Ach ja, da war doch der Bettler an der Straßenecke, der immer so nett zu einem ist. Vermutlich hat man ihm wieder „100 Franken“ gegeben.

Leichtgläubigkeit – ob bedingt durch hohes Alter oder geistige Einschränkung – droht von anderen Menschen ausgenutzt zu werden. Unbedarfte und hilflose Menschen, aber auch jene mit Gedächtnisschwächen, Verwirrtheit, Behinderungen und unterschiedlichen Krankheitsbildern will die Justiz schützen – in letzter Instanz durch die sogenannte Vormundschaft.

Den geistigen Zustand bewerten

4.017 Erwachsene leben in Luxemburg unter einer Vormundschaft. Der Bevormundete behält zwar seine Rechte, darf sie allerdings nicht mehr uneingeschränkt selbst ausüben. Im Klartext: Administrative und finanzielle Entscheidungen treffen sie nicht mehr alleine. Solche Entscheidungen bedürfen neben des Einverständnisses des Vormundes auch – je nach Fall – einer gerichtlichen Verordnung.

Betroffene werden zwar zum Teil entmündigt, ihr Selbstbestimmungsrecht und ihr Wohl soll aber möglichst aufrecht erhalten werden: Es soll stets in ihrem Interesse und nach ihren Vorlieben entschieden werden. So ist es Pflicht, dass sich ihr Vormund nach ihrer Präferenz erkundigt.

Vergangenes Jahr wurden dem Gericht 594 neue Fälle gemeldet, 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Bei 420 Fällen liegt inzwischen ein Urteil vor: Lediglich in 15 Fällen wurde von einer Schutzmaßnahme abgesehen.

Oft wird es allerdings als Einschränkung oder gar als Freiheitsentzug wahrgenommen.“

Doch wer sind die Betroffenen und wie verläuft die Entscheidung über die Vormundschaft?

Bei der Einschätzung der Sachlage werden die Richter vom Service central d’assistance sociale (SCAS) unterstützt. Dieser Abteilung des Justizministeriums wurden vergangenes Jahr 200 Fälle anvertraut. Ihre Gutachten zielen darauf ab, den geistigen Zustand und das Umfeld der Menschen zu ermitteln, um so zu bewerten, ob eine Schutzmaßnahme angemessen ist.

Wird der SCAS eingeschaltet, handelt es sich vorwiegend um Fälle, bei denen es Streitereien und Differenzen innerhalb der Familie gibt oder die zu schützende Person, die angebotene Maßnahme nicht annehmen will.

Der Unterschied zwischen „Tutelle“ und „Curatelle“

In Luxemburg unterscheidet man zwischen „Tutelle“und „Curatelle“, die jeweils die Hälfte der Fälle ausmachen. Im Gegensatz zur „Tutelle“ kann der Betroffene tagtägliche finanzielle Entscheidungen bei einer „Curatelle“ weiterhin selbst treffen und muss sich dafür lediglich beraten lassen.

Schrecklich und demütigend

„Für uns ist es wichtig, dass eine Vormundschaft nicht als Strafe empfunden wird“, erklärt Paul Zens vom SCAS. „Wir sehen es als eine Maßnahme, um den Menschen zu helfen und versuchen unser Bestes, es den Betroffenen auch in diesem Sinne zu erklären. Das ist natürlich schwer.“

Längst nicht immer werden die SCAS-Mitarbeiter mit offenen Armen empfangen. Zwar sind einige Betroffene und ihre Familien über die Unterstützung erleichtert. „Oft wird es allerdings als Einschränkung oder gar als Freiheitsentzug wahrgenommen“, weiß Paul Zens.

Paul Zens vom „Service central d’assistance sociale“ (SCAS). (Foto: Matic Zorman)

Mit den Betroffenen selbst zu reden ist aus nahliegenden Gründen schwer. „Einige empfinden es schrecklich oder demütigend, dass das Gericht sich einschaltet“, sagt Zens. Und ganz verdenken kann der Sozialarbeiter es den Menschen nicht: Für die Betroffenen bedeutet die Maßnahme nämlich stets ein Einschnitt in ihre Autonomie.

Das Abwägen von Risiken

Wie aus dem Tätigkeitsbericht des SCAS hervorgeht, sind fast die Hälfte der betroffenen Personen über 80 Jahre alt. 70 Prozent sind über 60. Unter ihnen leiden rund 40 Prozent an einer Demenzerkrankung. Dabei gilt es zu beachten, dass diese Zahlen lediglich die 200 vom SCAS behandelten Fälle umfassen. Sind sich die zu schützende Person und ihre Familie über die Angemessenheit der Maßnahme einig und bei schweren Fällen von geistiger Behinderung werden keine soziale Gutachten beauftragt. In diesen Fällen obliegt es dem Vormundschaftsrichter, sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Die vier spezialisierten Richter im Land haben allerdings eine hohe Anzahl von Anträgen zu bewältigen. Vergangenes Jahr mussten insgesamt für die über 4.000 Betroffenen 1.699 gerichtliche Verordnungen gesprochen werden, also mehr als vier am Tag.

Wer wird zum Vormund ernannt?

Der SCAS empfiehlt es dem Richter in mehr als der Hälfte der Fälle spezialisierte Dienste wie den „Service d’Accompagnement tutélaire“ mit der Vormundschaft zu beauftragen. In jedem vierten Fall wird ein Vormund aus dem Angehörigenkreis empfohlen. Anwälte und Treuhänder werden unter anderem bei jenen Menschen als Vormund vorgeschlagen, die keine Angehörigen mehr haben oder mit diesen nicht klarkommen. Beim Ernennen des Vormundes muss einem möglichen Ausnutzen der Schwäche stets ein besonderes Augemerk zukommen. 2017 wurde bekanntlich gar ein Vormundschaftsrichter seines Amtes enthoben und später verurteilt, weil er irreguläre Beziehungen zu einer Schutzbefohlenen unterhielt.

Wie Paul Zens beschreibt, legen die SCAS-Mitarbeiter viel Wert auf den „menschlichen Kontakt“. Wie nimmt eine zu schützende Person alltägliche Aufgaben wahr? Wie ist ihr Urteilsvermögen? Wie schildern Neurologen und Psychiater ihren Zustand? Dabei betont der Experte: „Das altersbedingte Nachlassen der mentalen Fähigkeiten reicht nicht immer aus, um jemanden unter Vormundschaft zu stellen.“ In diesem Bereich geht es um das Abwägen von Risiken.

Eindeutig zu bewertende Situationen sind indes die Ausnahme. „Demente Menschen verkaufen sich zum Teil sehr gut. Sie reden manchmal kohärent. Je länger und öfter man mit ihnen redet, desto mehr merkt man, dass sie einigen Fragen ganz bewusst ausweichen oder ihre Kurzzeitgedächtnisschwächen mit Anekdoten überspielen“, sagt der Sozialarbeiter. Dann etwa, wenn aus 100 Franken plötzlich 100 Euro werden.

Missbrauch von Schwäche

Auch mitunter aufwendige Nachforschungen stehen für die Sozialarbeiter häufig an der Tagesordnung. Dann etwa, wenn die Betroffenen und ihre Familienmitglieder nicht bereitwillig kooperieren oder die Familienverhältnisse von Machtspielen geprägt sind.

„Es gibt Fälle, in denen ein Familienmitglied eine Vormundschaft beantragt, weil er oder sie das Elternhaus verkaufen und einen Teil ihrer Erbschaft kassieren möchte“, gibt Paul Zens offen zu. Dabei betont er: Eine Vormundschaft darf keineswegs mit einer Maßnahme zum Erhalt der materiellen und finanziellen Erbschaft verwechselt werden. So stehen stets die Interessen des zu Schützenden im Mittelpunkt. Verkauft wird sein oder ihr Haus nur selten – etwa wenn der Betroffene im Seniorenheim lebt und der Unterhalt seiner Immobilie hohe Kosten beansprucht. An ihre Erbschaft kommen die Nachfahren dennoch nicht: Der Ertrag eines Verkaufs wird stets zugunsten der geschützten Person festgesetzt.

Wir denken, dass es in dem Bereich eine hohe Dunkelziffer gibt.“

In seinem Bericht an den Richter warnte der SCAS vergangenes Jahr zudem 13 Mal vor einem möglichen Verdacht auf Missbrauch einer Notsituation, einem „abus de faiblesse“ – also in 6,5 Prozent der Fälle. Etwa dann, wenn Fremde oder sogar Leute aus dem direkten Umfeld von der Gutgläubigkeit oder den ungleichen Kräfteverhältnissen profitieren möchten, um sich Vorteile zu verschaffen. Von Geldzuwendungen bis hin zum Wohnungskauf unter Wert ist die Rede.

„Ich finde diese Zahl der Fälle mit Verdacht auf Missbrauch zu hoch. Generell sind wir beim SCAS der Auffassung, dass es sich dabei vermutlich nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Es gibt wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer.“ Der SCAS kann einen Missbrauch von Schwäche verständlicherweise nur in jenen Fällen melden, in denen er in der Tat eine soziale Untersuchung durchführt. Wie viele dieser Meldungen bisher Verurteilungen nach sich zogen, war nicht in Erfahrung zu bringen.

Psychisch krank und unberechenbar

Die Vormundschaft ist unterdessen nicht in allen Fällen nötig. „Wir gehen davon aus, dass viele Senioren ihren Kindern eine Vollmacht („Procuration“) erteilt haben, und so funktionieren, ohne dass eine Vormundschaft nötig ist“, so Zens,  der seit über zehn Jahren im Bereich der Vormundschaft tätig ist.  Er selbst schätzt es als positiv ein, wenn innerhalb der Familie ein solches Vertrauensverhältnis besteht und alltägliche Ausgaben und Entscheidungen über eine Vollmacht geregelt werden können. Die Grenzen der Vollmacht sind allerdings eindeutig ausgelegt: Spätestens bei einem Hausverkauf muss der Notar eingeschaltet werden. Dann ist die Vormundschaft ein Muss.

Unausweichlich ist eine Vormundschaft oft bei psychisch kranken Menschen, bei denen die Krankheit stark ausgeprägt ist. Die Zahl dieser Fälle hat laut SCAS in den vergangenen Jahren zugenommen. Oft sind die Betroffenen unberechenbar, ihr Zustand ist von der regelmäßigen Medikamenteneinnahme abhängig. In diesen Fällen ist eines der Ziele, einen Lebensplan aufzustellen, um die soziale Integration zu fördern und sie vor der Abschottung zu schützen. Des Weiteren ist eine Vormundschaft oft bei Suchtverhalten, darunter Alkohol- , Spiel und Verschwendungssucht, angebracht. Jede sechste Person in der SCAS-Statistik war 2017 jünger als 40 Jahre.