Das neue Schuljahr soll trotz Pandemie so normal wie möglich verlaufen. Der Schutz gefährdeter Schüler geht dabei über bloßen Infektionsschutz hinaus. Wegen Lerndefiziten und emotionaler Belastung warnen Experten vor langfristigen psychischen und sozialen Folgen.
Protest ist angesagt: Die Gewerkschaften aus dem Erziehungsbereich versammeln sich heute Nachmittag vor dem Bildungsministerium, um zu demonstrieren. Sie wehren sich gegen eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Gegen die für sie nicht existierende Dialogbereitschaft des Ministeriums. Gegen die in ihren Augen geringe Wertschätzung ihres Berufstandes. Und dagegen, dass viele von ihnen bei der Vorbereitung des diesjährigen Schulbeginns einfach vergessen wurden.
Wie sonst sei es zu erklären, dass das Personal aus den Kompetenzzentren keine Einladung vom Ministerium bekommen habe, um sich vor Schulbeginn auf Covid-19 testen zu lassen, fragt Claudine Muller. Die Logopädin ist Sekretärin des SPEBS, der Gewerkschaft für Personal, das sich um Kinder mit speziellen Bedürfnissen kümmert. „Wenn sie uns vergessen, vergessen sie auch unsere Kinder“, sagt Claudine Muller. Sie findet es „gesellschaftlich ganz dramatisch“, wenn eine Pandemie reicht, „um den Inklusionsgedanken völlig zu vergessen“.
Sanitäre Krise und pädagogische Bedenken
„Wir sollen jetzt im Fall einer Infektion das Contact Tracing übernehmen und unsere psychologische Arbeit hinten anstellen“, kritisiert auch Patrick Reeff, Präsident der APPSAS (Association du Personnel du Centre et des Services psycho-sociaux et d’accompagnement scolaires). Er bezieht sich auf einen Brief aus dem Bildungsministerium, der die Zusammensetzung und Aufgaben der „Cellule COVID-19“, die in jeder Schuleinrichtung eingerichtet werden soll, definiert. „Herr Meisch hat kein Interesse an sozialpsychologischer Arbeit“, so Patrick Reeff.
Dabei befürchtet der Psychologe aus dem Athénée, dass viele Probleme und Erfahrungen aus dem Lockdown erst in den nächsten Monaten aufgespürt werden können: „Viele Schüler werden erst jetzt anfangen, überhaupt zu reden“, sagt er. „Wir werden vor Ort gebraucht“.
Schule ist kein Ort des Risikos, sondern ein gesunder Ort.“Claudine Kirsch, Forscherin
Auch andere Experten sind sich einig: „Das wirkliche Risiko der Epidemie sind für Kinder die sozialpsychologischen Folgen“, schreibt etwa die Vereinigung der Kinderärzte Frankreichs in ihrem Monatsmagazin. Die Verfasser halten ein Plädoyer für offene Schulen, also ohne Maskenpflicht und ohne andere strikte Sicherheitsmaßnahmen. Regelmäßiges Händewaschen müsse ausreichen, heißt es. Die Ansteckungsgefahr stehe in keinem Verhältnis zu den Gefahren psychosozialer Schäden der Kinder und Jugendlichen.
Sehnsucht nach neuem Sicherheitsgefühl
„Wir wissen noch gar nicht, was da an psychosozialen Schäden alles auf uns zukommt“, sagt auch Claudine Kirsch. Die Forscherin der Universität Luxemburg leitet die Studie „Covid-Kids“ und hat im Mai und Juni über 3.000 Kinder, davon 739 aus Luxemburg, per Fragebogen interviewt. Die Kinder waren zwischen sechs und 16 Jahre alt und beantworteten etwa 30 Minuten lang 60 Fragen. „Ich bin erstaunt, wie viele Kinder ganz klar gesagt haben, dass es ihnen wegen der Pandemie nicht gut geht“, sagt Claudine Kirsch und zitiert die befragten Kinder und Jugendlichen:
„Mein Tag ist nicht geordnet. Mein Leben ist langweilig. Ich vermisse meine Freunde. Ich fühle mich wie im Käfig. Ich hasse Masken. Meine Familie streitet viel mehr. Meine Eltern sind total gestresst. Ich habe Angst, dass meine Großeltern krank werden. Ich habe Angst vor dem Tod. Corona kann töten.“
„Es ist an der Zeit, dass wir unseren Kindern wieder ein Sicherheitsgefühl vermitteln“, sagt Claudine Kirsch. „Schule ist kein Ort des Risikos, sondern ein gesunder Ort“, so die Forscherin. Die aktuelle Situation verschärfe allerdings die Dringlichkeit, psychosoziale und sonderpädagogische Arbeit stärker zu unterstützen. Hierzu gehöre auch, schulische und außerschulische Betreuung besser miteinander zu verbinden.
Individuelle Lösungen sind gefragt
Besonderen Schutz brauchen Kinder, die selbst zu einer Risikogruppe gehören oder mit gefährdeten Personen in einem Haushalt leben. „Hier müssen wir individuelle Lösungen finden“, sagt Francine Vanolst, Abteilungsleiterin im Erziehungsministerium. Kinder mit ärztlichem Attest können zu Hause bleiben und per Fernunterricht lernen oder aber es werden Mischlösungen gefunden. Auch wenn endgültige Zahlen noch nicht vorliegen, seien es „deutlich weniger Kinder als noch im Mai“, die auch tatsächlich zu Hause blieben. „Wir wissen heute mehr über das Virus“, so die Abteilungsleiterin. „Das lässt auch Eltern die Situation besser abwägen“.
„Uns liegen 20 Anfragen vor, Kinder per Fernunterricht zu betreuen“, sagt die zuständige Schöffin Colette Mart der Stadt Luxemburg auf Nachfrage von REPORTER. Im Mai seien es immerhin noch 80 Kinder gewesen, die der Schule nach dem Lockdown ferngeblieben waren, so die DP-Politikerin über die Situation in der Hauptstadt.
In Düdelingen gibt es etwa 3.000 Schulkinder, laut der Regionaldirektion gelten davon weniger als zehn als gefährdet. Es müssen demnach auch wenig individuelle Lösungen gefunden werden. „Das schaffen wir“, so der Regionaldirektor Joel Michaux.
In Hesperingen seien bei rund 1.000 Schulkindern bisher zwei besonders verletzliche Kinder bekannt. „Eines bleibt wohl tatsächlich zu Hause“, sagt Schulschöffin Diane Adehm (CSV). Für das andere habe die Gemeinde Plexiglas bestellt, um den Präsenzunterricht zu ermöglichen und es dennoch zu schützen.
Graben bei der Chancengleichheit
Jene Fälle, für die aus medizinischen Gründen eine „individuelle Lösung“ gefunden werden muss, scheinen überschaubar zu sein. Die Organisation in den Gemeinden scheint zu klappen. Schwieriger wird es sicher, dem durch den Lockdown verschärften Unterschied im Bildungsniveau entgegenzuwirken. Jene, die den Anschluss verpasst haben, brauchen spezifische Hilfe, um Lehrstoff nachzuholen und vor allem sprachliche Hürden zu überwinden.
Mein Kind hat fast sein ganzes Luxemburgisch vergessen, Deutsch kann es gar nicht mehr.“Mutter eines Kindes mit kapverdischem Hintergrund
Die Nachhilfekurse, die das Ministerium für die ersten zwei Septemberwochen organisiert hatte, waren begrenzt und fingen längst nicht alle Kinder auf. „Wir wurden auch hier nicht einbezogen“, sagt Claudine Muller vom Kompetenzzentrum für Logopädie. Sie bewertet die „Sommer School“ als „politischen Aktionismus“.
„Mein Kind hat fast sein ganzes Luxemburgisch vergessen, Deutsch kann es gar nicht mehr“, erzählt etwa eine Mutter, die mit ihrem Kind Portugiesisch spricht. Die Lücken konnten auch die Nachhilfestunden nicht füllen. „Eigentlich sollte er lesen und schreiben können“, sagt sie besorgt. „Er wird zu kämpfen haben“, so die Mutter, deren Sohn jetzt in die zweite Klasse kommt. „Ich werde ihm nicht helfen können.“
Sorgen vor dauerhafter Marginalisierung
Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) hat am 27. August im Kontext der bevorstehenden Schuleröffnungen weltweit ein Webinar mit dem Titel „Inclusion of vulnerable groups in school reopening plans“ angeboten. Dabei wurde etwa untersucht, wie Regierungen mit dem Lernverlust infolge von Schulschließungen umgehen und wie sie eine integrative Wiedereröffnung auch für die am stärksten marginalisierten Schüler sicherstellen wollen.
Die Ergebnisse sind besorgniserregend: Während 90 Prozent der Länderbeauftragten der UNICEF in ihren Berichten auf die besonderen Bedürfnisse gefährdeter Kinder aufmerksam machen, können gerade einmal sieben Prozent von ihnen sagen, dass in ihrem Land das Nötige dafür getan wurde, um die sonderpädagogischen und psychosozialen Dienste anzupassen und eventuell auszubauen. Angaben zu den einzelnen Ländern liegen dabei noch nicht vor. Doch eines legen auch ihre Befunde nahe: Der Graben bei der Chancengleichheit in der Bildung droht, größer zu werden und die Pandemie zu überdauern.