Gleich mehrere EU-Staaten kämpfen zur Zeit mit massiven Ausbrüchen der Masern, denn immer weniger Menschen lassen sich impfen. In Luxemburg besteht allerdings bisher nur für Asylsuchende eine Impfpflicht. Eine Geschichte voller Widersprüche.

Masern. Sie gelten eigentlich als harmlose Kinderkrankheit, gegen die die Kleinen meistens ohnehin geimpft werden – nicht aber als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. Und doch stehen die Alarmzeichen innerhalb der EU auf Rot. Denn die Masernfälle nehmen in den meisten Mitgliedsstaaten rasant zu:  Allein letztes Jahr wurden über 16.000 Fälle gemeldet, die meisten in Deutschland, Griechenland, Italien und Rumänien. Hinzu kommt: Masern sind eben keine harmlose Kinderkrankheit, wie zahlreiche Kampagnen quer durch die EU verzweifelt versuchen deutlich zu machen. 2017 forderte die Krankheit 37 Todesopfer. Erst im Februar ist in Frankreich eine Frau in Folge der Infektion gestorben. Sie war nicht geimpft.

Die Lösung scheint also einfach: Einmal Luft holen, ein kleiner Pieks, ein Pflaster und schon ist man immun. Und genau da liegt die Krux. Die Impfraten gehen in Europa konstant zurück. So sehr, dass sogar EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union 2017 das Problem benannt hat: Es könne nicht sein, dass Kinder an Krankheiten sterben, die eigentlich ausgerottet sein müssten. Oder dass eigentlich ausgerottete Krankheiten wieder auftreten. Luxemburgs Gesundheitsministerin Lydia Mutsch (LSAP) teilt die Bedenken. „Es bricht mir das Herz, dass kleine Kinder sterben, obwohl es ein Heilmittel gibt“, bedauert sie im Gespräch mit REPORTER.

Zunehmende Skepsis

„Impfungen helfen. Das ist so eindeutig, wie die Tatsache, dass die Erde sich um die Sonne dreht“, betonte EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis kürzlich vor versammelter Presse. Doch genau das scheinen immer mehr Menschen zu bezweifeln. In Frankreich sorgte die Erweiterung der Impfpflicht für lautstarke Kritik. In Italien wurde die Impfpflicht bei den diesjährigen Parlamentswahlen gar zu einem Wahlkampfthema. Während das Thema so von Populisten politisiert wird – von Marine Le Pen über Donald Trump bis zu Italiens Fünf-Sterne-Partei – zieht sich die zunehmende Impfskepsis aber durch alle Bevölkerungsschichten.

Auch Luxemburg ist davon nicht ausgenommen. Zwar kämpft das Großherzogtum nicht mit einer Masernplage, doch die Diskussion wird hitziger. Die staatlichen Stellen führten dieses Jahr eine deutlich energischere Impfkampagne durch. Gleichzeitig gehen Impfgegner sehr militant vor und verteilen ihre Flyer und Broschüren sogar in Entbindungsstationen. „Die Menschen werden skeptischer und wollen mehr und mehr mit eingebunden werden“, bestätigt Lydia Mutsch.

Musterbeispiel für Falschinformationen

Es gibt mehrere Gründe für das wachsende Misstrauen. Eine der Hauptursachen sind sicherlich die vielen Mythen und Fehlinformationen, die sich vor allem in sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreiten, erklärt der Generaldirektor des EU-Kommissariats für Gesundheit, Xavier Prats Monné. Für ihn sind Impfmythen ein Musterbeispiel der sogenannten ‚Fake News’-Problematik. „Wenn ich bei Google ‚Impfschaden‘ tippe dann stoße ich etwa zu erst auf ein Bild eines gesunden Mädchens vor und eines kranken Mädchens nach der Impfung. Ob die Bilder echt sind, ob es eine Korrelation gibt oder wie selten Komplikationen sind, sagt mir dann niemand“, sagt Prats-Monné im Gespräch mit REPORTER.

Mit den Krankheiten ist auch das Bewusstsein dafür verschwunden, wie wichtig Impfungen sind.“Xavier Prats-Monné

Er zitiert Mark Twain: „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.“ Ein Beispiel: Noch heute hält sich das Gerücht hartnäckig, dass es einen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus gibt. Die Annahme beruht auf einer Studie des britischen Arztes Andrew Wakefield – die sich bereits vor Jahren als fehlerhaft herausstellte. Wakefield darf in Großbritannien nicht einmal mehr praktizieren. Heute verbreitet er seine Theorien dafür in den Vereinigten Staaten und berät den US-Präsidenten Donald Trump – ein gefährliches Spiel.

„Ein Akt der Solidarität“

Dass heute so viele Menschen an Impfungen zweifeln, hat paradoxerweise auch mit dem Erfolg der Impfungen zu tun. Früher sind hunderttausende Menschen an Infektionskrankheiten gestorben, die heute dank des Impfens entweder verschwunden sind oder banal scheinen. „Mit den Krankheiten ist auch das Bewusstsein dafür verschwunden, wie wichtig Impfungen sind“, bedauert Xavier Prats-Monné. Heute überwiegt die Angst vor etwaigen Risiken und Nebenwirkungen. „Wir müssen deshalb mit Transparenz, fachkundigen Erklärungen und wissenschaftlichen Fakten kontern“, unterstreicht der Gesundheits-Generaldirektor. Die Verantwortung dazu liege sowohl bei den Behörden, wie bei Forschern und medizinischem Fachpersonal und nicht zuletzt bei den Medien. „Unterm Strich geht es um die Frage, ob man an die Wissenschaft glaubt oder nicht.“

Denn ob impfen oder nicht sei nicht nur eine individuelle Entscheidung, betont Prats-Monné und verweist auf die sogenannte Herdenimmunität. Röteln  etwa stellen für einen 20-Jährigen kein Problem dar, doch wenn er sich in der Nähe einer schwangeren Frau aufhält, könnte dies das Ungeborene gefährden. Die Minderheit ist demnach geschützt, weil die Mehrheit geimpft ist. „Impfen ist ein Akt der Solidarität“, fasst Prats-Monné zusammen.

Letztliche Verantwortung liegt bei den Ländern

Das Problem der fallenden Impfraten versucht die EU-Kommission nun mit Hilfe einer Empfehlung des Rates zu entschärfen. Diese ruft Mitgliedsstaaten zum Beispiel zu einer besseren Aufklärung ihrer Bürger auf, schlägt gemeinsame Impfkarten und einen europäischen Impfplan vor und will die Gesundheitsfachkräfte stärker mit einbinden. Darüber hinaus sollen Mitgliedsstaaten besser zusammenarbeiten.

So soll auch ein EU-weites System zur Überprüfung und Koordination von Impfbestände geschaffen werden. Denn während die Masernausbrüche etwa in Italien auf eine hohe Impfskepsis zurückzuführen sind, ist in Rumänien der Mangel an Impfstoffen ein dringendes Problem. Könne man Angebot und Nachfrage besser koordinieren, hätten die Menschen einen gleicheren Zugriff zu Impfungen und die Behörden könnten bei Epidemien schneller handeln, hofft Prats-Monné. Auch der Begriff ‚Desinformation’ kommt im Kommissionstext vor. So soll eine gemeinsame Online-Plattform die Menschen besser über Impfungen aufklären und für mehr Transparenz sorgen.

Mit Hilfe der empfohlenen Maßnahmen will die EU die OECD-Impfempfehlungen bis 2020 erfüllen. Für Masern soll eine Impfquote von 95 Prozent erreicht werden. Diese Rate muss laut dem Europäischen Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten erreicht sein, damit die EU als „masernfrei“ gilt. In Italien lag die Impfrate bei Kindern 2015 bei 78 Prozent. Luxemburg steht besser da: Hier waren es 99 Prozent.

In Spanien hat ein Kinderarzt pro Patient vielleicht drei Minuten, da kann er nicht noch beiläufig den Impfpass prüfen.“Xavier Prats-Monné

Letztlich liege die Verantwortung zu Handeln aber bei den Mitgliedsstaaten, so Prats-Monné. „Wir können nur Anreize liefern.“ Denn die Kommission hat in Gesundheitsfragen keine rechtliche Kompetenz „und jetzt ist auch nicht die Zeit, in der die EU die Mitglieder herumkommandieren sollte.“ Angesichts des Ausmaßes des Problems wären aber die meisten mit im Boot, meint der Generaldirektor.

Ministerin schließt Impfpflicht nicht aus

Luxemburg gehört dazu. Wie die Gesundheitsministerin gegenüber REPORTER betont, könne das Großherzogtum als positives Beispiel dienen und anderen Ländern Denkanstöße geben. „Bei uns wird immer wieder auf die Wichtigkeit von Impfungen hingewiesen, ob in Schulen oder beim Kinderarzt“, so Mutsch. Das hat zum Teil sicherlich mit der guten wirtschaftlichen Lage des Landes zu tun. Zum einen stehen genug Mittel zur Verfügung um die Impfstoffe zu beschaffen, zum anderen haben Ärzte und Kinderärzte in der Regel genug Zeit ihre Patienten aufzuklären. „In Spanien hat ein Kinderarzt pro Patient vielleicht drei Minuten, da kann er nicht noch beiläufig den Impfpass prüfen“, sagt der Katalane Prats-Monné.

In der Vergangenheit konnte Luxemburg mit guten Impfquoten glänzen. Zum Glück – denn Impfen ist eine freiwillige Entscheidung: Weder öffentliche Schulen, Kindergärten oder andere öffentliche Einrichtungen können ein Kind abweisen, weil es nicht grundimmunisiert ist. Anders sieht es bei privaten Betreuungseinrichtungen aus, die zum Teil geimpfte Kinder bevorzugen, bzw. nicht geimpfte Kinder von ihrem Angebot ausschließen und diesbezüglich ihre eigenen Reglungen aufstellen dürfen.

Aufgrund der mangelnden Impfpflicht könnte eine niedrige Impfrate ganz schnell zum unkontrollierbaren Schneeball-Effekt führen. Das weiß auch die Gesundheitsministerin. Sie schließt eine Einführung der Impfpflicht in Luxemburg nicht kategorisch aus. „Fallen unsere Impfraten, dann muss die Debatte geführt werden“. Eine entsprechende Studie würde zur Zeit ausgewertet, so Mutsch. Die Ergebnisse seien Ende 2018 zu erwarten – also nach den Wahlen.

Asylsuchende werden in Luxemburg bei ihrer Ankunft geimpft

Während unklar ist, ob das Ressort zu dem Zeitpunkt noch Lydia Mutsch unterstehen wird, hat die aktuelle Praxis einen großen Haken. Es wurde eine Bevölkerungsgruppe herausgefiltert für die das Impfen nicht freiwillige Entscheidung, sondern Pflicht ist: Flüchtlinge. In Luxemburg werden alle Asylsuchende („demandeurs de protection internationale“) geimpft.

Bei der Gesundheitsinspektion wird der Impfstatus systematisch überprüft und alle ausstehenden Impfungen nachgeholt, teils direkt vor Ort, bestätigt das Gesundheitsministerium. Für alle, die vor 1970 geboren, sind das Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten und Polio. Bei jenen, die später geboren sind, kommen Masern, Röteln, Windpocken und Mumps hinzu. „Die meisten sind dankbar und freuen sich – denn wo sie herkommen ist die Gesundheitsversorgung teils desolat“, sagt Mutsch.

Doch so trivial ist die Praxis nicht. Denn wie der EU-Kommissar für Gesundheit Vytenis Andriukaitis auf Nachfrage betont, gäbe es keine stichfesten Beweise dafür, dass Flüchtlinge die Infektionsraten nach oben treiben. Wieso also gerade diesen Menschen ihre Entscheidungsfreiheit nehmen? Die EU-Kommission begrüßt das nicht. Xavier Prats-Monné kritisiert, sich gezielt auf Migranten zu konzentrieren, sei unangebracht. Im Kommissionsvorschlag käme der Begriff deswegen gar nicht erst vor. „Und der beste Schutz ist auch hier gegeben, wenn der Rest der Bevölkerung geimpft ist. Das Ziel muss sein, insgesamt höhere Impfquoten zu erreichen.“

Es ist mehr als fragwürdig, ob es der beste Ansatz ist, Flüchtlinge in dieser Frage auszusondern und sich Luxemburg damit als ‚gutes Beispiel’ profilieren kann.