Mehrsprachigkeit ist für die meisten Luxemburger eine Normalität. Doch auch sie erleben oft das Phänomen der „Sprachattrition“ – also den Vorgang, dass beim dauerhaften Benutzen anderer Sprachen langsam die Muttersprache verblasst.
Fast jeder, der mehr als eine Sprache spricht – und das sind in Luxemburg die meisten Menschen – kennt es. Das Wort, das man sucht, fällt einem einfach nicht ein. Vielleicht kommt man sogar schneller in einer anderen Sprache darauf. Und tatsächlich passiert das Menschen auch in ihrer Muttersprache. Man kann das leicht als Vergesslichkeit abtun, oder dem Älterwerden dafür die Schuld geben.
Doch dieser Vorgang ist ein von der Wissenschaft mit Hunderten Studien dokumentiertes Phänomen, das sich Sprachattrition nennt, wörtlich heißt das „Sprachabbau“. Monika Schmid ist Professorin für Linguistik an der University of Essex in Großbritannien und forscht hierzu. Sie definiert Sprachattrition folgendermaßen: „Wenn man in einer Sprache bestimmte Dinge nicht mehr so gut ausführen kann wie vorher, Fehler macht, Wortfindungsschwierigkeiten hat oder eine andere Sprache dazwischen funkt, spricht man von Sprachattrition. Es tritt auf, wenn man die Sprache weniger benutzt.“
Die Forschung ist gespalten, wenn es darum geht, das Phänomen der Attrition auf die Muttersprache einzugrenzen. Manche Forscher sagen, es sei auch Attrition, wenn es sich um eine andere Sprache handelt, die man erlernt und danach nicht mehr benutzt hat.
Muttersprache lässt sich schwer ganz vergessen
Die meiste Forschung gibt es im Bereich der Muttersprachenattrition bei Expats (Menschen, die vorübergehend oder dauerhaft ihren Wohnsitz in einem anderen Land haben) und bilingualen Menschen, die ihre Muttersprache gar nicht mehr oder wenig im Alltag sprechen. Dabei werden die unterschiedlichsten Parameter erforscht: Die frei gesprochene Sprache oder der Wortschatz, die grammatische Korrektheit, der Akzent. In diesen Studien müssen Teilnehmer Dinge benennen, Urteile über die Grammatik fällen; woanders zeigen Elektroenzephalografien wie das Gehirn reagiert, wenn man einen fehlerhaften Satz hört.
Sprachattrition existiert auf einem Spektrum. Ein Wort in seiner Muttersprache zu vergessen, gehört genauso dazu wie die lange Reaktivierung, die manchmal nötig ist, um die Sprache überhaupt wieder fließend zu sprechen. Der Prozess ist der gleiche, er ist nur unterschiedlich ausgeprägt.
In der Pubertät stabilisiert sich im Sprachzentrum des Gehirns einiges. Völlig vergessen kann man die Muttersprache danach nicht mehr.“Monika Schmid, Sprachforscherin
Allgemein geht die Forschung davon aus, dass die Muttersprache so tief in uns verankert ist, dass so etwas wie Sprachattrition nicht möglich ist. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch, sagt Monika Schmid. „In der Pubertät stabilisiert sich im Sprachzentrum des Gehirns einiges. Völlig vergessen kann man die Muttersprache danach nicht mehr, so, dass man sie nicht mehr verstehen würde oder selber sprechen könnte.“ Bei Kindern ist das anders, sie können Sprachen völlig vergessen, wenn sie in einem anderen Umfeld aufwachsen und die Sprache nicht mehr benutzen.
Bei Erwachsenen entstehen vielleicht Blockaden, wenn sie ihre Muttersprache lange nicht mehr gesprochen haben. Im Prinzip sei aber alles noch da.
Wenn Sprachen und Wortschätze sich vermischen
Strukturell sind Sprachen, die man lernt, mehr oder weniger identisch. Im Gehirn werden die Wörter, die Grammatik und Laute der Sprachen als Netzwerke abgespeichert, und das relativ dicht beieinander. Je mehr man eine Sprache spricht, desto mehr ist das neuronale Netzwerk eingeschliffen. Die Sprachnetzwerke stehen in Konkurrenz miteinander und überlagern sich auch mal. Genau das passiert, wenn eine Sprache aus Versehen dazwischen funkt.
Die Attritionsprobleme entstehen auch durch das, was man in der Sprachwissenschaft „Online“- und „Offline“-Wissen nennt. Das Online-Wissen besteht aus Ressourcen, die man gerade derzeit produziert und braucht, das Offline-Wissen hingegen speichert Sprachinformationen langfristig. An diese Informationen mit der gleichen Geschwindigkeit heranzukommen, kann schwierig sein, wenn man es nicht mehr gewohnt ist. Als die Tennissportlerin Steffi Graf 2007 den Deutschen Medienpreis bekam, entschuldigte sie sich mehrmals und sagte, sie würde um Worte ringen, ihr Deutsch sei nicht mehr so fließend, wie es einmal war. Sie wohnt seit Jahrzehnten in den USA.
Traumata begünstigen den Abbau der Muttersprache
Der Ort, an dem jemand lebt, ist ein wichtiger Faktor für Sprachattrition. Ist man weniger von seiner Muttersprache umgeben, spricht man sie nicht mehr im Alltag, kann das die Attrition begünstigen. Monika Schmids Forschung deutet jedoch auch auf andere Umstände hin, die den Verlust der Muttersprache beschleunigen. In einer von ihr durchgeführten Studie wurden deutsche jüdische Flüchtlinge, die in die USA und nach Großbritannien ausgewandert sind, zu ihrer Sprachkenntnis der deutschen Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg befragt.
Dafür hat Schmid die Menschen in drei Gruppen aufgeteilt, danach, zu welchem Zeitpunkt sie aus Deutschland geflüchtet sind. Die erste Phase war von der Machtübernahme bis zu den Nürnberger Gesetzen (1933 – 1935), die zweite spannte die Zeit zwischen den Nürnberger Gesetzen und der Kristallnacht (1935 – 1938), die dritte die Jahre zwischen der Pogroms-Nacht und dem Ausbruch des Krieges (1938- 1939). In der vierten Phase war eine Ausreise kaum mehr möglich.
„Als ich die Gruppen verglichen habe, wurde deutlich, dass die spätere Ausreise den Verlust der Sprache begünstigte. Je später die Menschen ausgereist waren, desto mehr war die Sprache später zurückgegangen. Diese Menschen hatten schlimmere Traumata erlebt.“ Unsere Psychologie und Identität, unsere Biografie und kollektive Geschichte sind unweigerlich mit unserem Spracherleben und somit auch mit Attrition verwoben.
Was zuletzt erlernt wird, wird oft zuerst vergessen
Sprachattrition ist auch veränderbar. „Wenn jemand drei Wochen in seine Heimat fährt und seine Muttersprache dort jeden Tag spricht, kann die Attrition viel schwächer werden“, sagt Monika Schmid. Auf diese Weise grenzt sich das Phänomen auch von der Demenz ab. Bei Demenz-Patienten ist die Gehirnfunktion physisch beeinträchtigt, bei der Sprachattrition sind die Wissensnetzwerke jedoch völlig intakt, das falsche wird lediglich aktiviert.
Manche Menschen sind seit 40, 60 Jahren im Ausland und sprechen die Sprache trotzdem immer noch perfekt, wenn auch auf etwas veraltete Weise.“Merel Keijzer, Linguistin
Merel Keijzer, Professorin für Linguistik an der Universität Groningen, forscht zu Psycholinguistik, der Verbindung zwischen linguistischem Verhalten und psychologischen Prozessen, zum Beispiel dem Spracherwerb. In einer Studie hat sie die Sprachattrition von holländisch-sprechenden Auswanderern in Kanada examiniert. Genauer hat sie versucht herauszufinden, ob die schwierigsten Sprachkonstruktionen, die holländische Passivkonstruktion zum Beispiel, auch am frühesten von Sprachattrition beeinträchtigt werden. Diese „Last in, first out“-Hypothese hat sich in Merel Keijzers Forschung bestätigt; das, was die Kinder als letztes in ihrem Spracherwerb lernten, war später das erste, was schwieriger zu aktivieren war.
In ihrer Forschung fand sie ebenfalls, dass der Zeitraum, den die Holländer in Kanada verbracht haben, nicht unbedingt einen Einfluss auf die Sprachattrition hat. „Manche Menschen sind seit 40, 60 Jahren im Ausland und sprechen die Sprache trotzdem immer noch perfekt, wenn auch auf etwas veraltete Weise“, sagt Merel Keijzer. Einen ausschlaggebenden Grund dafür konnte Keijzer nicht finden, eher eine Reihe an Faktoren. Motivation spiele eine große Rolle, aber auch ein holländisch-sprechender Ehepartner sei an der Spracherhaltung beteiligt.
„Man passt sich sprachlich an sein Umfeld an“
Sprachfrequenz allein wahrt nicht vor Sprachattrition. „Wir haben festgestellt, dass in zwei Gruppen am meisten sprachliche Veränderung auftrat: bei denjenigen, die die Muttersprache am meisten und am wenigsten sprechen“, sagt Monika Schmid. Die Menschen die sie nicht übermäßig viel sprachen, schienen am stabilsten. Die Sprache viel zu sprechen, heißt also nicht zwangsläufig, sie besser „in Stand zu halten“.
Wenn man etwa mit anderen „Expats“ in Großbritannien Deutsch spricht, kann es sein, dass man deren Fehler und Spracheigenarten annimmt, wenn sie zum Beispiel Fremdwörter einbauen. „Man passt sich sprachlich an sein Umfeld an“, sagt Schmid. Sie würde dennoch niemandem davon abraten, seine Sprache so zu sprechen. Nur sei es fraglich, ob das bloße Sprechen in diesem Kontext die Muttersprache erhalten würde.
Mehrsprachigkeit wird heutzutage als Stärke angesehen. Aufzeichnungen belegen, dass es schon lange auf der Welt vielerorts die Norm war, mehrere Sprachen zu sprechen, sagt Monika Schmid. Insofern wird es Sprachattrition immer schon gegeben haben. Die Globalisierung und die damit einhergehende Mobilität stellen die Weichen dafür, dass auch in Zukunft immer mehr Menschen einen Moment nach einem Wort in ihrer Muttersprache suchen müssen.